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Der große Tag
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Der große Tag

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About this ebook

Alltagsgeschichten für Menschen, die vor dreißig Jahren beinah noch jung waren. Und alle anderen.
LanguageDeutsch
Release dateDec 8, 2020
ISBN9783752698572
Der große Tag
Author

Knut Stang

Poet, historian, artist. Born in Bremen, living in Germany, in Ireland, and, increasingly often, on the threshold between nowhere and nothing.

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    Book preview

    Der große Tag - Knut Stang

    Inhaltsverzeichnis

    Vorbemerkung

    Marks Ort

    Beobachtung einer anderen

    Der Mann im Smoking

    Blocked

    Vier Frauen

    Der große Tag

    Auf der Mauer

    Fremd

    Der Hammer

    Judith, der Stern und die Erinnerung

    Projektmanagement

    Im dunkelblauen Kamelhaarmantel

    Das Bisschen...

    Maike und Konrad

    Vorbemerkung

    Das hier ist der zweite Band der Erzählungen. Nur falls Sie das nicht bemerkt haben. Es hätte auch der erste sein können, wenn Indien vor Göttingen gewesen wäre. War es aber nicht, für mich jedenfalls.

    Oder wenn Göttingen weniger wichtig gewesen wäre. War es aber auch nicht. Für mich. Nur kleiner. Dafür länger. Und ein bisschen vielleicht sogar bis heute.

    Nach Indien bin ich nach oft zurückgekehrt. Nach Göttingen nur noch einmal. Um einen Freund zu begraben. Das eine Mal reicht.

    Marks Ort

    Was muss man denn, Mark, was? schrie Julia. Ihr kranker Mann starrte zum Fenster hinaus, antwortlos, und seine Hände krampften um sein leeres Glas. Julia war wütend, sie war jetzt oft wütend, und sie schrie oft, seit Mark vom Arzt gekommen war und ihr gesagt hatte, dass er bald sterben würde. Aber Mark konnte es nicht mehr ertragen, dass Julia schrie.

    Mark wusste, für Julia war es wichtig, dass sie schrie, darum sagte er nichts. Er merkte nur, jedes Mal wenn sie schrie, stürzte er ein bisschen tiefer in das schwarze Nichts, das ganz innen in ihm war, aus dem nie etwas gekommen war, nie, nicht bis zu jenem Morgen. An diesem Morgen war er aufgewacht und hatte gewusst, dass er Krebs hatte.

    Er hatte es gewusst, bevor er zum Arzt ging und die letzte Gewissheit erhielt, was die Symptome der letzten Wochen bedeuteten. Das plötzliche Husten, der schlechte Geschmack im Mund nach dem Aufwachen, die unregelmäßige Verdauung. Da hatte er gewusst, dass die sorgfältig zusammengenagelten Bretter, die über jenem schwarzen Loch lagen, morsch geworden waren. Vielleicht würde etwas nach oben kriechen, ganz sicher würde er nach unten stürzen, in jedem Fall hielten die Bretter nicht mehr stand.

    Wenn ich ganz in jenem Loch bin, werde ich sterben, dachte Mark jetzt. Es war kein neuer Gedanke, er hatte diese Gewissheit schon vor drei Monaten gewonnen, da wusste er gerade mal zwei Wochen, was geschehen würde.

    Julia wütete weiter, als sei sie noch in seiner Geschichte. Sie war vielleicht auch noch in seiner Geschichte, aber nur gerade noch so weit, wie er noch hinausragte aus jenem Schwarz. Das war nicht mehr sehr weit, und selbst dieses Wenige schwand mit jedem Mal, dass sie schrie.

    Mark wünschte sich nicht, zu sterben. Er fürchtete den Tod, jetzt, da er aufgehört hatte, das Sterben zu fürchten. Es gab noch so viel zu sagen, so viel zu tun. Er wollte Dinge tun, die zu tun er niemals auch nur erwogen hätte, wenn nicht so plötzlich alles anders, so überschaubar kurz geworden wäre.

    Siehst du das, siehst du das? schrie Julia gerade. Sie nahm die kleine Kupferplastik, die auf seinem Schreibtisch stand, und sie warf sie an die Wand, dass sie verbeulte und die feinen Drähte rissen. Mark hatte dieses undefinierbare Etwas immer gemocht, es war eine der ersten Plastiken gewesen, die Julia für ihn gemacht hatte. Damals, als der Mond noch Licht für ihn hatte.

