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Lieber Gabriel: Die Geschichte meines autistischen Jungen
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Ebook168 pages2 hours

Lieber Gabriel: Die Geschichte meines autistischen Jungen

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About this ebook

Die „Probleme“, die in diesem Buch besprochen werden, sind als atypischer Autismus und ADHS diagnostiziert worden.

„Über Menschen wie dich sagt man, dass sie in einer ganz eigenen, abgeschlossenen Welt leben, aber das stimmt nicht ganz. In noch höherem Grad vielleicht als alle anderen findest du dich selbst nur im Zusammenspiel.'
Das Porträt der Beziehung eines Vaters zu seinem autistischen Sohn: warmherzig, ehrlich und geprägt von tiefer Liebe.

„An manchen Tagen stützen wir uns gegenseitig, aber an anderen Tagen muss ich die Wand sein, an der du dich festhalten kannst, denn du stolperst so leicht.' Gabriel, der 7-jährige Sohn des Autors, leidet an Autismus und einer Aufmerksamkeitsstörung. Zur Schule geht er gemeinsam mit „normalen” Kindern, aber mehr als sie braucht er das Konkrete, Feststehende, um sich geborgen zu fühlen. Freihow schildert den Alltag seiner Familie - das Schwierige und das Schöne; die Sorgen, aber auch den Stolz auf ein Kind, das mutig und entschlossen seinen Weg ins Leben sucht und dabei nicht als „anormal”, sondern als gleichwertiger Partner wahrgenommen sein will.
LanguageDeutsch
PublisherXinXii
Release dateFeb 5, 2014
ISBN9783945668634
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    Book preview

    Lieber Gabriel - Halfdan W. Freihow

    DIAGNOSE

    Kapitel 1

    Eine Möwe sitzt auf dem First des Bootshauses. Sie sitzt dort und hebt sich leuchtend grauweiß von dem flaschengrünen Moos ab, in das das Alter braune Flecken gemalt hat. Seit fünfzig Jahren krallt sich das Moospolster im Schutz des Nordwindes fest, einzig um den Eternitplatten auf dem Dach Textur und Farbe zu geben. Es ist schön und macht irgendwo im Universum sicher auch Sinn.

    Schließlich beendet der Vogel sein Grübeln und stürzt sich ins Wasser, hinein in seinen heimlichen Vorrat an kaltem, nassem Futter. Danach hat er keine weiteren Pläne, glaube ich.

    Das Meer ist heute still. Müde, fast tot. Der Horizont trennt Meer und Himmel in einem diffusen Bogen, der mich manchmal verzweifeln lässt. Ich weiß besser, wer ich bin, wenn ich Luft und Wasser unterscheiden kann, wenn es Hindernisse und Grenzen gibt, wenn ich weiß, was mein ist; wenn ich sehen kann, wo ich hingehöre.

    Heute Nacht hat es wieder geregnet und ich sehe, dass das Boot leer geschöpft werden muss. Und die Farbe am Bootshaus blättert ab, das sehe ich auch, auf der Südseite, dort, wo der Regen rinnt, sickert, sich festsaugt, und nicht wie auf der Nordseite dagegen peitscht und das Holz mit Salz pfeffert und es hart und glatt bürstet.

    Ich werde das Boot ausschöpfen. Heute werde ich das Boot leeren. Und im Frühling sollten wir uns um das Bootshaus kümmern.

    Gabriel, ich sehe das alles von meinem Stuhl im Arbeitszimmer aus, all diese Dinge, die nur geschehen, weil sie stattfinden, weil alle Dinge einen Ort für ihr Schicksal brauchen. Es gibt andere Landschaften, ortlose Landschaften, in denen nichts geschieht, oder aber alles so schnell und gleichzeitig, dass sich die Dinge darin verlieren. Aber hier, von meinem Arbeitszimmer aus, kann ich an der Zugehörigkeit teilhaben. Nicht an der deinen oder meinen, sondern an einer größeren Zugehörigkeit, die in dieser langsamen, geduldigen Landschaft lebt und arbeitet und dafür verantwortlich ist, dass wir uns an sie stützen können wie an eine Wand, auch wenn sie nur aus Luft und Wasser und den Schreien der Möwen besteht, wenn unsere eigene, zerbrechliche Zugehörigkeit den Halt verliert.

