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Outsider: Eine Geschichte des Torhüters
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Outsider: Eine Geschichte des Torhüters
Ebook569 pages7 hours

Outsider: Eine Geschichte des Torhüters

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Was haben Albert Camus, Vladimir Nabokov und Papst Johannes Paul II. gemeinsam? Sie alle standen in ihrer Jugend im Tor. Nach 'Revolutionen auf dem Rasen', seiner erfolgreichen Geschichte der Fußballtaktik, beschäftigt sich Jonathan Wilson jetzt mit der ganz besonderen Spezies der Torhüter: von den Anfängen, als es noch gar keinen festen Torhüter gab, bis zum mitspielenden Torwart von heute, wie er von Manuel Neuer verkörpert wird. Dabei erklärt er nationale Unterschiede, z.B. warum der Torhüter in Russland ein so viel höheres Ansehen genießt als in Brasilien. Und er fragt, was es mit dem Ruf des Torhüters als Einzelgänger und Exzentriker auf sich hat. Selbstverständlich werden auch die besten Torhüter aller Zeiten porträtiert, afrikanische Torhüterlegenden ebenso wie der große sowjetische Torhüter Lew Jaschin. Und auch die deutschen Stars der Zunft, etwa Sepp Maier und Oliver Kahn, kommen nicht zu kurz. Eine fesselnde (Kultur-)Geschichte des Torhüters voller spannender Fakten und unterhaltsamer Anekdoten.
LanguageDeutsch
Release dateMay 5, 2014
ISBN9783730701195
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    Book preview

    Outsider - Jonathan Wilson

    1–2

    Prolog

    Mein größter Augenblick im Sport? Ganz einfach: die letzte Minute in einem Schul-Hockeyspiel gegen Whickham, die einzige Mannschaft im Nordosten, die uns das Wasser reichen konnte. Es stand 0:0, und Whickham hatte eine Strafecke. Das Anspiel kam, zwei Verteidiger stürmten vor, und der Ball wurde vom gegnerischen Mittelfeldmann angenommen. Der hieß Robson und spielte in der englischen Jugendauswahl. Er holte erst zum Schlagschuss aus, entschied sich dann aber doch für einen Schlenzer. Währenddessen ging mir durch den Kopf, dass er außerhalb des Schusskreises war. Ich kann mich noch erinnern, wie der Ball rechts von mir an Höhe gewann und ich dachte, dass ich ihm zumindest hinterherhechten musste, selbst wenn Robson außerhalb des Schusskreises gewesen sein sollte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen.

    Ich überlegte, was das Reglement wohl vorsah, wenn er von außerhalb des Kreises geschossen hatte und der Ball von meinem Stock abprallte. Durch das Helmgitter konnte ich den roten Airtex-Ärmel meines Trikots, meinen dicken weißen Handschuh und das Schwarz und Blau meines Stocks sehen. Als ob ich alle Zeit der Welt hatte, winkelte ich den Stock mit einer Bewegung aus dem Handgelenk an, um den Ball abzufangen. Plötzlich kam die Verbindung von Pfosten und Querlatte in mein Blickfeld. Dann schlug der Ball ungefähr 15 Zentimeter vor dem Torwinkel gegen den Wulst des Stocks. Ich schaute kurz nach unten – auch hier kann ich mich noch genau an meinen Gedankengang erinnern – und war erschrocken, wie weit oben ich mich befand. Mein unmittelbar nächster Gedanke war, wie weh es wohl gleich tat, wenn ich auf dem Boden aufkam.

    Es tat aber nicht weh. Zu den wenigen Vorteilen eines Hockey-Torwarts gehört, dass die komplette Vorderseite des Körpers durch fünf Zentimeter dicken, festen Schaumstoff geschützt ist. Ich konnte sehen, wie der Ball davonwirbelte und sich für den Bruchteil einer Sekunde niemand in dessen Richtung zu bewegen schien. In diesem Augenblick herrschte eine herrliche Stille, eine völlige Geräuschlosigkeit. Solch ein Gefühl hatte ich nie zuvor erlebt, und auch danach nur noch ein einziges Mal. Das war beim Cricket – bei einem Hechtsprung auf short midwicket, mit dem ich ein widerspenstiges ninth wicket partnership abschloss. Damit entschied ich eine Low-Scoring-Partie gegen die BBC zugunsten meines Örtchens aus Oxfordshire. Ich sah den Ball in meinen linken Handteller klatschen und dachte sogar kurz: „Genau wie in dem Spiel gegen Whickham!" Dann schlug ich schmerzhaft auf Schulter und Hüfte auf.

    Zwei Geschehnisse, zwölf Jahre auseinander. Für jemanden, der 30 Jahre lang durchschnittlich einmal pro Woche irgendeine Sportart betrieben hat, mag das nicht nach viel klingen. Aber zumindest habe ich dieses Gefühl schon mal selbst erlebt. Ich bin mir sicher, dass richtige Sportler regelmäßig das Gefühl haben, dass die Zeit langsamer abläuft und sie alles unter Kontrolle haben. Ajax Amsterdams Trainer David Endt meinte einmal dazu: „Die Sekunden der ganz Großen dauern länger als die normaler Menschen." Es gibt Belege dafür, dass das Gefühl von Kontrolle täuscht, dass es eine Erfindung des Gehirns ist, um sich einen Reflex, der eigentlich in den Muskeln seinen Ausgang nimmt, zu erklären. Wo auch immer das Ganze herkommen mag – ein Gefühl von Kontrolle über kleinste und wahnsinnig schnell ablaufende Veränderungen scheint zentraler Bestandteil sportlicher Höchstleistungen zu sein.

    Die Besten der Besten haben dieses Gefühl wohl die meiste Zeit. Beim ersten Mal dachte ich, dass es ein Zustand für die Ewigkeit sei, dass ich durch mein Training nun vielleicht ein Niveau erreicht hatte, auf dem die Zeit und meine Reflexe eine harmonische Einheit bildeten. Ich erläuterte diese Möglichkeit sogar abends im Kleinbus auf dem Weg zu einer Lateinvorlesung in York in einer für meine Zuhörer wohl äußerst ermüdenden Breite. Interessiert hat es keinen. Ich kam mir vor wie die Hobbits, die ins Auenland zurückkehren, wo ein jeder viel zu sehr mit seinem eigenen, alltäglichen Leben beschäftigt ist, um sich für ihre Abenteuer zu interessieren. Aber wer wusste denn schon, welche Höhen ich noch erklimmen konnte? Wenn ich sogar den Schlenzer eines Mittelfeldspielers der englischen Nationalmannschaft aus dem Winkel pflücken konnte, was sollte mich dann noch auf meinem Weg in die englische Auswahl aufhalten?

