Morgen, das ist bald
By Lise Gast
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Morgen, das ist bald - Lise Gast
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»... und deshalb haben wir gedacht, wir machen keine Hochzeitsreise, sondern...«
»Sondern?« fragten Annette, Heidel und Kay wie aus einem Mund. Sie starrten ihrer Mutter gespannt ins Gesicht.
»Wir verreisen zusammen. Alle. Alle außer Matthias natürlich, der kann ja nicht weg. Ein Glück, daß alles klappte und er seine Aufnahmeprüfung bei der PH schaffte. Aber er kann unter gar keinen Umständen jetzt gleich wieder ein paar Tage schwänzen. Aber ihr kommt mit, alle drei, zum Schilaufen, Friedrich – also Dr. Seibold – « Frau Seibold wurde ein wenig rot, sie war es noch nicht gewöhnt, von ihrem neuen Mann als ›Vater‹ zu sprechen, »hat ein kleines Haus gemietet, in dem wir wohnen und uns selbst verpflegen können. Es nennt sich Chalet, ist aber wahrhaftig kein Schloß, nicht mal ein Schlößchen.«
Während sie weitererzählte, bekam Annette, die erst recht skeptisch dreingesehen hatte, Glanz in die Augen. Schilaufen war schick, vor allem in der Schweiz! Hier rutschte man auf den Hügeln herum und mußte von Glück sagen, wenn man einmal eine Gelegenheit fand, auf eine Piste zu kommen, wo ein primitiver Lift einen hinaufzog und man dann ein bißchen üben konnte. In der Schweiz war das natürlich zünftig. Und wen würde man alles kennenlernen!
Heidel fragte als erstes, ob denn Kay auch mitkönnte. Frau Seibold erklärte, dort gäbe es auch Kinder-Schikurse, und Spaß machen würde es ihm bestimmt. Kay war jetzt acht, ging also schon zur Schule. Jetzt aber lagen ein paar Feiertage so günstig, daß alle Schulen freihatten – von Freitag bis Aschermittwoch, nicht nur drei »tolle Tage«, sondern sechs. Sie wollten mit Dr. Seibolds Wagen fahren.
Zum allgemeinen Bedauern konnte Sybille nicht mit, Sybille Frey, die in Annettes Klasse ging und so gern zu Bergers kam, schon jahrelang. Sie durfte nicht, ihre Eltern waren sehr ängstlich. Außerdem ging es ihrer Mutter zur Zeit nicht gut, so daß sie, wenn sie nicht in der Schule war, viel zu tun hatte und auch auf ihren kleinen Bruder aufpassen mußte.
»Heißen wir eigentlich jetzt weiter Berger?« fragte Kay in diesem Augenblick, als alle schwiegen, mit ihren Gedanken beschäftigt. »Wenn Dr. Seibold unser neuer Vater ist und –«
»Deshalb ändern wir doch unsern Namen nicht«, sagte Annette schnell und ärgerlich. Ihr war gar nicht wohl bei dem Gedanken, daß Mutter wieder geheiratet hatte. Sie genierte sich, ohne eigentlich sagen zu können, weshalb. Heidel war da ganz anders.
»Ich fahr’ nur schnell zu Helmi«, sagte sie, als Mutter schwieg. »Zum Abendbrot bin ich wieder zurück.«
Seit ein paar Jahren hatte sie eine Freundin, eine richtige, gute, mit der sie alles besprach. Helmi, die Tochter des Försters, war zwar etwas jünger als sie, aber ungeheuer lebhaft und unternehmend. Heidel, die zu Hause immer als die Kleine oder gar die Dumme galt, fand es wunderbar, in Helmis Familie als groß und gescheit angesehen zu werden. Helmi machte mehr Dummheiten als sonst drei Kinder zusammen, darum fand ihre Mutter es herrlich erholsam, wenn Heidel da war und ein wenig Vernunft ausstrahlte. Auch auf Wulf, den kleinen Bruder von Helmi, konnte sie dann mit aufpassen; sie war es gewöhnt, denn Wulf war ungefähr so alt wie Kay.