    Dann kniete Julia vor den Resten und weinte verzweifelt. Ihre Hände, die sonst so sanft und so geschickt waren, versuchten ungelenk, die Beulen auszudrücken, Drähte wieder über polierte Dornen zu schlingen. Was soll das noch, dachte Mark. Drückt man Pestbeulen aus, vertreibt das vielleicht den Tod aus ihnen? Sie ist eben jetzt zerstört, weg, und was von ihr bleibt, ist alles, was von ihr jemals noch sein wird.

    Er dachte nur flüchtig, dass es mit ihm ähnlich war, auch mit Julia, und dass dieser Gedanke einen widerwärtigen Geschmack von Plattitüde hatte.

    Lass doch, sagte er schließlich. Komm zu mir, lass uns schlafen.

    Und als sie hilflos aufstand, sagte er doch noch: Bring sie mit.

    Da lagen sie dann, und als Julia aufgehört hatte, zu weinen und sich zu entschuldigen, schlief sie ein. Mark lag wach. Durch die gelegentlichen Schmerzen hindurch spürte er kalt und gratig die zerstörte Plastik an seinem Bauch. Sie war wie das Kind, das sie nie gehabt hatten. Sie hatten nie ein Kind gehabt, weil sie beide nie eines wollten, aber vor allem weil er Angst vor Julias Wutausbrüchen hatte. Das hatte er immer für sich behalten, und wenn Julia das manchmal mutmaßte, hatte er es bestritten. Selbst Frank hatte er nie davon erzählt, und sie hatten einander sonst immer alles erzählt. Aber das war seine Sache gewesen, ganz allein, das hatte er mit sich ausgemacht. Jetzt war er froh, dass er so entschieden hatte. Vielleicht hätte er keinen Krebs gekriegt mit einem Kind. Aber das war eine Frage, die sich jetzt nicht mehr beantworten ließ. Und wenn da doch ein Kind gewesen wäre, er konnte ja kaum den Schmerz in Julias Augen ertragen, das war noch schlimmer als ihre Wut, wie sollte er da einem Kind begegnen, wenn es ihn verlor?

    Was du wirklich nicht ertragen kannst, ist etwas anderes, dachte er jetzt. Du verlierst sie, du kannst sie nicht an dir halten, obwohl ihr beide das doch so verzweifelt wollt, vielleicht gerade deshalb nicht. Du verlierst sie, noch bevor du dich in diesem schwarzen Loch verlierst. Das geht einem alles zwischen den Händen durch, das ist wie Spinnweben bloß noch. Und dann mit einem Kind? Dass dein Sterben dich zu einem Fremden machte für das Kind, lange bevor du tot bist, das könntest du vielleicht noch ertragen. Aber dass dein Kind, dein eigen Fleisch und Blut, und das ist kein dämlicher Ausdruck, dass dieses Kind dir fremd wird, lange bevor du tot bist, das könntest du nie und nimmer ertragen.

    Aber nicht erst, wo du hingehst, dort wo du bist, in jenem Schwarz und Leer und Tief, schon dorthin kann dir keiner folgen, und da ist es egal, ob Julia fortrennt davon, vor dir, vor sich, vor dem, was du dann bist. Es ist dein Dunkel, davor sich alles verliert, und alles andere Verlieren ist nur zeithaft dagegen. Denn Frodo ist irgendwann allein mit dem Ring, in seiner Welt des Leidens, in seiner Welt der Einsamkeit, und das Feuerrad dreht sich vor seinen Augen, wenn es längst die ganze übrige Welt verschlungen, nein, aus der Wirklichkeit vertrieben hat.

    Vielleicht ist der Tod kein Ort, nur ein Nichtort. Aber diese Dunkelheit, in der ich bin, die ist ein Ort, und sie ist Frodos Rad, nur dass sie nicht in lodernden Flammens steht, bloß tropft von asphaltenem Schlamm.

    Vielleicht ist es mein Ort. Vielleicht ist das mein Ort, und es ist nur mein Ort. Nicht, weil keiner mir dorthin folgen kann. Sondern weil ich immer schon in ihm war, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ein schreckliches, ein eigentlich unbewohnbares Haus. Aber mein Haus. Ich hab es immer schon ganz ausgefüllt, und nur weil die Krankheit mich immer kleiner macht, gehe ich immer tiefer hinein in dieses Schwarz.

