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Pesca Blanca: Ungeschminkte Berichte aus Kolumbien
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Pesca Blanca: Ungeschminkte Berichte aus Kolumbien
Ebook161 pages2 hours

Pesca Blanca: Ungeschminkte Berichte aus Kolumbien

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About this ebook

Am Rande des Dschungels gilt es zu überleben, die Angelegenheiten werden pragmatisch geregelt. Wo Polizei und Militär nicht präsent sind, herrschen Drogenbanden, Guerilla oder paramilitärische Einheiten. Doch es ist auch eine mystische Region, in der friedliche Kogi-Indianer seit Jahrhunderten im Einklang mit der Natur leben.

Eberhard Wedler berichtet authentisch über Schicksale in armen Stadtvierteln, auf Plantagen, im Küstengebirge und in den Mangroven. Die eindringlichen Geschichten beruhen auf wahren Begebenheiten und bieten spannende Einblicke in weithin unbekannte Lebenswelten.
LanguageDeutsch
Release dateMar 21, 2020
ISBN9783944596228
Pesca Blanca: Ungeschminkte Berichte aus Kolumbien

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    Book preview

    Pesca Blanca - Eberhard Wedler

    Gewalt

    Indio Laju

    Der Regen kommt ab Mittag. Dann wird es schwierig, den Fluss mit dem Geländewagen zu durchqueren. Denn wenn es oben in den Bergen regnet, kommen urplötzlich große Wassermassen aus den Gebirgstälern herunter, die den Fluss minutenschnell zu einem reißenden Ungetüm anschwellen lassen und eine Überquerung unmöglich machen. An diesem Tag kam ich aber noch vorher über den Fluss und an mein Reiseziel, ein Naturreservat. Obwohl es nicht weit entfernt vom nächsten Dorf liegt, befindet es sich in einer relativ unberührten Gegend.

    Einige arme Siedler leben hier im Urwald von der Jagd und illegalen Grabungen nach Artefakten der großen präkolumbianischen Tairona-Kultur. Sonst bieten sich keine nennenswerten Möglichkeiten für ein normales Einkommen. Deshalb gab es auch für die Guerilla oder andere kriminelle Organisationen wenig Anlass, sich in dieser Region niederzulassen. Die Armut der wenigen Einwohner versprach kaum Ertrag aus Raub und Erpressung. Aber auch ohne diese »organisierte Gewalt« gelten in der Region die Gesetze des Urwaldes. Und die können fast ebenso hart sein. Gewalt gehört zum Alltag und ist ein fester, akzeptierter Bestandteil des täglichen Lebens.

    Auch heute, kurz nach meiner Ankunft, wurde ich wieder daran erinnert. Während wir das Gepäck abluden, wurde ganz nebenbei erwähnt, dass unser Nachbar, der Indio Laju, erschossen aufgefunden worden war. Niemand regte sich sichtlich darüber auf, obwohl er doch ein langjähriger Nachbar gewesen war. Sogleich wurde schon wieder über andere Dinge gesprochen. Man befasste sich mit wichtigeren Dingen, wie der Unzuverlässigkeit des neuen Arbeiters, einem Problem mit der neuen Wasserleitung und man diskutierte den günstigsten Zeitpunkt für das Pflanzen der jungen Bäume.

    Nach einiger Zeit kam das Gespräch doch noch einmal auf das Schicksal des Toten zurück. Man analysierte, dass er bei seinem Lebenswandel eigentlich schon lange »reif« gewesen war. Er habe bisher nur Glück gehabt. Keiner sprach auch nur davon, dass dieser Mann eine dominierende Persönlichkeit in der Region gewesen war und das Schicksal einiger Nachbarn durch Drogenhandel, Erpressungen und gewalttätige Aggressionen mitbestimmt hatte. Das war halt früher. Der Tod stürzte ihn aus seiner mit Mühe errungenen Stellung ins Vergessen.

    Im Urwald kämpft man und erringt sich seinen Platz, solange man lebt. Mit dem Tod jedoch verliert man alle Bedeutung und es verbleiben kaum Erinnerungen. Wenn der Jaguar ein Wildschwein aus der Herde reißt, verfällt der Rest nicht in Trauer. Jedes ist nur froh, selbst davongekommen zu sein.

    Der Weg nach oben

    Am Rande eines riesigen Elendsviertels, an einem steilen Berghang gelegen, lebte Paola mit ihren vier Kindern in einer Holzhütte. Sie hatte weder Wasser noch Strom und bestritt ihren Unterhalt mit Gelegenheitsarbeiten für Nachbarn. Da sie alleine lebte und niemand bereit war, ihre Kinder zu hüten, musste sie die Kinder alleine lassen oder alle mitnehmen, wenn sie das Haus verließ. Auch ihre Nachbarin Merli erzog ihr Kind alleine, so wie die meisten Frauen an diesem Ort. Da sie eine Stelle als Putzfrau hatte, musste sie ihr Kind oft alleine zu Hause lassen. Damit es das Haus nicht verlassen und verloren gehen konnte, band sie das Kind während ihrer Abwesenheit mit einem Seil an einen Pfahl. So hatte das Kind einen gewissen Bewegungsspielraum, war aber doch sicher verwahrt.