    Eine Woche später hatten wir unser nächstes Spiel, eine Auswärtsbegegnung bei der Hall Cross School in Doncaster. Ich bekam nicht viel zu tun, bis deren Stürmer unmittelbar vor der Pause in den ziemlich bevölkerten Schusskreis eindrehte und aufs Tor schoss. Mir fehlte die Sicht, aber ich warf mich trotzdem. Ich ging davon aus, dass mein langgestreckter Körper den Ball aufhalten würde. Das hätte er wohl auch getan, aber der Stürmer traf den Ball nicht richtig, so dass er durch den winzigen Zwischenraum zwischen meinen Füßen und dem Pfosten rutschte. Am Ende hatten wir 0:4 verloren, und großzügig geschätzt gingen zwei der drei übrigen Tore auf mein Konto. Im Bus Richtung Heimat wurde ich auf den Vordersitz neben dem Lehrer verbannt. Damit war mein Traum von höheren Weihen ausgeträumt. Es bedeutete auch mein Ende als Torhüter. Danach sollte es nie wieder so laufen wie vorher.

    Ich spielte die Saison noch zu Ende. Nach einem Jahr als Lehrer in einem tibetanischen Kloster und Tellerwaschen in einem Pub in Sunderland begann ich schließlich mein Studium. An der Uni wollte ich nicht mehr den Ball ständig mit einem Tempo auf mich zuflitzen lassen, bei dem ich auch durch die Schutzpolsterung hindurch noch blaue Flecke bekam. Dafür waren die Augenblicke des Ruhms zu selten, zu vergänglich und interessierten auch niemanden wirklich. Außerdem war mir völlig klar, dass ich über kurz oder lang wieder eine so schlechte Partie abgeliefert hätte, dass sie mir für lange Zeit zu schaffen gemacht hätte. Schließlich waren seit dem Spiel bei Hall Cross mittlerweile auch schon 19 Jahre vergangen, und trotzdem nagte sie immer noch an mir.

    Wenn sie dringend jemanden brauchten, stand ich noch ab und zu für die Barnes Beavers im Tor. Mit der Mannschaft spielte ich in der Surrey League. Gegen die Wanderers hatte ich im Battersea Park mal so einen richtig guten, verkaterten Tag. Es war eines der Spiele, in denen einen der Ball immer trifft, egal, was man macht. Zehn Minuten vor dem Abpfiff hatten wir ein torloses Unentschieden dicht vor Augen. Doch dann musste ich mich noch durch ein Eigentor geschlagen geben. Roger, hüftsteif, grauhaarig und Mitte 40, fälschte eine Flanke von der rechten Seite in die kurze Ecke ab, als ich zum Klären herausgekommen war. Seitdem habe ich nie wieder im Tor gestanden: Es ist einfach zu grausam, zu frustrierend.

    Vielleicht ist das ja auch der Grund dafür, dass Torhüter tendenziell eher nachdenkliche Typen sind und zur Introvertiertheit neigen. Vielleicht versuchen sie, eine rationale Erklärung für all die Ungerechtigkeiten zu finden, die Menschen unverdientermaßen erleiden müssen. Zu klären bleibt allerdings, ob die Position des Torhüters besonders attraktiv für Schwarzseher ist oder ob sie erst die Position zu Schwarzsehern macht. Ähnlich verhält es sich auch mit der Tatsache, dass Torhüter häufig Individualisten sind.

    Ihr Individualismus macht Torhüter nicht zwangsläufig zu Intellektuellen, aber zumindest zu Menschen, die selbstständig denken können. Unter dem Strich liefern Torhüter bessere Interviews als andere Spieler. Vielleicht beschäftigt sich die Literatur in den seltenen Fällen, in denen sie sich mit Fußball auseinandersetzt, ja deshalb so überproportional häufig mit Torhütern. Da gibt es beispielsweise Duffy, einen der bekanntesten fiktiven Detektive der 1980er Jahre: ein zynischer, bisexueller Ex-Polizist. Erfunden hat die Figur Julian Barnes unter seinem Pseudonym Dan Kavanagh. Barnes spielte selbst ab und an im Tor. Sein 1985 erschienener Roman Putting the Boot In, in Deutschland erschienen unter dem Titel Grobes Foul, gehört zu den wenigen Romanen, die die Welt des Fußballs realistisch darstellen. Die war damals ein trostloser, gewalttätiger Ort, wo Hooliganismus grassierte und Neonazis an den Stadioneingängen ihre Pamphlete verteilten. Doch für Duffy gibt es zumindest zu Beginn des Romans noch eine andere, größere Bedrohung: AIDS. Der ohnehin schon pingelige Mann sucht stundenlang seine Haut nach braunen Malen ab, die er für Anzeichen einer Infektion hält, und macht sich gleichzeitig Gedanken um die Inkubationszeit.

    Außerdem kickt Duffy in einer Freizeitmannschaft. In der rauen, unverhohlen männlichen Welt des Fußballs ist er ein unsicherer Außenseiter. Und natürlich ist er Torhüter. Das einleitende Kapitel von Putting the Boot In führt in den Fall ein – es geht um einen Spieler des Londoner Drittligisten „Athletic, der sich absichtlich auf einem Parkplatz die Achillessehne gerissen hat – und zeichnet Duffys Gedanken während eines Kicks nach. Er macht sich Sorgen wegen eines „kleinen, fixen Rotblonden auf Außen, der zulangen kann wie ein Innenverteidiger. Außerdem fürchtet Duffy wie andere Keeper auch, „schlecht zu spielen und zu verlieren und seine Mannschaft in Schwierigkeiten zu bringen und getreten zu werden und eine Strafe aufgebrummt zu kriegen und ein Scheißer genannt zu werden". Aber Duffys Ängste gehen noch tiefer:

    Einer der Gründe, warum er den Torwartjob mochte – und einer der Gründe, warum er sich Sorgen machte – war, dass er alles gern ordentlich hatte. Er liebte das ordentliche Rechteck des Strafraumes; er liebte es, wie sein Revier, sein Polizeibezirk, abgegrenzt war. Für alles, was innerhalb dieses Kastens passiert, bist du verantwortlich, Duffy; er fühlte sich wie ein junger Polyp, der auf seine erste Runde geschickt wird. Er mochte es auch, dass alles in seinem Bezirk Ecken hatte: der Strafraum, der Torraum, der Holzrahmen; sogar das Netz bestand aus Quadraten. Er liebte diese rechten Winkel, sie gaben ihm Sicherheit. Der einzige Ort auf seinem Stück Land, der keine Ecken hatte, war der Elfmeterpunkt. Ein großer, fetter, runder Kreideklecks, der aussah, als ob ein blödes Vieh von Riesentaube sich entschlossen hätte, genau in die Mitte von Duffys Polizeibezirk abzupladdern: plitsch."

