VIREN: Phänomen, Rätsel, Bedrohung
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zwischen "leblos" und "lebendig" angehörend, vermochten Viren die Forschung immer wieder zu überraschen, doch auch herauszufordern und zu inspirieren. Dass Fachmänner ebenso wie Nicht-Fachleute durch die rätselhafte Daseinsform der Viren ganz neue Einsichten in unser Verhältnis zur Natur erlangen, soll das vorliegende Buch zeigen. Ein spannender Einblick in eine fast unsichtbare Welt, leicht verständlich und abwechslungsreich
erzählt.
Viren – ein Schatten der Evolution. Wir kennen sie als Fluch, aber je näher man hinschaut, um so mehr offenbart ihre geheimnisvolle Doppelnatur ganz
andere Seiten.
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Book preview
VIREN - Traian Suttles
wissen
Traian Suttles
Viren
Phänomen, Rätsel, Bedrohung
kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel
Viele andererseits hielten dafür, dass sich in gar keiner Weise irgend nur eine sicht- oder spürbare Wirkung zeigen werde. Derweil nun solche Diskussionen noch weitergingen, kam ihr Gegenstand schrittweis’ immer näher heran; sein scheinbarer Durchmesser wurde größer, und sein dumpfer Schimmer gewann an Glanz. Die Menschheit aber ward bleicher, da er kam. Alle irdischen Geschäfte ruhten.
Edgar Allan Poe: Die Unterredung zwischen Eiros und
Charmion (1839)
Einführung
Das vorliegende Buch entstand während einer Pandemie, von der jetzt schon feststeht, dass sie tiefe Spuren in der Gegenwartskultur hinterlassen hat und in die Geschichte eingehen wird. Nachdem Virologen jahrzehntelang einen Nachfolger des verheerenden Influenza-Erregers von 1918/19 befürchtet hatten, wurden sie Anfang 2020 von einem neuen Coronavirus überrascht – und mit ihnen die gesamte Weltbevölkerung.
Die allgemein verbreiteten Kenntnisse über Viren haben in diesen Krisenmonaten deutlich zugenommen. Pandemie-Podcasts und andere Informationsquellen erreichen hohe Zugriffszahlen; viel verbreiteter als je zuvor ist z. B. das Wissen, dass Viren keine Zellen sind und damit etwas grundsätzlich anderes als Bakterien oder andere zellulär gebaute Krankheitserreger, gegen die man Antibiotika einsetzen kann. Auch die Bedeutung des wissenschaftlichen Namens Corona, also das lateinische «Kranz» oder «Krone», werden viele Leser längst mit den Spike-«Strahlen» assoziieren, die diese behüllten Viren auf ihrer Oberfläche präsentieren – während sie gleichzeitig wissen, dass auch zahlreiche andere Viren so gebaut sind.
Die konkreten Herausforderungen der aktuellen Bedrohungslage drängen andere spannende Aspekte der Virologie eher in den Hintergrund – etwa die Entdeckungsgeschichte. Bei den Versuchen der Wissenschaftler und Politiker, die Krisenlage zu meistern, wird aber durchaus auf historisches Vorwissen zurückgegriffen, das dem interessierten Laien oft nur schwer und kaum komprimiert zugänglich ist.
Diese Lücke möchte das Buch schließen und das eigenartige Naturphänomen «Virus» aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten helfen. Dem geneigten Leser steht es dabei frei, die drei Teile in einer beliebigen Reihenfolge zu lesen. Wer Lust hat, kann gern mit dem zweiten, historischen Teil
beginnen oder sich erst dem multiperspektivisch angelegten dritten Teil zuwenden. Querverweise auf andere Kapitel sind eingefügt, so dass eine Orientierung über den Stoff auch bei dieser Leseweise gegeben ist.
Wie Sie es auch halten, wünschen wir Ihnen eine spannende Lektüre und viele neue Einblicke in die Welt der Viren.
Teil 1: Was sind Viren?
1) Viren – ein Schatten der Evolution
Nach allem, was wir heute wissen, kann man Viren als ein Epiphänomen der biologischen Evolution bezeichnen. Mit dieser stark vereinfachenden Formulierung jedenfalls lassen sich zwei lehrbuchkonforme Sichtweisen zusammenführen, die unsere Auffassung von Viren leiten. Erstens: Viren werden nach gängigen Definitionen nicht als Lebewesen eingestuft; ihre Existenz jedoch ist zwingend an die Existenz von Lebewesen gebunden. Zweitens: Viren durchlaufen seit langer Zeit eine Parallelevolution zu «normalen» Lebensformen, also zu solchen mit zellulärer Organisation. Sie selbst sind nicht zellulär aufgebaut und haben keinen Stoffwechsel, sind jedoch ständige – und dabei enorm erfolgreiche – Begleiter der durch Zellen und Stoffwechsel charakterisierten planetaren Lebewelt.