Heute allerdings machte Helmi einen bemerkenswert stillen Eindruck, als Heidel kam und vom Schilaufen erzählte, von dieser ganz, ganz tollen Reise, die ihnen bevorstand, in die Schweiz, in ein Chalet!
›Ob sie uns beneidet?‹ dachte Heidel und wurde nun auch ein wenig leiser. Helmi saß in dem schon etwas abgestoßenen Schaukelstuhl im Wohnzimmer, um den sie und Wulf sich sonst immer stritten, und wiegte sich ein bißchen vor und zurück – langsam, sachte, gar nicht wild, wie es sonst ihre Art war.
»Wo ist eigentlich Wulf?« fragte Heidel schließlich.
»Im Bett. Er hat sich übergeben«, sagte Helmi, »ich auch. Jedenfalls etwas. Mir ist gar nicht gut, richtig bekloppt.«
»Du wirst doch nicht krank werden, wo wir doch nächste Woche richtige kleine Ferien bekommen, sozusagen vom Himmel gefallen«, sagte Heidel. »Es ist schade, daß ihr nicht mitkönnt – dann würde es mir noch viel mehr gefallen. Sybille fährt auch nicht mit. Sie darf nicht. Außerdem sind wir schon fünf im Wagen, und die Schier und die ganze Ausrüstung und das alles.«
»Wie war denn die Hochzeit?« fragte Helmi jetzt.
Heidel lachte und winkte ab. »Überhaupt nicht schön. Jedenfalls nicht, wie man sich eine Hochzeit denkt. Mutter und Dr. Seibold sind aufs Standesamt gefahren, Onkel Herbert war als Trauzeuge dabei und von Dr. Seibold noch ein Bekannter. Wir durften nicht mit rein. Und nachher haben sie im Ratskeller gegessen und sind anschließend zu uns gekommen. Wir hatten Kuchen gebacken und tranken alle miteinander Kaffee. Das war’s, weiter nichts. Und ich hatte gedacht...«
»Ach ja. Aber für Kranz und Schleier ist deine Mutter ja zu alt«, sagte Helmi. »Obwohl – hübsch ist sie ja wirklich noch. Ich finde deine Mutter süß.«
»Jaja. Und daß wir von Onkel Herbert und Tante Greta wegkommen, ist doch sehr gut. Weißt du, Tanten, die immerzu an einem herumerziehen, die kann man auf die Dauer nicht ertragen. Dr. Seibold hat ein Haus gemietet, im Frühling ziehen wir dort hin. Nein, nicht direkt in der Stadt. Am Stadtrand, aber doch ziemlich weit von hier – ich komm’ aber trotzdem weiter zu dir, ich hab’ ja das Fahrrad.«
»Im Frühling? Na, Gott sei Dank, bis dahin dauert es ja noch.« Helmis Stimme klang ein wenig fremd, und auf einmal fing sie an zu weinen. Ohne Grund, ganz plötzlich. Heidel war erschrokken.
»Aber Helmi, so schlimm ist das doch nicht!«
Sie war ratlos und atmete auf, als Helmis Mutter in diesem Moment hereinkam.
»Lieber Himmel, Helmi, was ist denn los?« fragte sie sogleich. »Wulf hat Fieber, und du hast, glaub’ ich, jetzt auch welches.« Sie hatte die Hand an Helmis Stirn gelegt. »Nun macht nur Dummheiten, ihr beiden, und steckt womöglich Heidel noch an!«
Sie mochte Heidel sehr gern. Auch Heidel hatte sich von Anfang an innig an Helmis Mutter angeschlossen, die Försterin, die so resolut und herzlich und eigentlich immer vergnügt war, nicht so zart und leicht erschöpft wie die eigene Mutter. Und wie gern lachte sie! Auch jetzt, da es doch eigentlich gar nichts zu lachen gab – Helmi hatte Fieber, das merkte man genau –, fing sie nicht an zu jammern, sondern sagte nur: »Also marsch, marsch, in die Buntkarierten! Heidel kann euch ja noch was vorlesen.«
Das tat Heidel gern. Sie half der Freundin in den Schlafanzug und dann ins Bett und deckte sie zu, und Wulf lachte ihr aus seinem grüngestrichenen Holzbettchen ein wenig matt, aber doch dankbar, entgegen.