    Er ist neurotisch, und er hasst Strafstöße. Damit erinnert er – bewusst oder unbewusst – an den berühmtesten ernsthaften Fußballfilm: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter von Regisseur Wim Wenders. Dieser Film wie auch dessen Romanvorlage von Peter Handke haben massiv beeinflusst, wie der Torwart weithin gesehen wird, ob dieses Verständnis nun korrekt sein mag oder nicht.

    In meinem Buch geht es um Torhüter und über das Spiel des Torhüters, aber auch um die Darstellung des Torwarts in der Kultur: von den unglücklichen Figuren in den britischen Filmen Kes und Gregory’s Girl bis hin zum Helden im sowjetischen Singspiel Wratar. Auch wenn es teilweise um technische und taktische Aspekte der Position geht, soll dies kein Trainingshandbuch sein. Vielmehr soll gezeigt werden, wie sich der Torhüter im Laufe der Zeit geändert hat, auch was sein Ansehen in verschiedenen Ländern betrifft. Es geht um das Verhältnis zwischen einem Individuum und der Mannschaft, und es geht darum, wie der Sport die politische Kultur seiner Zeit reflektiert und auf sie reagiert. Das Buch ist auch keine Enzyklopädie der Torhüter, und manch ein hervorragender Torwart taucht gar nicht erst auf oder wird nur nebenbei erwähnt. Hier geht es um diejenigen, die den größten Einfluss auf unsere Vorstellungen von der Lebens- und Gefühlswelt des Torhüters hatten oder aber sie am stärksten in Frage stellten.

    KAPITEL 1

    Der Zerstörer der Ernte

    Heute kommt es uns so vor, als hätte es den Torwart schon immer gegeben. Für uns ist es das Normalste der Welt, dass eine Mannschaft aus zehn Feldspielern plus einem Torhüter besteht, dass hinter den in ihrem 4-4-2 oder 4-2-3-1 oder im 4-3-3 umherwuselnden Feldspielern noch jemand steht, der in dieser Zahlenreihe nicht genannt wird. Den man als so selbstverständlich betrachtet, dass niemand auch nur daran denkt, ihn in der Diskussion über taktische Formationen zu erwähnen. Trotzdem ist der Torhüter ein verhältnismäßig neues Phänomen. So etwas wie einen Torwart im heutigen Sinne gab es nämlich noch gar nicht, als 1863 mit der Gründung des englischen Fußballverbandes, der Football Association (FA), die Entwicklung des modernen Fußballs ihren Anfang nahm.

    In der Frühform des Fußballs in Großbritannien ging es einzig und allein darum, zu dribbeln und Tore zu erzielen. Deren Verhinderung spielte höchstens am Rande eine Rolle. Als man sich Mitte des 19. Jahrhunderts daran machte, einen einheitlichen Regelkatalog zu erstellen, mit dessen Hilfe man Sportler unterschiedlicher Eliteinternate mit ihren jeweils eigenen Varianten des „Fußball" genannten Spiels zusammenbringen konnte, war von einem Torwart nirgends die Rede.

    Das erste Spiel nach den Regeln der FA bestritten Barnes und Richmond. Es endete mit einem torlosen Unentschieden, obwohl beide Mannschaften mit zwei Hintermännern und neun Angreifern aufs Feld gegangen waren, der damals üblichen taktischen Formation. Nach den frühen Regeln durfte jeder Spieler den Ball mittels eines „Fair Catch, eines „regelkonformen Fangens, in die Hand nehmen. Es gab dann Freistoß für den fangenden Spieler, sofern er unmittelbar nach dem Auffangen stehengeblieben war und mit dem Schuh einen sichtbaren Abdruck auf dem Platz hinterlassen hatte. Mit dem Ball in beiden Händen weiterzulaufen oder per Wurf ein Tor zu erzielen, war dagegen unzulässig.

    Damit folgte die FA letztlich nur jahrhundertealten Traditionen. Die von der Shrewsbury School 1858 schriftlich fixierten Regeln und die Sheffielder Regeln von 1857 erlaubten jeweils „fair catches, erwähnten aber keine Torhüter. Auch die Regeln von Harrow aus dem Jahr 1887 spiegeln wider, wie an dieser Schule seit vielen Jahren Fußball gespielt wurde. „Spiel mit der Hand war zulässig, jedoch nur, um den Ball sauber zu fangen. Unmittelbar danach hatte der Spieler „yards" zu rufen. Damit bekam er das Recht, sich drei Yards, also knappe drei Meter, in eine beliebige Richtung zu bewegen, ohne dabei attackiert zu werden.

    Keines der vielen Spiele, die als Vorläufer des Fußballs betrachtet werden, kannte einen Spieler, der allein ganz hinten blieb. Bei den meisten war es offenbar allen Spielern erlaubt, den Ball mit der Hand zu spielen oder zu fangen. Ihn dann aber weiterzutragen, war dagegen nur bei einigen wenigen zulässig. Bei sämtlichen Varianten lag der Schwerpunkt eindeutig auf dem Angriff und nicht auf der Verteidigung, auch wenn es Varianten gab, bei denen nur ganz selten überhaupt Tore fielen.

    Trotzdem: So klein ihre Zahl und so gering ihre Bedeutung auch gewesen sein mag, es gab Abwehrspieler. Aus diesen muss der Torwart hervorgegangen sein. Beim phaininda und harpastum beispielsweise, also den antiken Spielen der Griechen und Römer mit einem kleinen Ball, die wesentlich mehr mit der aus Cornwall bekannten Variante des Hurling statt mit Fußball zu tun haben, positionierte man langsamere Spieler weiter hinten. Der griechisch-römische Arzt und Philosoph Galen nannte diese Zone den „locus stantium" – den „Platz der Stehenden".

    Unser Wissen über beide Spiele ist jedoch begrenzt. Im späten 16. Jahrhundert allerdings hatte ein anderes Ballspiel in Italien und insbesondere in Florenz an Beliebtheit gewonnen, dessen Ursprünge man aus naheliegenden Gründen im harpastum vermuten kann: der calcio. Aus den Regeln, die der florentinische Adelige Giovanni de’ Bardi festgehalten hat, wissen wir, dass die Mannschaften aus 27 Spielern bestanden. Dem 1612 gedruckten Vocabolario della Crusca zufolge waren diese aufgereiht als „15 innanzi o corridori, 5 sconciatori, 4 datori e dietro", also als 15-5-4-3-Formation, aber ohne Torhüter. Andererseits waren in einem Spiel, bei dem jeder den Ball mit der Hand spielen durfte, in gewissem Sinne natürlich alle Verteidiger Torhüter.