    Oft genug wurde Paolas Abwesenheit von den Nachbarn genutzt, um in ihrem Haus nach etwas Essbarem zu suchen. Mehr besaß sie aber auch nicht. Die Kinder hatten alle verschiedene Väter. Sie waren das Ergebnis von Paolas Einsamkeit und ihrem Wunsch nach Wärme und Geborgenheit. Ein Umstand, der von den Männern gerne ausgenutzt wurde. Mit dem Beginn der Schwangerschaft waren sie stets sofort aus der drohenden Verantwortung geflohen. Zumal sie meist bereits Frau und Kinder zu Hause hatten.

    Manuel war das älteste von Paolas Kindern. Als er sieben Jahre alt wurde, begann Paola, ihr Einkommen dadurch aufzubessern, dass sie kleines Gebäck zubereitete, das Manuel an den Bushaltestellen verkaufen konnte. So begann er, seine Familie mit zu ernähren. Zu Anfang musste er seine Schüchternheit überwinden, um die Busfahrer zu überzeugen, dass sie ihn bis zur großen Haltestelle der Überlandbusse mitnahmen, wo alle Straßenverkäufer den Reisenden ihre Waren anboten. Mit der Zeit aber bekam er Routine und erkannte bald, dass vor allem Frauen ihm gerne etwas abkauften. An einen Schulbesuch war nicht zu denken, denn er arbeitete jeden Tag der Woche. Wenn er Glück hatte, kam er vor der Dunkelheit nach Hause und konnte noch Fußball mit den Nachbarskindern spielen.

    So vergingen die Jahre. Als Manuel älter wurde, versuchte er sich auch in anderen Beschäftigungen. Doch die Alternativen waren rar, mühsam und schlecht bezahlt. So kehrte er immer wieder zu seinem Geschäft an der Busstation zurück. Zumindest brachte es ihm so viel ein, dass seine Geschwister zur Schule gehen konnten. Auch konnte er Esteban bezahlen, damit er ihre Hütte mit Strom versorgte. Esteban war Spezialist für illegale Anschlüsse ans öffentliche Stromnetz. So besaßen sie nun eine Glühbirne und irgendwann konnten sie sich sogar einen alten Fernsehapparat leisten.

    Eines Tages traf Manuel einen früheren Fußballkameraden, den er kaum wiedererkannte. Ronald trug schicke Kleidung, teure Tennisschuhe und fuhr auf einem neuen Motorrad. »Hast du bei der Lotterie gewonnen?«, fragte Manuel ihn. »Wie ich sehe, geht’s dir gut. Hast du vielleicht das große Los gezogen?«

    »Von wegen Lotterie! In diesem Leben wird einem nichts geschenkt. Wenn du etwas haben willst, musst du es dir selbst holen«, antwortete Ronald.

    »Und wo hast du dir dein Glück geholt?«, fragte Manuel.

    »Ich arbeite für Mario.«

    »Mario, der Drogenboss? Ist das nicht illegal und gefährlich?«

    »Illegal schon, aber gefährlich ist es nicht. Mein Junge, wie ich sehe, bist du sehr naiv! Glaubst du, dass es für uns einen anderen Weg nach oben gibt als den illegalen? Sieh doch deinen Nachbarn Juan an! Er ist jetzt sechsundfünfzig Jahre alt und arbeitet noch immer für einen Hungerlohn bei dem Ausbeuter Franco. Hinzu kommt, dass er dort schlecht behandelt wird. Was er verdient, reicht gerade, um seine Familie zu ernähren. Am Wochenende betrinkt er sich mit billigem Schnaps und reagiert seinen Frust an seiner Frau ab, indem er sie verprügelt. Am Sonntag schläft er seinen Rausch aus und dann geht’s weiter wie immer. Glaubst du etwa, dass ich solch ein Leben führen möchte? Außerdem, was heißt das schon: illegal? Illegal ist es, wenn du dich nicht an die Gesetze hältst, die von den Reichen gemacht wurden.«

    »Das ist deine Interpretation«, meinte Manuel, »aber du lebst gefährlicher!«

    »Und wenn schon! Ich weiß, dass ich Recht habe«, antwortete Ronald wütend. »Und wenn ich früher draufgehe, habe ich wenigstens eine Zeit lang gelebt und nicht nur dahinvegetiert.«

    »Und Alberto, arbeitet er auch für Mario?«

    »Nein, Alberto klaut Handytelefone. Natürlich muss er manchmal die Besitzer mit dem Messer überzeugen.«

    »Also auch kriminell!«

    »Ich sagte es dir schon, es gibt keinen anderen Weg. So hat er immerhin ein besseres Einkommen. Die Handys verkauft er im Gemischtwarenladen von Don Jorge. Der legt eine neue SIM-Card ein und verkauft das Handy billig an die Leute im Viertel. Glaubst du etwa, dass einer von hier sich ein neues Handy leisten kann? Auf diese Weise haben alle etwas davon. Es ist sozusagen eine Umverteilung unter den Armen, eine Art von Sozialismus.«

    »Ich glaube, die Idee vom Sozialismus war etwas anders, aber irgendwie kann ich dich verstehen«, meinte Manuel.