»Wir müssen was vorlesen, was für euch beide paßt«, sagte Heidel und guckte das Bücherregal entlang, »am besten was Lustiges. Lachen macht gesund.«
Es lag ein eigener Reiz darin, für die beiden Kranken da zu sein, fand Heidel – zu pflegen, nannte sie es bei sich. Zuerst schüttelte sie beiden die Kopfkissen auf, klopfte die Zudecken zurecht und gab ihnen zu trinken. Durst haben Kranke ja immer. Und dann griff sie nach einem Buch, um ihnen vorzulesen. Vorgelesen zu bekommen fand sie beim Kranksein immer das Allerschönste.
Sie hatte aber nichts Lustiges erwischt, sondern etwas Grusliges. Gespenstergeschichten aus aller Welt – die schönsten waren die englischen. Wie dort in alten Schlössern Türen aufgingen und Kronleuchter herunterfielen und es aus den Ecken stöhnte und aus den Kaminen weiße Dämpfe herauswehten...
Wulf lachte, er nahm das alles gar nicht als gruslig, sondern fand es furchtbar komisch. Heidel mußte manchmal aufhören zu lesen und ihn ansehen, sein rundes Kindergesicht mit dem wachen Ausdruck: Seine Nase war nicht stubsig wie bei andern Kindern seines Alters noch, sie hatte auch nicht die Einbuchtung an der Wurzel, sondern ging ziemlich gerade in die Stirn über, eine sogenannte griechische Nase wohl. Dazu waren seine Augen sehr blau, und sie standen ziemlich eng zusammen. Das gab dem ganzen Gesicht etwas Aufmerksames, ja, Kämpferisches – sie mußte immer wieder hinblicken und dabei an Kay denken, der etwas älter war als Wulf und dabei viel, viel kindlicher. Aus Wulf würde vielleicht einmal ein ganz besonderer Kerl werden, ein Feuerkopf, ein großer Erfinder oder ein Abenteurer. Auch seine völlige Furchtlosigkeit den Gespenstergeschichten gegenüber imponierte Heidel.
»Ich würde das Gespenst fangen, eine Rattenfalle bauen, so groß –« er maß mit den Armen ab. »Und dann liefe es hinein, und ich könnte es mir ganz aus der Nähe ansehen...«
»Vielleicht wäre es gleich tot, wenn die Falle zuschnappte?« sagte Helmi, die schon viele Ratten gefangen hatte, »und was fingst du mit einem toten Gespenst an?«
»Na eben! Gibt’s überhaupt tote Gespenster?« fragte Helmis Mutter vergnügt, die gerade hereingekommen war. »Ich finde, Gespenster machen nur Spaß, wenn sie leben. Ich weiß jedenfalls, daß es wirklich Häuser gibt, in denen es spukt. Als ich jung war – aber die Geschichte kennt ihr ja«, sagte sie und brach ab.
»Aber Heidel nicht! Bitte, bitte, erzähl sie!« riefen jetzt Helmi und Wulf wie aus einem Mund. Helmi zwinkerte Heidel zu, sie sollte auch mit betteln. »Die mit dem Balken vor der Tür! Eine wirklich wahre Geschichte, und...«
»Die hast du Heidel doch bestimmt schon erzählt!« sagte die Mutter.