Das Dasein der Lebewesen und das Dasein der Viren lassen sich kategorial unterscheiden, indem man eine Einteilung in Biosphäre und Virosphäre vornimmt. Der Biosphäre gehören einzellige und vielzellige Organismen an. Die Virosphäre hingegen umfasst nicht-zelluläre Entitäten, die in aller Regel viel kleiner sind als die kleinsten einzelligen Lebensformen. Die Grundbausteine, aus denen die Viren bestehen, sind auch in der Biosphäre von zentraler Bedeutung; es handelt sich um Proteine (umgangssprachlich Eiweiße) und Nukleinsäuren (Erbsubstanz). Doch für die Biosphäre ist deren ständige Zustandsveränderung (von räumlichen Verschiebungen bis zum Auf- und Abbau im Stoffwechselgeschehen) charakteristisch, während die Proteine und Nukleinsäuren der Viren gleichsam statisch daherkommen: Man findet bei ihnen keinerlei Stoffwechselvorgänge. Bedingt durch diesen scharfen Kontrast kann man Viren schwerlich als Lebewesen bezeichnen; eher handelt es sich um Mikropartikel, die darauf warten, mit dem Stoffwechselsystem lebender Zellen in Kontakt zu kommen. Nur wenn dies geschieht, haben Viren eine Chance, sich zu
vermehren: Sie benötigen bestimmte, innerhalb der Zellen ablaufende Stoffwechselreaktionen und deren Beschleuniger (Enzyme), um ihre eigene Vermehrung (Reproduktion) zu realisieren – ganz grundsätzlich etwa die Energie liefernden
Mechanismen, die jedem Stoffwechselgeschehen zugrunde liegen. Gelingt ihnen eine solche Vermehrung auf Kosten des Wirtes, können sie ihre Wirtszelle (beziehungsweise ihren Wirtsorganismus) wieder verlassen und auf den nächsten Durchgang warten: Ihre Existenz wechselt zwischen einer «passiven» (stoffwechselphysiologisch statischen) und einer «aktiven» Phase hin und her, wobei die aktive, wie geschildert, mit dem Kontakt zu einer geeigneten, angreifbaren Zelle eingeleitet wird. Sie sind als obligate Zellparasiten zu definieren, also ausnahmslos auf das Milieu einer Wirtszelle angewiesen, um eigene Nachfolgegenerationen hervorzubringen.
Doch wenn von «passiven» oder «wartenden» Viren und solchen, die beim Kontakt mit einer Wirtszelle «aktiv» werden und «angreifen», die Rede ist, bemerkt man schon die Schwierigkeiten, die sich bei der sprachlichen Beschreibung einstellen. In Texten, die das eigentümliche Dasein der Viren darlegen, ist es generell schwer zu vermeiden, sie als lebend oder quasi-lebendig darzustellen. Vor allem muss man Viren attestieren, dass sie gemessen an ihrer simplen Organisation eine ungeheuer effiziente Überlebensstrategie entwickelt haben – rein quantitativ übertreffen ihre Vertreter die der eigentlichen Biowelt bei weitem. Wenn man aber so den Überlebenserfolg der Viren beschreibt, bringt man sie auf sprachlicher Ebene in die Nähe normaler Lebensformen oder setzt sie letztlich mit solchen gleich. Sogar in Beschreibungen von Fachleuten wird man immer wieder Passagen finden, in denen Viren mehr oder minder direkt als Lebewesen, ja sogar als Organismen bezeichnet werden: Der temporäre Verzicht auf die strenge Trennung von Biosphäre und Virosphäre ist der Tatsache geschuldet, dass Viren sowohl ihrer Herkunft als auch ihrem Verhalten nach äußerst eng mit der Biosphäre assoziiert sind. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass mit dem Wort
«Verhalten» ebenfalls ein unscharfer Begriff vorliegt, da das «Verhalten» von Viren irgendwo zwischen einem leblos-physikalischen Körper und einem Lebewesen angesiedelt ist. Zwar kann man begründet darauf bestehen, Viren als leblose Partikel anzusehen, aber die Leistungen, die sie im Sinne ihrer
Weiterexistenz und Verbreitung vollbringen, gehen über die Möglichkeiten beliebiger toter Staubpartikel hinaus.