    Wir brauchen eine Wand hinter unserem Rücken, du und ich. Manchmal reicht eine streichelnde Hand, andere Male bedarf es eines ganzen Gerüsts aus Einsicht und Aufnahmefähigkeit, um nicht zu fallen, zu versinken in Unverständnis, Ratlosigkeit und Angst. Manchmal stärken wir uns selbst den Rücken, manchmal stützt du mich, doch oft bin ich dein einziger Halt, denn du stolperst und fällst so leicht. Und dann, Gabriel, kann es sein, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme, wenn ich selbst niemanden habe, auf den ich mich stützen kann, an den ich mich klammern kann, sondern nur den Wind und das Licht und das offene Meer, während du die Grenzen des Verstehens durchbrichst.

    Über so etwas sprechen wir nicht draußen im Garten, wenn du aus der Schule zurückkommst und die Kaninchen zu essen bekommen haben. Über solche Dinge wie unser Glück, einander zu haben und hier draußen zu leben, wo die Landschaft so lebendig und greifbar ist, sprechen wir nur in unseren Sternstunden, auf der Bettkante, wenn alles versöhnlich wird, oder im Auto, wenn Glas und Stahl und hohes Tempo die Welt auf Abstand halten. Das Gute und das Schwierige haben ihre eigenen Zeiten, und wir dürfen nicht im falschen Moment darüber sprechen. Zu Hause nach der Schule gilt es, sich um das Gewöhnliche zu scharen, das, über das wir auch gestern hätten sprechen können, ohne einen Unterschied zu bemerken, und deshalb schlendern wir über den Rasen und reden über die Tiere, deine Weihnachtswünsche und darüber, was wir heute Abend essen sollen. Worte über etwas zu wechseln, was uns direkt angeht, weil es so erdnah und bekannt ist, trägt dazu bei, diese Nachmittagsstunden im Griff zu behalten, die sonst so leicht zerspringen und reißen, weil es keinen Zeitplan gibt, der sie in Schach hält, weil die Zeit jetzt keine Bestimmung für uns hat.

    Vielleicht deute ich dann hinunter zum Bootshaus und frage dich, ob du siehst, wie zusammengesunken das Dach ist. Der First scheint in der Mitte beinahe einzuknicken, sage ich, als hätten ihn ein paar dicke Wolken eingedrückt oder als hätte eine wirklich schwere Luftschicht dort oben gelegen...

    Aber dein Blick spricht ein klares Nein, und ich erkenne, dass es falsch war.

    - Die Luft kann doch nicht schwer sein! Luft, Luft wiegt doch nichts, sagst du, beinahe beleidigt darüber, dass dein Vater das nicht besser weiß, gleichzeitig aber auch verunsichert, ob ich vielleicht einen Spaß mache, ob das vielleicht ein Witz ist, so dass du lachen solltest.

    Du schüttelst das ab, sagst nichts mehr. Doch ein paar Stunden später, während ich den Tisch abräume und wir darauf warten, dass das Kinderprogramm anfängt, hast du es nicht vergessen.

    - Du, Papa! Warum hast du gesagt, dass da schwere Luft oben auf dem Bootshaus war? Weißt du denn nicht, dass Wolken und Luft nichts wiegen? Die Luft, die ist doch einfach nur da! Sieh doch.

    Und dann hebst du deine flache Hand an, um es mir zu zeigen.

    - Warum hast du das gesagt, Papa?

    -Weil... ach ... nein.

    Ich stotterte und zögere, denn manchmal brauche ich diese kleinen Worte, die Sekunden, die es braucht, bis man eine Antwort findet, um mir einen Plan auszudenken, der deine Neugier und Ratlosigkeit Ernst nimmt, ohne eine endlose Warum-Diskussion zu eröffnen, die uns nirgendwohin führt, weil du alle meine Antworten mit neuen Fragen beantwortest.

    - Ich habe nur einen Witz gemacht. In der Eile komme ich auf nichts Besseres.

    - Einen Witz, du! Aber das stimmt doch gar nicht!