    Calcio im Florenz des 17. Jahrhunderts

    Bevor es überhaupt Torhüter geben konnte, brauchte man natürlich erst einmal Tore. In den Frühformen des Fußballs gab es nur sehr wenig Einhelligkeit darüber, was darunter zu verstehen war. Beim calcio beispielsweise erstreckte sich das Tor an beiden Enden über die komplette Breite des Platzes. Die britische Ausprägung, der direkte Vorläufer des modernen Fußballs, hat hingegen wohl einem kleineren, an beiden Enden jeweils extra abgegrenzten Bereich den Vorzug gegeben.

    So beschrieb etwa Joseph Strutt in seinem 1801 erschienenen Buch Sports and Pastime of the People of England ein entsprechendes Spiel aus Yorkshire: „Spielt man eine Partie Fußball, so besetzt eine gleichmäßige Anzahl von Gegenspielern das Feld und steht zwischen zwei Zielen, welche in einem Abstand von 80 oder 100 Yards voneinander aufgestellt sind. Das Ziel ist für gewöhnlich aus zwei Stäben gemacht, die ungefähr zwei oder drei Fuß voneinander in den Boden gesteckt sind." Bei einem dermaßen kleinen Tor bestand natürlich überhaupt keine Notwendigkeit, extra einen Mann zwischen die Pfosten zu stellen. Ganz ähnlich war es beim Eton Wall Game, das auf einem 110 Meter langen und fünf Meter breiten Feld gespielt wurde. Dort waren die Tore extrem schmal: eine Tür am einen Ende und der markierte Bereich einer Ulme am anderen. Auch hier hätte es keinen Sinn ergeben, in den 18 oder 20 Mann starken Teams einen Torhüter zu bestimmen.

    Im Laufe des 19. Jahrhunderts reifte allmählich die Erkenntnis heran, dass die weit hinten verteidigenden Spieler eine besondere Rolle ausfüllten, selbst wenn sie nicht besonders hoch angesehen waren. Zu Zeiten der Römer mochten es die langsamsten Spieler gewesen sein, die hinten spielten. In der Schule des Viktorianischen Zeitalters waren Abwehrleute hingegen diejenigen, denen man weniger körperliche, sondern vielmehr moralische Defizite nachsagte.

    In seinem Buch Football at Westminster School schrieb H. C. Benham über Partien, bei denen die Tore teils etwa elf Meter breit waren und einfach dem Zwischenraum zwischen zwei Bäumen an beiden Enden des Platzes entsprachen. „Die kleinen Jungen, die Nieten und die Schisshasen, das waren die Torleute, zwölf oder 15 an jedem Ende, und diese verteilten sich über jenen breiten Zwischenraum, schrieb Benham. „Zeigte einer der Kameraden, die im Felde spielten, irgendein Anzeichen von ‚Schiss’ oder ließ es an Tüchtigkeit fehlen, so wurde er augenblicklich in das Tor geschickt, nicht bloß für einen Tag, sondern als dauerhafte Degradierung. Konnte andererseits einer der Torleute ein Tor gut abwehren, so wurde er aufgerufen, unverzüglich draußen zu spielen, und spielte von da an zu jeder Zeit draußen. Es ist natürlich alles andere als logisch, dass einer, sobald er sich als guter Torhüter erweist, von da an nicht mehr als Torhüter spielt. Wichtiger noch ist, dass es eine Stigmatisierung bedeutete, im Tor zu spielen. Diese Stigmatisierung gibt es auch heute noch, zumindest in Großbritannien, wenn auch eher unbewusst.

    Die Schulen besaßen allesamt ihre eigenen Regeln, die stark von der Beschaffenheit ihres Platzes abhingen. Das Konzept mit mehreren Torhütern scheint dabei sehr verbreitet gewesen zu sein. Das Book of Rugby School enthält ein Kapitel, das offenbar aus der Feder von W. H. Arnold stammt, dem Bruder von Schuldirektor Thomas Arnold. Es bildete so gut wie sicher die Quelle für das berühmte Spiel, das Thomas Hughes in seinem Buch Tom Brown’s Schooldays beschrieben hat. Darin legt er detailliert dar, wie eine Mannschaft aus 40 Schülern der Oberstufe gegen 460 andere antrat. Davon spielten 260 im Tor.

    Es war völlig klar, dass Torwart zu sein eine undankbare Aufgabe war. In seinen Recollections of Schooldays at Harrow, seinen Erinnerungen an die Schulzeit in Harrow, schrieb Reverend H. J. Torre: „Es fiel der Gruppe der kleinen Jungen zu, die ‚Grundlinie’ oder das Tor zu hüten, was eine ungewöhnlich kalte Tätigkeit war, und wenn der Ansturm kam, so fanden sie sich für gewöhnlich auf ihren Hinterteilen im Schmutze wieder. Der Schuldirektor Christopher Wordsworth (1836–44) führte die Regel ein, dass niemals mehr als vier Jungen „gleichzeitig ‚die Grundlinie hüten’ [durften], und dieses auch nicht länger als 30 Minuten.

    Womöglich noch gefährlicher war die Position in Charterhouse. Dort fand Fußball nicht auf einem Rasenplatz, sondern auf einem knapp vier Meter breiten und gut 60 Meter langen Klostergang statt. Auch hier oblag die Verteidigung oder das Hüten des Tores den Fags, den Jungen aus der niedrigsten Klassenstufe. „Recht bald geriet der Ball in einen der Strebepfeiler, woraufhin sich ein ungeheures Gedränge erhob, bei welchem ungefähr 50 oder 60 Jungens sich zusammendrängten und ganz energisch ‚roh einstiegen’, traten und rempelten, um den Ball wieder herauszubekommen", schrieben E. P. Eardley-Wilmot und E. C. Streatfield in ihrem Werk Charterhouse Old and New. Und weiter:

    Ein geübter Mitspieler, der spürte, dass der Ball sich vor seinen Füßen befand, wartete geduldig den rechten Augenblick ab, bis er, die gute Gelegenheit erkennend, gewandt den Ball herausarbeitete und mit selbigem sodann in wildem Lauf auf dem Kreuzgang hinunter auf das begehrte Tor zueilte. Daraufhin löste sich das Gedränge sogleich auf, und alle jagten hinterdrein. Nun war es daran, den Schneid und das Urteil der Fags auf die Probe zu stellen.