    Julia machte plötzlich ein Geräusch im Schlaf, und er sah im Zwielicht des Mondes, dass sie lächelte, ganz kurz. Das freute ihn. Früher hatte es ihn geärgert, wenn Julia im Schlaf lächelte. Jetzt nicht mehr. Er hatte früher gedacht, sie erlebte ohne ihn etwas Schönes, und er erlebte alles gerne mit ihr, weil es so schön war, wenn sie sich freute. Da war es dann, als hätte sie ihm etwas weg genommen, das er nie gehabt, worauf er keinen Anspruch hatte, das er aber dennoch mehr alles andere haben wollte, einfach nur, weil er es nicht hatte.

    Mark wusste, dass viele Leute ihn zu abgeklärt, zu gelassen fanden, oder vielleicht zu lethargisch, zu phlegmatisch. Das hatte auch Julia heute wieder wütend gemacht: dass er nicht aufbegehrte; dass er nicht wütete; dass er nicht Gott verfluchte und haderte mit seinem Schicksal, mit den Ärzten oder doch wenigstens mit seinem eigenen Körper. Aber wenn Mark allein war und sich selbst betrachtete, wusste er, das war keine Ruhe, das war keine Abgeklärtheit: das war die Arroganz desjenigen, der recht behalten hatte. Es war nicht so, dass Mark jemals ernsthaft daran gedacht hatte, irgendwann einmal Krebs zu bekommen. Aber ohne sagen zu können, wann oder wie, war er immer sicher gewesen: irgendwann würde das Dunkel, das in ihm war, ihn verschlingen. Oder nein, irgendwann würde er einfach nur in dieses Dunkel zurücktreten, wie das Wettermännchen zurück tritt ins Wetterhäuschen, am Ende der Regenwolkenzeit. Dann tritt das Wetterfräulein heraus und balanciert seinen Sonnenschirm.

    Er sah Julia an, die in seinem Arm lag. Meine kleine Wetterfrau, dachte er und streichelte vorsichtig ihre Stirn. Sie murmelte etwas, und dann nahm sie seinen rechten Arm und drückte ihn ganz fest an sich und ließ ihn nicht mehr los, bis auch Mark eingeschlafen war.

    Am nächsten Morgen fühlte er sich erschöpft und zerschlagen. Schlaf brachte ihm nur wenig Erholung, die Schmerzmittel verhinderten das. Gegen Morgen verloren sie rapide an Wirkung, dann schlief er vielleicht ein bisschen richtig, wie früher. Bis die Schmerzen ihn weckten und er wusste, dass es wieder Zeit war.

    Früher fand er Spritzen widerlich, jede Blutabnahme war ein Albtraum gewesen. Inzwischen waren die Spritzen zwar immer noch widerlich, trotzdem war das jetzt etwas anderes. Sie gehörten zu ihm, das Widerliche gehörte zu ihm.

    Vielleicht würde er Julia eines Tages widerlich werden. Vielleicht begann er schlecht zu riechen, paranoid zu werden, vielleicht würde er gewalttätig sein, bevor er dann endgültig in jenem Dunkel verschwand. Das hoffte er, darauf wartete er: das würde es Julia leichter machen. Darin sah er seine letzte Aufgabe: Es ihr leichter zu machen. Nicht sich; dafür hatten Ärzte und Pharmazeuten zu sorgen, und er vertraute ihnen ganz. Aber ihr wollte er es leichter machen, und dass er so offensichtlich daran scheiterte, machte ihn dann doch manchmal wütend und verzweifelt.

    Vielleicht wäre es mit einem Hirntumor leichter gewesen, da gehörten solche Dinge ja fast schon zur Normalität, nach allem, was man hörte. So aber blieben sie lediglich eine mehr oder weniger wahrscheinliche Nebenwirkung seiner Medikamente, und etwas, das er keinesfalls selbst hätte vortäuschen können.

    Frank will, dass ich wütend bin, Julia will es auch, dachte er milde amüsiert. Aber er konnte es nicht. Da war nun einmal keine Wut, die ihm folgen konnte in jenes Dunkel, in dem er nun immer tiefer und unrettbar versank. Da war nur Schweigen, das lag schon weit jenseits aller Schmerzen, aller Wut und allem, auch dem letzten Sehnen.