    Du sprichst nicht mehr mit deiner gewöhnlichen Stimme, du schreist fast. Ich erkenne in deinen Augen, dass dieses Gespräch für dich keinen Sinn ergibt, dass du dich ungerecht behandelt fühlst, und weiß, dass die Gefahr besteht, dass die Situation jetzt vollkommen kippt. Du brauchst Hilfe, doch keine erniedrigende Hilfe, um dich aus der Sackgasse deiner Logik zu lotsen, in der du verwirrt und am Rande der Mutlosigkeit steckst, weil du keinen Ausweg findest. Mit deinem instinktiven Vertrauen, dass alles, was Papa sagt, richtig ist, gelingt es dir nicht, eine offensichtliche Unstimmigkeit, ja eine Lüge, einzuordnen. Und es ist vollkommen unmöglich für dich, auch nur die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass du dich selbst irren könntest, ja dass du dich geirrt hast, solange du denken kannst, und dass Luft tatsächlich so schwer sein kann, dass sie das Dach eines ganzen Bootshauses zum Einsturz bringt. Gelähmt von dem grenzenlosen Bedürfnis nach Sicherheit, nach Gewissheit, dass die Welt zusammenhängt, dass alles seinen festen Platz hat in einer Kette aus Ursachen und Wirkungen und alles so ist wie immer, brauchst du eine Brücke, eine Hand, die dich aus dem Labyrinth führen kann.

    - Aber es kann doch sein, beginne ich, dass der Dachbalken so alt und morsch geworden ist, dass er ganz von selbst einstürzt. Was meinst du? Sollen wir nicht mal eine Expedition dahin unternehmen, mit Taschenlampen und warmem Kakao?

    - So heißt das nicht! Du sagst das falsch!

    Ich höre einen deutlichen Anflug von Panik in deiner Stimme und spule sofort zurück und durchforste meinen Satz auf mögliche Fehler. Es dauert ein paar Sekunden, doch dann habe ich es.

    - Entschuldigung, ich meinte natürlich keine Expedition, sondern eine Inspektion. Du hast vollkommen Recht, wir wollen nicht auf Entdeckungsreise, schließlich liegen im Bootshaus ja keine Schätze, oder? Was ich meinte, war - lass uns mit Taschenlampen und etwas zu Trinken eine Inspektion vornehmen, ob noch alles in Ordnung ist. Vielleicht müssen wir das ganze Dach auswechseln, was meinst du?

    Du siehst mich mit deinem vollkommen offenen Blick an, deine Augen auf etwas gerichtet, das sich links oberhalb von mir befinden muss, ein Blick, der so groß und gleichzeitig so fern ist, dass ich ihn nicht fassen kann und nicht weiß, was du siehst. Ich weiß nicht, ob du noch immer enttäuscht und ein bisschen entsetzt bist, das ich lügen und sagen konnte, dass Luft schwer ist, oder ob du zögerst, weil du das Kinderprogramm im Fernsehen gegen die Inspektion des Bootshauses abwägst, das sich in einem so schlechten Zustand befindet, dass du es nicht auf eigene Faust erforschen darfst. Vielleicht bist du aber auch einfach an einem ganz anderen Ort. Einem Ort, den ich nicht kenne, an dem ich dich nicht erreichen und nicht wissen kann, wie es dir geht und ob dort alles weh tut oder ob dort nichts eine Bedeutung hat, wenn es nur dich dort gibt.

    Doch dann rufst du ein lautes JA! Und du wirfst dich mir um den Hals und hast eine Nähe in deinen Augen, eine plötzliche Erreichbarkeit, als hättest du alle Angst vergessen, und auch das Gefühl, getäuscht worden zu sein, ja vielleicht belogen. So machen wir es dann. Wir rufen Mama bei der Arbeit an und erzählen ihr, was wir Vorhaben, suchen den Kakao aus dem Schrank, machen die Milch warm und schmieren uns Brote. Du siehst zu, aber ich weiß nicht, ob du wirklich siehst, denn wieder bist du an einem anderen Ort, einem Ort, an dem nur du weißt, was geschieht.

    Wenn die Möwe mit dem Essen fertig ist, was macht sie dann? Was tut eine satte Möwe?