    Zu dem Zweck, den Ball vor dem Tore nicht in selbiges hineinzulassen, kam nun einer der ganz vorne stehenden Fags hervorgerannt, um den Angriff des dribbelnden Gegners zu parieren, wobei der für gewöhnlich Hals über Kopf vier Meter über die Steine geschickt wurde. Gleichwohl diente auch dieses einem Zweck, verschaffte es seiner Mannschaft nicht nur die Zeit, heranzukommen, sondern ermutigte seine Fags-Kameraden auch, mit einer dichten und unerschütterlichen Front aufzuwarten. Erfuhr der Junge mit dem Ball von seinem eigenen Haus aber Unterstützung, stürzte sich dieses sodann mitten unter die Fags, worauf ein fürchterliches Handgemenge losbrach. Die Fags gaben sich dabei jede Mühe, den Ball nicht durchkommen zu lassen, und ließen Fäuste und Hände niederprasseln, während sie sich, um besseren Halt zum Schieben zu erlangen, an die Kanten der Mauer klammerten. Eines dieser Handgemenge dauerte eine Dreiviertelstunde lang. Schienbeine wurden grün und blau getreten; Jacken und weitere Kleidungssachen fast gänzlich in Fetzen gerissen; und auf solche Fags getrampelt, die auf dem Boden sich befanden."

    Gegen Mitte des Jahrhunderts wurden Aspekte wie die Anzahl der Spieler pro Mannschaft und die Größe der Tore zunehmend einheitlicher. In seiner History of British Football zeigt der Schriftsteller Percy M. Young (1912–2004) anhand anekdotischer Quellen zwar, dass in den 1830er Jahren Elfer-Mannschaften in Harrow bereits üblich waren. Der erste gesicherte Bericht über ein Spiel mit Teams à elf Spielern erschien allerdings erst 1841. Bell’s Lifemagazine hielt damals fest, dass in Eton das sogenannte Field Game – das zwar nicht mit Fußball gleichzusetzen, diesem aber eindeutig sehr ähnlich war – zwischen zwei Elfer-Mannschaften ausgetragen wurde.

    Die Größe der Tore variierte noch stärker als die des Platzes. So gab es 1862 bei einem Spiel elf gegen elf zwischen Eton und Harrow beispielsweise sogenannte Bases, die gut dreieinhalb Meter auseinander standen und sechs Meter hoch waren. An ein Tor, das ein einzelner Mann halbwegs verteidigen konnte, dachte man offensichtlich noch nicht. Die ersten Regeln der FA, niedergelegt 1863, schrieben vor, dass die Tore 7,32 Meter breit sein mussten, also so wie heute auch. Sie stellten zugleich unmissverständlich klar, dass ein Tor dann erzielt war, wenn der Ball „den Zwischenraum zwischen den beiden Torpfosten" überwunden hatte. In Sachen Höhe gab es keine Beschränkung.

    Der Sheffield Football Club leistete dahingehend die Überzeugungsarbeit. Er war tonangebend unter den Vereinigungen aus dem Norden, die außerhalb der Privatinternate ihre eigene Version des Fußballs entwickelt hatten. 1866 wurde die Regel daraufhin geändert. Die maximale Höhe des Tores wurde nun auf 2,44 Meter festgelegt und durch ein Band markiert. Seitdem sind die Maße unverändert geblieben. Sheffield hatte außerdem eine Querlatte gefordert, und bald sah auch die FA deren Vorteile. Ab 1875 waren Querlatten zulässig, und 1882 wurden sie fest vorgeschrieben.

    Fußball in der Public School Eton: Englische Privatschulen besaßen alle ihre eigenen Regeln.

    Dass damals der Wunsch bestand, eine Maximalhöhe einzuführen, ergibt Sinn. Der Fußball in Englands Norden ist wesentlich weniger gut dokumentiert als der in den privaten Eliteinternaten. Es sieht gleichwohl so aus, dass es bereits einige Zeit vor der Festlegung einheitlicher Regeln in den 1860er Jahren zumindest in manchen Varianten des Spiels eine Art Torhüter gab. „Der Torwart, so hieß es in den Regeln von Sheffield aus dem Jahr 1857, „ist der Spieler der verteidigenden Mannschaft, welcher sich augenblicklich gerade am nächsten zu seinem eigenen Tore befindet. Das klingt ganz nach dem fliegenden Torwart, wie er heute beim Bolzen im Park gern zum Einsatz kommt.

    Bei den Eliteinternaten dagegen wird ein Torhüter erstmals in einem Bericht über ein Spiel zwischen der Uppingham School und ihren Alten Herren erwähnt. In der Schulzeitung vom 15. Dezember 1865 heißt es da:

    Nach einer gewissen Zeitspanne erzielten die Alten Herren ein Tor. Diesen Vorteil wollten sie sich offenbar unbedingt erhalten. Das Torwartspiel von Rawnsley [W. F. Rawnsley, 1845–1927, Page bei der Hochzeit des berühmten Schriftstellers Alfred Tennyson; sein jüngerer Bruder Canon H. D. Rawnsley war einer der Gründer des National Trust zum Schutz von Bau- und Naturdenkmälern, Anm. d. Verf.] auf Seiten unseres Gegners war von vorzüglicher Art und Weise; anders als jenes der Schule, welches nicht sehr eindeutig und unvollkommen in seiner Strategie war. […] Man hielt den Ball in nahem Abstand zum Tor der Alten Herren, und doch, Gott sei’s geklagt, zeigte dieser eine rechte Abneigung zu dem Raum zwischen den beiden Pfosten.

    Währenddessen wurde die Zeit immer knapper, und die Alten Herren waren weiterhin um jenes beneidenswerte Tor voraus. ‚Zwei Minuten noch’, rief der Umpire. Nun ein letztes Bemühen. Die tapfer von [C.] Childs angeführte Schule kämpfte nun verbissen. Rawnsley blieb kühl und achtsam im Tor. Kein Ball passierte seine allgegenwärtigen Hände und Füße. Ließ sich denn überhaupt nichts mehr ausrichten? War nun aller Schneid fort, um noch einen verdienten Sieg zu erlangen? Jawohl. Doch nach einem unvermittelten Lauf, einem verzweifelten Ansturm, die Füße wohl nebeneinander, an einem Gegner nach dem anderen Gegner vorbei, demonstrierte Childs die weithin bekannte Redensart, „den rechten Fuß an der rechten Stelle zu haben. Er täuschte Rawnsleys Auge, hemmte seine Schnelligkeit und erzielte das Tor.