    »Und du?«, fragte Ronald. »Willst du immer unten bleiben oder doch eine der wenigen Gelegenheiten nutzen, die wir haben, um etwas aus dem Dreck aufzusteigen?«

    »Ich werde es mir überlegen«, sagte Manuel und verabschiedete sich.

    Wochen vergingen und noch immer ging ihm das Gespräch durch den Kopf. Aber es war nicht einfach, eine Entscheidung zu treffen. Die Argumente leuchteten Manuel ein, aber trotz Armut und Elend hatte Paola immer versucht, ihre Kinder zu ordentlichen und ehrlichen Menschen zu erziehen. Doch dann trat ein Ereignis ein, das die Situation veränderte.

    Wie jedes Jahr gab es zu Beginn der Regenzeit eine Denguefieber-Epidemie, die vor allem die unterernährten Einwohner der Elendsviertel traf. Diesmal war die Epidemie besonders heftig und auch Paolas Kinder wurden krank. Lisa, die Zweitjüngste, bekam sehr hohes Fieber und Blutungen. Paola ging mit ihr zur Klinik, doch an der Tür wurde sie abgewiesen, da sie kein Geld hatte. So versuchte sie, ihrem Kind mit Hausmitteln zu helfen. Doch die Krankheit schritt unerbittlich weiter fort und Lisa starb.

    Das war ein Schlüsselereignis für Manuel, der seine Schwester sehr geliebt hatte. Gleich am nächsten Tag suchte er Ronald auf und bat ihn, ihn seinem Chef Mario vorzustellen. Dieser unterhielt sich eine Weile mit Manuel und sagte ihm dann, er werde sich melden.

    Schon nach ein paar Tagen kam Ronald wieder bei Manuel vorbei und teilte ihm mit, dass der Chef ihn sprechen wolle. So bekam Manuel seinen ersten Auftrag. Es war eine einfache Sache: Er sollte per Bus ein Päckchen zu einer bestimmten Adresse in der nächsten Stadt bringen. Manuel bekam sogar Fahrgeld und zog los. Dem ersten Auftrag folgte bald ein zweiter und Mario erkannte, dass Manuel ein zuverlässiger Bursche war. So wurden die Aufträge, die er für ihn hatte, nach und nach umfangreicher und komplizierter, was sein Einkommen steigerte. Er konnte seiner Mutter einen Kühlschrank kaufen und bald hatte auch er sich ein Motorrad erspart.

    Manuel gewann das Vertrauen Marios, der ihm nun auch organisatorische Aufgaben erteilte. Entsprechend stieg das Einkommen. So war Manuel in der Lage, ein kleines Haus aus Ziegelstein in einem weniger gefährlichen Teil des Viertels zu kaufen. Für die Familie war es ein echter Wohlstand.

    Eines Tages bat Mario Manuel zu sich. »Junge, ich glaube, du brauchst einen Revolver«, sagte er.

    »Wieso das? Vor so etwas habe ich Angst und ich kann überhaupt nicht damit umgehen«, antwortete Manuel.

    »Man lernt alles im Leben, wenn es sein muss. Und es muss sein. Die Situation hat sich geändert. Wir haben Konkurrenz. Die Uraba-Bande ist in unser Gebiet eingedrungen und will uns aus der Region vertreiben. Wir müssen uns wehren oder wir verschwinden morgen aus dem Geschäft.«

    Mit einem unguten Gefühl ging Manuel nach Hause. Am Tag darauf traf er sich mit Ronald. »Ich glaube, ich werde aussteigen. Es wird mir zu gefährlich.«

    »Lieber Freund«, sagte Ronald lächelnd, »aussteigen ist unmöglich. Das gibt es nicht in diesem Unternehmen. Du weißt zu viel und wenn du aussteigst, bist du eine Gefahr für Mario. Dann werden dich seine Leute erledigen. Es gibt keinen Weg zurück oder zur Seite, sondern nur nach vorn. Halte durch! Der Weg nach oben hat seinen Preis.«

    Am nächsten Tag ging Manuel zu Mario, der ihm eine Pistole und Munition überreichte. Einer seiner Leute ging mit Manuel in den Wald, um ihn im Gebrauch der Waffe einzuweisen. Nach einer Weile gefielen Manuel die Schießübungen sogar und er gewöhnte sich an die Waffe. Sie erweckte ein faszinierendes Gefühl in ihm. Sobald er sie in der Hand hielt, fühlte er, wie er aus seiner Bedeutungslosigkeit heraus aufstieg und sich zu einer bedeutenden Persönlichkeit entwickelte. Die Waffe gab ihm Macht und Größe.

    Nach ein paar Tagen

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