    Darüber weiß ich nichts. Vielleicht fliegt sie mit ihrem kleinen Möwenherz und ihrem vollen Bauch einfach ihres Weges und verschwindet irgendwo über dem Meer. Aber eines Tages wird sie sterben, das weiß ich, und ein weiteres unerklärtes Leben, eine weitere unbeantwortete Frage wird sich zu dem Berg von Rätseln gesellen, der uns umgibt, uns umrahmt und uns definiert - die Menschen, die Tiere und unsere Landschaft, die erstaunlichen Kräfte, dass sich gewaltige Bäume aus winzigen Samen erheben können.

    Ich weiß eine Menge, Gabriel. Wenn ich in meinem Gedächtnis nachforsche, kann ich vielleicht sogar erklären, welche Naturgesetze es den dünnen, zerbrechlichen Vogelflügeln erlauben, satt gegessene Möwenkörper durch die Luft zu tragen. Aber es gibt mehr, was ich nicht weiß, und das Wesentlichste werde ich vielleicht nie lernen, auch wenn ich eine ganze Bibliothek durchlese.

    Trotzdem erzähle ich dir jeden Tag, dass das Wichtigste, was du tun kannst, das Lernen ist. Und mir selbst rede ich ein, dass ich nichts Wichtigeres für dich tun kann, als dir Lust zum Lernen zu geben und dir zu helfen. Wenn du diese Zeilen einmal liest, wirst du dann das Gefühl haben, dass ich dich getäuscht habe, dass ich dich angelogen habe, wie mit der Sache mit dem Bootshausdach? Vielleicht bist du selbst ein erwachsener Mann, wenn du dies liest, vielleicht wirst du dich auch nie darum kümmern. Vielleicht wirst du erst mich verlieren und dann die Trauer, die du nie verstanden hast, und dich schließlich vielleicht nur noch an das Gefühl des Trostes und der Sicherheit bei einem Mann erinnern, den du Papa nanntest und der dir versprach, dass alles gut werden wird, bist du ihm schließlich geglaubt hast, weil du es nicht besser wusstest, und weil alles besser ist als die Verzweiflung. Das kann sein.

    Denk nur, ich weiß nicht, wer du bist, ich, der ich dich so gut kenne. Ich weiß nicht, an was du dich erinnerst, du, der du nicht vergessen kannst.

    Das Boot kann auf jeden Fall bis morgen warten! Und das Bootshaus, das dort schon im Sturm, in der Sonne und im Schneetreiben stand, als wir noch nicht einmal auf der Welt waren, kann nicht auch das warten? Können der Abwasch, die Hausaufgaben und das Kinderprogramm nicht auch warten? Das alles zusammen?

    Ich frage nicht, weil ich erwarte oder glaube, dass du mir eine Antwort geben willst. Ich frage, weil auch ich perplex bin und voller Zweifel. Ich frage, weil ich nicht immer weiß, was das Wichtigste ist, weil das Große und das Kleine miteinander verschwimmen. Ich frage, weil die Zeit vergeht, manchmal aber auch vollkommen stillsteht, wo es doch so vieles gibt, wofür ich sie brauchen wollte. Ich frage, weil die Liebe groß und die Trauer tief ist und weil sie beide so viel Platz beanspruchen, dass ich nicht richtig weiß, was ich mit ihnen anstellen soll.

    Ich frage, weil ich dich an einem warmen Sommertag allein im Gras sitzen sehe. Unendlich lang. Du betrachtest eine Löwenzahnblüte, gelb wie ein Eidotter, und ich weiß nicht, was du denkst. Ich sehe, dass sich deine Lippen bewegen, während du umständlich die Blume auseinander zupfst, aber ich weiß nicht, ob es Worte sind, oder welche Worte es sind, die du flüsterst. Ich weiß nicht einmal, ob es Freude ist, ein kleines Glück, das ich in deinem Blick zu erkennen glaube. Vielleicht ist es auch ein Drang zu zerstören, alles sorgsam auseinander zu reißen? Ein Bedürfnis, zum Kern der Blüte zu gelangen und in ihr Wesen einzudringen? Oder nichts, eine Leere, die nicht einmal gedankenlos ist, keine Flucht der Gedanken.

    Ich frage, weil ich dich einmal mit in den Zirkus genommen habe. Du warst acht Jahre alt und hattest dich seit Tagen

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