    Bemerkenswert ist hier der veränderte Ton. Der Torhüter ist nun ein Held und alles andere als der „Schisshase", der er 20 Jahre zuvor noch war. Dies ist ein Hinweis darauf, dass man zunehmend anerkannte, wie wichtig er war. Terence Delaney mutmaßte in seinem 1963 erschienenen Buch A Century of Soccer, dass man ab 1865 einen der Abwehrspieler zum „Torwart bestimmte und dass sich die zehn Feldspieler in einen „goal-cover („Tor-Decker"), einen Abwehrspieler und acht Angreifer unterteilten.

    Doch erst 1871 erwähnten die Regeln dann ausdrücklich den „Torwart als denjenigen Spieler, „dem die Freiheit gegeben sei, zum Schutze seines Tores die Hände zu benutzen. Im Endeffekt war er damit ein Abwehrspieler, dessen Position sich im Laufe der Zeit immer weiter nach hinten verschoben hatte und dem – in seiner eigenen Spielhälfte – das besondere Recht verblieben war, den Ball mit der Hand zu spielen, nachdem es allen übrigen Spielern aberkannt worden war.

    Ursprünglich war dem Torhüter überall auf dem Feld Handspiel erlaubt. Dieses Vorrecht wurde erst 1887 eingeschränkt. Im FA Memorandum for the Guidance of Umpires and Referees, der „Richtlinie der FA zur Anleitung der Umpires und Schiedsrichter, hieß es dazu: „Der Ausschuss sieht einen Torwart nicht als in der Verteidigung seines Tores begriffen an, wenn er sich in der gegnerischen Hälfte des Spielfeldes befindet, und demzufolge ist es einem Torwart verboten, seine Hände in der Hälfte des Gegners zu benutzen. Erst ab 1912 durfte der Torwart die Hände nur mehr in seinem eigenen Strafraum einsetzen. Da er seine Linie in der Praxis ohnehin nur selten verlassen hatte und die Spieler damals im Allgemeinen statisch auf ihren Positionen verharrten, war der Unterschied zum Fußball von heute aber vermutlich nicht so augenfällig gewesen, wie es zunächst klingen mag. Letztendlich wurde die Regel auch erst geändert, nachdem die Torhüter angefangen hatten, sich dadurch einen Vorteil zu verschaffen. Aber dazu später mehr.

    In den 1870er Jahren war die Rolle des Torwarts also anerkannt. „Eine Mannschaft bestand in der Regel aus sieben Stürmern und lediglich vier Spielern, um die drei Verteidigungslinien zu schützen. Die letzte Linie bildete naturgemäß der Torwart, und vor ihm befand sich nur ein Verteidiger, der wiederum vor sich nicht mehr als zwei Mittelläufer hatte, um sich den gegnerischen Stürmern entgegenzustellen", schrieb Charles W. Alcock, der erste Sekretär der FA, Erfinder des FA-Pokals und treibende Kraft hinter dem ersten Länderspiel aller Zeiten.

    Und damit war der Torwart geboren, jene seltsame Figur, die zwar Teil der Mannschaft ist, aber doch irgendwie anders. Allerdings auch nicht so viel anders: Bis 1909 trug er noch die gleiche Kleidung wie seine Mannschaftskameraden. Zudem war es für Feldspieler nichts Außergewöhnliches, bei Bedarf das Tor zu übernehmen oder zum Ende ihrer Karriere auf Torhüter umzuschulen. So hatte sich Major Sir Arthur Francis Mandarin beispielsweise einen guten Ruf als Verteidiger bei den Royal Engineers erworben, dem von ihm gegründeten Verein. Gleichzeitig stand er bei den Old Etonians im Tor. Als beide Mannschaften 1875 im Endspiel um den FA-Pokal aufeinandertrafen, entschied er, für keine von beiden aufzulaufen.

    Zwei Jahre später standen die Wanderers aus London vor dem Pokalfinale gegen die Oxford University plötzlich ohne Torhüter da. Vielleicht ein Indiz dafür, dass man die Position noch immer nicht richtig ernst nahm oder zumindest nicht einsah, dass sie von einem Spezialisten besetzt werden sollte. Lord Arthur Fitzgerald Kinnaird, berühmt geworden als rotbärtiger, grimmiger Mann und eine der wichtigsten Persönlichkeiten im Fußball der viktorianischen Zeit, meldete sich freiwillig zur Stelle, auch wenn er eigentlich eher ein Mittelläufer war. Gleich zu Anfang probierte Evelyn Waddington es mit einem Distanzschuss. Kinnaird schien diesen zunächst halten zu können, fing den Ball auch sauber ab, nur um sich dann rückwärts über die Torlinie zu bewegen. Oxford reklamierte auf Tor, und die Umpires gaben den Treffer. Die Wanderers glichen trotzdem noch aus und gewannen die Partie schließlich in der Verlängerung. Kinnaird konnte die Peinlichkeit allerdings nur schwer ertragen. Er schrieb eine Petition an die FA, damit diese sein Eigentor aus ihren Aufzeichnungen strich. Bemerkenswerterweise nahm man die Petition sogar an. Mittlerweile ist das Tor wieder eingetragen, aber mehr als 100 Jahre wurde das Endspiel offiziell mit dem Ergebnis 2:0 aufgeführt.

    Vielleicht ist es nur natürlich, dass der Torhüter als Kuriosität betrachtet wurde, seine Position nur widerwillig Anerkennung fand und ihm häufig Misstrauen begegnete. In seinem Buch Only the Goalkeeper to Beat betont Francis Hodgson, selbst Amateurtorwart, dass der Torwart ein Spielverderber sei. Schließlich ist er der einzige Mann auf dem Platz, der „alles daran setzt, genau das zu verhindern, was alle Anwesenden gerne hätten. […] Im Grunde genommen ist er ein Anti-Fußballer. Indem er sich der Verhinderung von Toren widmet, steht er genau dem entgegen, was Fußball im Kern ausmacht."

    Es gibt aber noch tiefer gehende Gründe für die oben genannten Vorbehalte. Die meisten Kulturanthropologen sind sich einig, dass Fußball, wie die meisten Sportarten, als ein gewissermaßen religiöser Ritus begann. Zusammenfassend schreibt Young dazu in seiner Geschichte des britischen Fußballs, die Ursprünge des Spiels lägen darin, dass man „den dunklen Gottheiten der Fruchtbarkeit durch Ballspielzeremonien gedient habe. „So wurde der Ball in Richtung einer Zielmarke getrieben – dem geheiligten Markstein in Form eines Baumes oder Wasserlaufes. Der Ball, das Sinnbild der Sonne, wurde nach Hause getragen, als Garant des Glückes. In dem jedes Jahr zu Fastnacht und Aschermittwoch in Ashbourne in Derbyshire ausgetragenen Shrovetide-Fußballspiel fänden sich beispielsweise noch, so Young, „die vorzeitlichen Beschwörungen der Gottheiten der Erde, der Luft und des Wassers".