Heidel aber stimmte sofort ein: »Sie müssen Sie bitte selber erzählen! Bitte! Spukgeschichten hat sonst immer nur einer vom andern gehört, und niemand war selber dabei. Das sagt jedenfalls Matthias, mein großer Bruder, wissen Sie. Er lacht mich immer aus, wenn ich toi, toi, toi sage oder an Holz klopfe oder so was – bitte erzählen Sie doch!«
Da erzählte Frau Thomas. Sie setzte sich an Wulfs Bett und hatte gleich ein Paar Strümpfe von ihm in der Hand, die große Löcher an den Fersen aufwiesen, und nachdem sie noch Nadel und Faden geholt hatte, begann sie. Wie sie verlobt gewesen war und die künftigen Schwiegereltern besuchte, die in einem alten Pfarrhaus im Waldeckschen wohnten, in dem es spukte. Ausgerechnet in einem Pfarrhaus! Das machte die Sache noch viel beträchtlicher, fand Heidel. Frau Thomas hatte schon in der ersten Nacht gemerkt, daß da etwas nicht stimmte. In ihrem Zimmer, in dem sie allein schlief, mußte etwas Seltsames sein, was man nicht erklären konnte – sobald sie eingeschlafen war und wieder aufwachte, war gerade jemand durchgegangen. Erst mochte sie nichts davon erzählen, aber eines Morgens faßte sie sich doch ein Herz und sagte zur Mutter ihres Verlobten, sie möchte doch ihrem Mann sagen, daß er nicht mehr durch ihr Zimmer ginge. Sie erschräke immer ein bißchen. Sonst war niemand im Haus, das wußte sie, nur das ältere Ehepaar und ihr Verlobter. Ihre spätere Schwiegermutter sah sie nachdenklich an.
»Das ist nicht mein Mann, der da durchgeht«, sagte sie endlich, sie sagte es leise und freundlich, ein bißchen tröstend, »es ist... es tut dir nichts. Du kannst ganz unbesorgt ein. Es tut niemandem etwas.«
«Was ist denn ›es‹?« hatte das junge Mädchen gefragt.
»Das wissen wir auch nicht. Es geht eben durch, schon seit wir hier wohnen. Ein anderes Zimmer haben wir nicht frei, sonst würden wir es dir geben.«
»Ich habe dann gebeten, im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen zu dürfen, und sie haben es mir auch erlaubt«, erzählte Helmis Mutter weiter. »Obwohl es mir wirklich nichts tat. Ich mußte abends eben immer so lange wach bleiben, bis alle schlafengingen, und Pastors waren ganz hübsche Nachtsitzer. Und dann –« sie hielt inne.
»Dann?« fragte Heidel begierig. »Bitte erzählen Sie doch weiter – durchs Wohnzimmer kam es nicht?«
»Nein. Nur durch das eine Zimmer. Ja, also, dann war ich eines Tages allein im Haus. Mein Verlobter war mit seinen Eltern eingeladen, und ich hatte keine Lust, mitzugehen. So blieb ich allein. Das Haus war alt und auf alte Art gut gegen das oft feindliche Draußen verwahrt, also die Haustür nicht nur abgeschlossen und verriegelt, sondern auch noch – ja, du mußt dir das so vorstellen, Heidel: Innen an der Haustür, die nach innen aufging, waren rechts und links zwei Halter gemauert, in die man einen Balken legte, waagerecht, einen schweren, viereckigen Balken. Lag der dort, so konnte niemand die Tür nach innen aufdrücken, selbst wenn sie nicht verschlossen und verriegelt gewesen wäre. Verstehst du? Schön, und außerdem hing darüber noch eine kleine Glocke an einer elastischen Stahlfeder, die nach innen gedrückt wurde, wenn man durch die Haustür hereinkam. Tagsüber wurde nämlich nicht zugeschlossen, und so bimmelte es jedesmal, wenn irgendwelche Leute ins Pfarrhaus kamen. Früher hatten auch Schuster solche Klingeln