    Frank hatte ihm dieses Gedicht geschickt, von Dylan Thomas, der sich totgesoffen hatte. Geh nicht höflich fort in dieses Gute Nacht, wüte!, wüte, dass das Licht da umgebracht.

    Ich habe für euch kein Licht mehr, hatte er Frank gesagt, als sie ein paar Tage später telefonierten. Mir ist nur ein Dunkel geblieben, und das bleibt, weil das Licht einfach fortgegangen ist und jetzt anderswo spazieren geht. Tut mir leid, in meiner Geschichte gibt es keine Mörder.

    Du trägst deinen Mörder in dir, hatte Frank geantwortet, und Mark hatte nur den Kopf geschüttelt und traurig gedacht, dass er das Frank nie würde erklären können.

    Ich weiß ja, was du von mir willst, dachte Mark jetzt, und was Julia von mir will, was ihr alle von mir wollt. Aber ich habe keine Wut übrig für euren Schmerz: Ich habe keine Wut mehr für mich.

    Julia war jetzt zur Arbeit. Marc wollte, dass sie arbeiten ging. Auch deswegen hatte sie ihn angeschrien. Er wusste, was sie da quälte: Sie wollte, soviel nur ging, von ihm haben in diesen letzten Monaten; wie jemand, der noch einmal viel trinkt, bevor er dann in die Wüste ziehen muss. Aber wenn er ihr schon nicht seine Nächte geben konnte, wie sollte er ihr da seine Tage geben? Diese endlosen Tage, die auch ihm nicht gehörten, und noch nicht einmal den Ärzten, auch wenn die so taten, als wären es ihre. Sondern die den Dunkelheiten gehörten. Die schon gar keine Tage mehr waren und auch nicht Nacht, nur einfach eine Nichtzeit, schon totes Land, schon ein Feld mit nichts als Steinen: die Sahelzone seines Todes. Eine Nichtzeit eben in einem Nichtort, wo ich dann ganz Nichtjemand bin, dachte er: das ist der Tod.

    Jetzt wurde es Zeit, dass seine Mutter anrief. Sie rief immer an, jeden Morgen, immer, wenn sie meinte, jetzt sei Julia gerade so lange im Geschäft, dass ihn die Einsamkeit ankommen müsse. Tatsächlich war er nie einsam um diese Zeit, und außerdem hasste er es, wenn sie seinen Beteuerungen zum Trotz wieder durchblicken ließ, es sei ja wohl Julias Entscheidung gewesen, weiter arbeiten zu gehen, und ihr sei das einfach nur fremd und zuwider.

    Seine Mutter ließ noch etwas auf sich warten, und Mark dachte darüber nach, ob er einsam war. Nein, dachte er, und wenn, könnte Mama mich da nicht rausholen. Wie denn, Mama, wie? Als ich noch klein war, hattest du doch alle Chancen der Welt, mich aus meinem Loch zu holen. Du hast es damals nicht getan, was macht dich denken, du vermöchtest es jetzt?

    Das ist nicht einsam, dachte er. Einsam kann man nur sein, wo andere sein könnten und nicht sind. Aber wo ich bin, dort in jenem Dunkel, dort ist es gleichgültig, ob noch ein anderer dort ist, auch nur dort sein kann: denn ich selbst werde nicht dort sein, wenn ich erst ganz dort bin. Und auf dem Weg dahin, nichts bleibt einsam auf diesem Weg: Weil nichts bleibt.

    Jetzt klingelte das Telefon.

    Hallo, Mama.

    Geht es dir gut, Junge?

    Sie könnte wenigstens Hallo sagen, dachte Mark verärgert.

    Nein, Mama, es geht mir nicht gut. Ich habe so ein bisschen Krebs, schon vergessen?

    Red nicht in diesem Ton mit mir, Mark. Krankheit ist keine Entschuldigung für Unhöflichkeit.

    Doch, ist es doch, dachte Mark überrascht, und dann fiel ihm auf, dass er es gut fand, wenn seine Mutter so mit ihm redete. Wenn Julia ihn anschrie, erreichte ihn das nicht; aber wenn seine Mutter das tat, war es etwas anderes.