    In einem Beitrag in The Contemporary Review von 1929 wies W. B. Johnson darauf hin, dass in vielen Fruchtbarkeitsriten ein scheibenoder kugelförmiges Objekt verwendet wird, um die Ankunft der Sonne zu symbolisieren und das Wachstum zu beflügeln. In manchen irischen Dörfern, so Johnson, würden am 1. Mai goldene und silberne Kugeln durch die Straßen getragen, die die Sonne und den Mond verkörperten, und in Oklahoma spielten amerikanische Ureinwohner eine Art Fußball, um die Ernte zu feiern. Dazu markierten sie das Spielfeld von Ost nach West, um den Durchgang der Sonne zu beschwören (ärgerlicherweise sagt Johnson aber nicht, welcher der 91 Stämme amerikanischer Ureinwohner in Oklahoma das Ritual zelebrierte). Der traditionelle Volksfußball in England folgt einem vergleichbaren Muster. Das Tor war häufig ein Baum, während bei manchen Spielen, so wie dem im schottischen Scone, der Ball mehrere Male in ein Loch im Boden gelangen musste (ein symbolisches Begräbnis), damit ein „Tor" erzielt wurde.

    Laut dem Glossary of Words used in the Neighbourhood of Whitby von F. K. Robinson, einem Lexikon der rund um die Stadt Whitby benutzten Begrifflichkeiten, glaubte man, dass es zwischen der Leistung eines Bauern beim Shrovetide-Fußballspiel in Whitby und seiner Ausbeute bei der nachfolgenden Ernte einen Zusammenhang gäbe. In der Normandie war man der Überzeugung, dass die siegreiche Mannschaft beim Volksfußball an Fastnacht einen besseren Ertrag an Cidre-Äpfeln erzielen würde als das unterlegene Team. Morris Marples konnte in seiner Geschichte des Fußballs zeigen, dass es etliche Beispiele von Gesellschaftsverbänden gibt, die daran glaubten, dass gute Ernten von einem geschickten Umgang mit dem symbolischen Ball abhingen.

    E. K. Chambers legte in seinem 1903 erschienenen Werk The Medieval Stage eine etwas andere Variante des Ritus dar. Er war der Auffassung, dass der Ball nicht die Sonne darstellt, sondern den Kopf eines Opfertieres. So oder so, die Folgen für den Torhüter bleiben unverändert. Wenn Fußball ein Fruchtbarkeitsritus ist, bei dem man den Göttern dadurch seinen Dienst erweist, dass man den Ball in oder gegen eine geweihte Markierung zwingt, also ein Tor erzielt, kann der Torhüter – der natürlich erst deutlich später dazukam – nur eine Fehlentwicklung sein. Schließlich besteht seine Aufgabe ja darin, den Vollzug des Ritus zu verhindern. Demnach wäre der Torhüter gewissermaßen der Zerstörer der Ernte, der Überbringer des Hungers.

    Das könnte einer der Gründe sein, weshalb die Figur des Torhüters Unbehagen hervorruft. Allerdings sind diese Ursprünge heute nicht mehr präsent, und man versteht sie höchstens unterbewusst, wenn man sie denn überhaupt versteht. Es gibt natürlich noch eine weitaus offensichtlichere Unstimmigkeit in der Rolle des Keepers. Er nämlich hat am wenigsten zu tun, wenn seine Mannschaft ihr Bestes gibt, und wird nur dann zur Bestform auflaufen, wenn die Mannschaft in gewisser Weise versagt. Darin gleicht er der Rettungswacht oder dem Feuerwehrmann, denen man dankbar ist in Zeiten der Not, auch wenn sich jeder fragt, weshalb es überhaupt zu dieser Not gekommen ist.

    Tottenhams ehemaliger Torhüter Ted Ditchburn hat das Paradoxe dieser Situation 1951 in seinem Beitrag zu dem Sammelband My Greatest Game vielleicht am besten eingefangen:

    „Ich komme nun zu den Augenblicken, in denen ein Keeper wahrlich glänzen kann. Diese Abschnitte kommen im Normalfall leider dann, wenn die eigene Mannschaft ein schlechtes Spiel abliefert, so dass man reichlich zu tun bekommt. Kein Keeper kann wirklich warm werden, solange er nicht hart zu arbeiten hat. Eine oder zwei gute Paraden zu machen, ist für die meisten Torhüter normalerweise die Regel. Um aber eine Vorstellung abzuliefern, bei der die Menge tobt und schreit, muss der arme Torwart einem Hagel an Schüssen und einem Sturm von Angriffen ausgesetzt sein. Das ist zugegebenermaßen wirklich traurig. Schließlich kann man nicht glänzen, solange die eigene Seite nicht überrannt wird. Obwohl es schon möglich ist, nach einer bravourösen Vorstellung auf der Seite der Sieger zu stehen, steht man in solchen Fällen meistens doch als Verlierer da."

    Immerhin sprach Ditchburn zu einer Zeit, als der Torwart und seine besondere Rolle bereits allgemein anerkannt waren. Diese Akzeptanz entwickelte sich erst während der 1870er und 1880er Jahre. Dazu beigetragen hatte bezeichnenderweise ein Spieler, der seine Karriere als Feldspieler begann. James McAulay, der als Erster den Titel „Prinz der Torhüter" erhalten sollte, besaß als Mittelstürmer einen so guten Ruf, dass er auf dieser Position auch sein Länderspieldebüt gab. 1881 erzielte er für Dumbarton im schottischen Pokalfinale den Ehrentreffer gegen Queen’s Park. Das Spiel selbst ging 1:2 verloren (und ein Wiederholungsspiel nach Protest noch einmal 1:3). Auch ein Jahr später lief er als Mittelstürmer im Endspiel auf. Wieder unterlag Dumbarton, wieder gegen den gleichen Gegner. Dumbartons Torwart John Kennedy, der in beiden Finals gespielt hatte, verlor danach katastrophal an Form. So kam es, dass McAulay dessen Platz einnahm.