Entscheidend hierfür ist die schon erwähnte, auffällige Übereinstimmung mit dem zentralen Molekülarsenal sämtlicher Biozellen. Dreh- und Angelpunkt sind jene replizierbaren Makromoleküle, die wir als Erbsubstanz kennen: kettenartige Nukleinsäuren, in denen die Erbinformation für spezifische Proteine (Eiweißmoleküle) festgelegt ist. Bekanntlich dient das aktive Genom einer Zelle dazu, alle von ihr benötigten Proteine herzustellen, sei es Bausubstanz (Strukturproteine) oder enzymatische Stoffwechselbeschleuniger – hierzu sind die Erbinformationen tausender Gene notwendig. Viren hingegen transportieren nur einen winzigen Teil Erbsubstanz, und zwar genau den, den sie für ihre Selbstherstellung brauchen. Bestimmte Parvoviren zum Beispiel, die als Repräsentanten sehr kleiner Viren gelten, weisen weniger als fünf Gene auf.
Unter diesem Blickwinkel muten Viren wie kurze Stränge von Erbmaterial an, wie kleine molekulare Aggregate, deren geschichtliche Beziehung zu zellulärem Erbmaterial im Dunkel der Jahrmillionen verborgen liegt. Dass es so eine evolutive Beziehung geben muss, ist das Einzige, was man mit einiger Bestimmtheit sagen kann, denn sowohl Viren als auch Zellen nutzen denselben genetischen Code – Viren könnten den Zellstoffwechsel nicht für ihre Vermehrung nutzen, wäre ihr genetischer Code nicht mit dem des Wirtes identisch. Die (sehr) allgemeine Schlussfolgerung aus diesem Befund lautet, dass Viren und Biozellen einen gemeinsamen evolutiven Vorläufer hatten. An sich ist diese Aussage auch nicht zu kritisieren, aber nach dem heutigen Stand der Forschung müsste man sie als übermäßig simplifizierend einstufen – wir werden im nächsten Kapitel genauer erfahren, warum die Evolutionsgeschichte der Viren wohl komplizierter verlief.
Blendet man die Entstehungsgeschichte zunächst aus, lässt sich schon durch ihre Winzigkeit und ihren einfachen Aufbau erklären, warum Viren evolutiv so ungeheuer erfolgreich sind. Als extreme Reduktionsformen kann man sie als «Energiesparer» bezeichnen: Dank ihrer simplen Struktur sind sie vom Stoffwechsel der von ihnen befallenen Zellen schnell und in großer Zahl herstellbar, und zwar, indem ihre Erbsubstanz (das virale Genom) in der Wirtszelle massenhaft kopiert wird (es können bis zu hunderttausend Viruskopien in einer einzigen Wirtszelle angefertigt werden). Für diese «Kopierarbeit» im Dienste des eingedrungenen Virus kommen Zellen aller möglichen Lebewesen, egal ob Ein- oder Vielzeller, Pflanze oder Tier, infrage (auch wenn jede Virenart sich beim konkreten Befall ihrer Wirte bestimmte «Zielzellen» sucht, siehe nächstes Kapitel). Nach unserem Standardverständnis leben Viren nicht, sie «warten» auch nicht auf Opfer oder greifen diese an – erst recht nicht mit irgendwelchen Absichten. Aber sie erscheinen uns so, da sie weltweit verbreitet und strukturell optimiert sind, jeglichen Kontakt mit den ebenfalls global verbreiteten Lebewesen sofort für ihre Vermehrung zu nutzen.
Ein denkbarer Nachteil ihrer extremen Kleinheit ist zwar, dass sie außerhalb ihrer Wirte recht instabil sind – wir kennen die betreffenden Angaben aus Krisenzeiten wie der Covid-19-Pandemie, etwa, dass sich das SARS-CoV2-Virus auf trockenen Flächen nur wenige Stunden zu halten vermag, bevor es zerfällt. Bei anderen Viren, die sich größenmäßig praktisch alle im erweiterten molekularen Bereich befinden (eine Länge von etwa hundert Atomen galt früher als grobes Richtmaß), ist es sehr ähnlich – sie sind empfindlich gegenüber Wärme und bestimmten chemischen Einflüssen. Besagte Fragilität und die daraus resultierenden massenhaften Verluste jedoch gleichen sie durch ihr lawinenartiges Reproduktionspotenzial aus, das überall zur Geltung kommen kann – und statistisch betrachtet zur Geltung kommen muss –, wo sich Lebewesen befinden. Viren sind also rein kategorial von der Biosphäre zu unterscheiden, aber bezüglich ihrer Vermehrungsstrategie tief in diese eingebettet und definitiv nicht von ihr zu trennen. Sie repräsentieren die kleinsten replizierbaren Einheiten, die die natürliche Evolution hervorgebracht hat, aber eben auch mutierbare Entitäten: Mit ihrer mutierbaren Erbsubstanz erhalten sie sich die Fähigkeit, im evolutiven Wettrennen mit ihren Wirten nie den Anschluss zu verlieren. Offenbar hat sich ein asymmetrisches Verhältnis etabliert – die Biosphäre würde leidlich gut ohne die Virosphäre auskommen, die Virosphäre jedoch