    Vielleicht ist es aber auch nur besser, als wenn sie heult oder meinen Zustand abfragt wie das Bulletin eines sterbenden Papstes. Ich bin noch nicht tot, Mama, ich weiß nur bald nicht mehr, woran man das erkennt. Das sagte er natürlich nicht, sondern hörte zu, wie sie von Tante Lotte erzählte, die hatte den Speicher aufgeräumt, und Vicky, seine durchgedrehte Schwester, hatte ihren neuen Typen zu Hause vorbeigeschleppt.

    Den kannte ich schon, sagte Mark nur.

    Das war schon immer so gewesen. Wenn Vicky einen neuen hatte, was ziemlich oft geschah, brachte sie ihn erstmal zu Mark. Ihr neuer Freund hieß Frank, wie Marks bester Freund, aber da endeten die Gemeinsamkeiten auch schon. Mark hatte ihn vom ersten Moment an nicht leiden können. Das war selten der Fall bei ihm, dass er Menschen nach dem ersten Eindruck beurteilte, aber Frank - dieser Frank - hatte auch nichts getan, den ersten Eindruck zu verwischen. Als er Mark informierte, er sei stellvertretender Leiter des Sozialamts in Herne, hatte Mark geantwortet, er habe Krebs und sei zeitweilig stuhlinkontinent.

    Eigentlich war er das nur ein paar Tage gewesen und auch nur wegen der Medikamente, die sie ihm gegeben hatten, und wegen der Bestrahlung, und überhaupt hatte er es fast immer bis zum Klo geschafft. Aber das betretene Gesicht des stellvertretenden Sozialamtsleiters von Herne und Vickys Mischung aus Ärger und unterdrücktem Lachen waren diese kleine Ungenauigkeit mehr als wert gewesen. Danach war das Gespräch irgendwie auf Zehenspitzen verlaufen, trotz Julias Versuchen, die Situation doch noch zu retten.

    Vicky hatte als erste akzeptiert, dass Mark sterben würde. Mark war älter als sie, und dass Leute sterben, die älter als man selber sind, ist doch klar, hatte sie irgendwann gemeint. Damit war alles gesagt gewesen, blieb nur die Frage offen, zu welchem sie dann zukünftig ihre neuen Kerle schleppen würde. Wahrscheinlich wird sie den letzten heiraten, den sie mir bringt, dachte Mark, und hoffte nur, er werde lang genug leben, dass es nicht auf den stellvertretenden Sozialamtsleiter von Herne hinauslaufen würde.

    Als seine Mutter irgendwann dann doch aufgelegt hatte, nicht ohne Ermahnung natürlich, regelmäßig seine Medikamente zu nehmen und seine Arzttermine einzuhalten, überlegte Mark, was er mit dem Rest des Tages tun sollte, bis gegen halb fünf Julia zurückkehrte. Als vor ein paar Jahren sein Vater seine letzten Monate verbrachte, saß der müde Mann immer nur am Fenster und sah hinaus. Dass er etwas sah, hatte Mark damals nicht geglaubt und glaubte es immer noch nicht. Er hätte das auch gern gekonnt, aber wie krank er auch war: nach fünf Minuten wurde ihm langweilig. Er hätte etwas lesen können: aber wozu? Früher hatte er gelesen, um als belesen zu gelten, um Dinge zu lernen, um vielleicht auch zu einem besseren Menschen zu werden. Um all dies konnte es ihm jetzt nicht mehr gehen. Verwirrt bemerkte er, dass es ihm noch nie Spaß gemacht hatte, ein Buch zu lesen. Fast schämte er sich vor sich selbst, dann lachte er ein bisschen darüber.

    Er blätterte in der Zeitung, er telefonierte mit Vicky und bot ihr an, Herne großflächig nieder zu brennen. Sie lehnte ab. Als dann am Nachmittag Julia kam, war er fast eingeschlafen. Das waren diese Eierschalenaugenblicke, da er keine Schmerzen hatte, und wenn sie sich wie jetzt einfach zu ihm legte, konnte er sie fast noch erahnen an jenem fremden Horizont. Dann erinnerte er sich fast, wie es gewesen war, wenn man glücklich war.

    Später am Abend: als die Schmerzen kamen. Da legte Mark dann eine DVD ein, Julia mochte diesen Film, und er betrachtete die Männer und die Frauen mit schief gelegtem Kopf und wusste nicht mehr, ob sie nicht Insekten waren, und wenn nicht, warum nicht. Fremd war das alles sowieso, und die Zärtlichkeit von Hollywood nur eine Gottesanbeterin: der Tempel war leer.