    McAulay stand auch im Tor, als Dumbarton das schottische Pokalendspiel 1883 gegen Vale of Leven gewann. Insgesamt lief er noch achtmal als Torwart für Schottland auf, bis er von Berufs wegen – er war Ingenieur – 1887 nach Burma ziehen musste. „Erst als Torhüter wurde seine ganze Größe offenbar", hieß es in einem Beitrag anlässlich seiner Auswanderung im Glasgow Herald. Als „unerschrocken, besonnen, ja geradezu lässig und „Vollbringer unzähliger Paraden mit Händen wie mit Füßen wird er dort außerdem beschrieben.

    Der Eindruck, den McAulay hinterließ, wird in dem 1887 erschienenen Buch Athletics and Football aus der Feder von Montague Shearman deutlich. Shearman war Gründer des Leichtathletikverbandes Amateur Athletics Association und später Richter. „Die vielleicht bedeutendste Position auf dem gesamten Feld ist jene des Torwarts, schrieb er in radikalem Gegensatz zur bis dahin vorherrschenden Meinung. „Er benötigt einen kühlen Kopf, ein schnelles Auge und eine schnelle Hand, und je weiter er mit seinen Armen reichen kann, desto besser. Obgleich er auch nur den Raum zwischen den Pfosten zu verteidigen hat und all seine Tätigkeit zwischen den Pfosten oder wenige Meter von diesen entfernt stattfindet, muss er doch bereit sein, innerhalb seines begrenzten Bereichs die größtmögliche Aktivität zu zeigen.

    Auch wenn nicht alle in ihrer Einschätzung des Torhüters so weit gingen wie Shearman, spiegelte er doch einen allgemeinen Trend wider. Mitte der 1880er Jahre besaß der Torhüter so viel Anerkennung, dass Unternehmen mit der Herstellung spezieller Torwartausrüstung begannen. Die Firma Geo. G. Bussey aus Peckham, Produzent von „Turngeräten und sämtlichen Bedarfs für britische Sportarten und Spiele drinnen und draußen, bewarb in ihrem Katalog etwa neben „Schienbeinschützern, „Fußball-Ohrschützern, „Knöchelschützern, „Fußball-Spielertaschen und „Fußballgürteln auch Torwarthandschuhe. Erhältlich waren sie entweder in „Büffelleder und schwarzem Gummi für fünf Schilling das Paar oder, wenn man sich nicht lumpen lassen wollte, in „weißem Leder und rotem Leder für fünf Schilling und neun Pence. Der Illustration nach zu urteilen, sahen sie bemerkenswert modern aus – auf jeden Fall moderner als die Dinger aus Baumwolle mit Noppengummi, die man in den 1970er Jahren bekam. Die Rückseite des Handschuhs, wahrscheinlich der lederne Teil, besaß Belüftungsöffnungen und erinnerte an einen Autofahrerhandschuh. Die Vorderseite, der Teil aus Gummi also, war zweifarbig: vier Finger in einer Farbe, Daumen sowie Handfläche in einer anderen. Shearman schrieb weiter:

    „Mitunter grenzt es an ein Wunder, Torhüter wie Arthur von den Blackburn Rovers zu sehen oder McAulay, den schottischen Nationalspieler, wie sie Schuss um Schuss in schneller Folge aufhalten, von Seite zu Seite wechselnd, ohne jemals die Geistesgegenwart oder das körperliche Gleichgewicht zu verlieren. Keine leichte Aufgabe haben die Torwärter von heute, da die Angreifer gelernt haben, vor dem Tor Pässe von einem zum nächsten zu geben; und das Beste, was sich über Torwärter von heute sagen lässt, ist, dass sie sich dieser Aufgabe gänzlich gewachsen gezeigt haben. Ganz ohne Zweifel waren die Spieler auf dieser Position ebenso schneidig und mannhaft in den Zeiten, als Kirkpatrick eine halbe Stunde lang bis zum Ende eines Matches das Tor hütete, während ihm der eine Arm gebrochen von der Schulter herabhing; doch haben die Spieler von heute bessere Taktiken, mit denen sie kämpfen können, und haben ebenso großen Erfolg in ihrer Verteidigung."

    Kirkpatrick war eine der großen Persönlichkeiten in den frühen Fußballjahren. Sir James Kirkpatrick, achter Baronet von Closeburn, Dumfriesshire, war Privatsekretär von Lord George Francis Hamilton, dem Ersten Lord der Admiralität. Zugleich war er Torwart und Kapitän der schottischen Auswahl, die 1870 im Londoner Stadion The Oval auf England traf. Hier und da wird diese Begegnung als erstes Länderspiel gewertet, doch da sich die schottische Mannschaft nur aus in London wohnenden Schotten rekrutierte, wird sie offiziell nicht als vollwertiges Länderspiel anerkannt. Als Stammspieler bei den Wanderers und für sein Land beschrieb ihn das 1875er Football Annual als „einen stets hervorragenden Torwart, dem Surrey auf dieser Position vieles zu verdanken hat. In der Ausgabe von 1879 hieß es, er sei „ein sehr patenter Torwart, gut auf dem Platz und [verlöre] niemals seinen Kopf .

    Obwohl er es in elf Jahren als Spieler auf 58 Einsätze für die Wanderers brachte, war er bei kaum einer Partie im FA-Pokal dabei. Immerhin fungierte er beim ersten Endspiel um den FA-Pokal im Jahr 1872 als Umpire. Außerdem stand er 1877/78, als die Wanderers ins Finale gegen die Royal Engineers einzogen, in sämtlichen Runden mit auf dem Platz. Das Endspiel besiegelte seinen Legendenstatus. Irgendwann in der zweiten Halbzeit hielt Kirkpatrick im Getümmel auf der Torlinie einen Ball und brach sich dabei den Arm. Da ein Wechsel ausgeschlossen war, weigerte er sich, den Platz zu verlassen oder auch nur mit einem anderen Spieler die Positionen zu tauschen und auf die Außenbahn zu gehen. Nein, er bestand aufs Weitermachen und sorgte dafür, dass die Wanderers mit 3:1 gewannen. Dass Kirkpatrick noch eine halbe Stunde mit gebrochenem Arm spielte, wie Shearman andeutet, wird von Keith Warsop in seinem 2004 erschienenen Buch über die ersten Endspiele des FA-Pokals allerdings angezweifelt. Er hält 15 Minuten für wahrscheinlicher. Auf jeden Fall war es der letzte Erfolg der Wanderers im FA-Pokal und Kirkpatricks letztes Spiel im Trikot der Wanderers.

    Bei dem von Shearman erwähnten „Arthur" handelt es sich um Herby Arthur, seines Zeichens siebenmaliger englischer Nationalspieler und von 1884 bis 1886 mit den Blackburn Rovers dreimaliger Sieger im

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