    Fahren wir weg? fragte Julia.

    Das willst du nicht fragen, sagte Mark. Du willst fragen: Fahren wir ein letzte Mal weg, zusammen?

    Er sah seiner Grausamkeit nach, ein ledriges Blatt, das träge durch den Raum segelte und sich dann auf Julias Gesicht legte. Er wusste, dass sie jetzt weinte unter diesem Blatt, aber wenn sie sich nicht wehrte, konnte er ihr nichts leichter machen. Außer natürlich dadurch, dass er tatsächlich jetzt und hier den Löffel abgab. Bestenfalls.

    Fahren wir ins Elsass, sagte Julia

    Ich muss ins Krankenhaus, sagte Mark. Julia musste nicht sagen: Wozu?

    Wir müssen ins Elsass, sagte Julia, und Mark nahm interessiert ihre wieder gewonnene Sturheit an. Sie würde verlieren mit diesem Trotz, er war nicht in der Lage, diese Reise zu machen. Aber darauf kam es nicht an, ihr nicht, ihm schon gar nicht. Sondern dass sie in jenem Hell, jenem Blitzen war, wieder war, darin ihre Füße immer gewurzelt hatten, wo hinein auch ihr Herz und Sinn nun einmal und für immer gehörten.

    Ich im Dunkel, du im Licht, dachte Mark. So war es immer. Es wird bald für immer, für uns und für immer so sein.

    Als er spät in der Nacht Radio hörte, bellte draußen ein Hund. Mark in seinem Arbeitszimmer auf dem Ledersofa, die Augen offen, da war nur das Licht von der Anlage und das rote Lämpchen am Fernseher, den er seit Monaten nicht angeschaltet hatte. Er hatte immer allen misstraut, was einen einfach mitnahm. Mit dem Radio war es etwas anderes, das streckte nur eine Kinderhand aus, und dann sagte es: Komm. Was es zu sagen, was es zu geben hatte, konnte er in sich strömen lassen und durch sich hindurch und dann aus sich heraus. Und am Ende war nicht als wieder nur die Stille.

    Aber manchmal muss einer den anderen trösten, dachte Mark. Wenn einer weint: wenn einer nicht weiter weiß: weil einer weiß, es geht ja doch weiter.

    Vielleicht ist Traurigkeit der einzige Trost, dachte Mark. Aber seine Traurigkeit war ungeübt jetzt und hatte keinen Punkt mehr, wo solche wie sie noch siedeln konnten.

    Der Tod ist keine Ausrede, dachte Mark. Er trank etwas Wasser. Einige der Medikamente machten durstig.

    Alles wird weiter gehen. Und ich bin endlich zu Hause.

    Als Kind war immer alles wichtig, und alles ging voran. Und es war nicht mein dunkles Heim, dass mich mit den Jahren lehrte, wie wenig wichtig ist. Vielleicht ist das nur Erwachsenwerden.

    Erwachsenwerden hatte für ihn nie eine Rolle gespielt. Es war einfach geschehen. Erst jetzt, wo er nicht mehr viel erwachsener werden würde, fragte er sich, ob dieses Werden sich eigentlich abgeschlossen hatte, oder ob er nur daran nicht mehr Teil nehmen würde. Sie alle drehten sich und rannten und tanzten und sprangen und atmeten in den Übergängen, bestenfalls. Er nicht mehr.

    Vielleicht ist Erwachsenwerden auch Langsamer Werden, dachte Mark jetzt. Vielleicht drängt alles dahin, dass nichts mehr wichtig ist und dass alles stehen bleibt. Oder drängt nicht dahin: aber wird so. Und das schon ist der Tod.

    Oder es ist ein Verlieren. Von Träumen, von Sehnsucht, von Fragen. Aber was auch immer es ist, sehr erstrebenswert scheint es durchaus nicht zu sein. Warum soll ich dann da weiter mitmachen?

    Ich war sowieso immer anders, dachte Mark. Aber er wusste, dass das nicht richtig war. Ja, er war anders gewesen, so wie jeder anders war. Doch erst diese Krankheit hatte ihn wirklich neu gemacht, hatte ihm geholfen durch das Grau in den Hospitälern, Schritt für Schritt hinein in jenes Dunkel, das allein sein eigen und ihm eigentümlich war.

    Julia kann dahin nicht folgen, dachte Mark plötzlich, weil er sich

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