Das Geheimnis des Gutsherrn
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Book preview
Das Geheimnis des Gutsherrn - Christina Tempest
gestat
1. Dezember
Eines war sicher. Jedes Mal, wenn sich Cecilie gerade damit versöhnt hatte, in der Stadt zu wohnen, wurde sie daran erinnert, wie sehr sie die offene, freie Natur vermisste. Die Schönheit der frostweißen Landschaft, als die Nachmittagssonne hervorbrach und auf die bleichen Felder schien, gab ihrem Herz einen wehmütigen Stich. Aber nicht einmal das Wiedersehen mit Nordjyllands grandioser Natur konnte Cecilies Gedanken an ihre Diskussion mit Karen gänzlich verscheuchen. Seit sie ein paar Stunden vorher Kopenhagen verlassen hatte, hatten sie die Worte der Freundin nicht losgelassen. Zur Ablenkung hatte sie das Radio angeschaltet, aber auch die klassischen Weihnachtshits, die das kleine Auto auf der Reise in Dauerschleife beschallten, konnten die Gedanken nicht vertreiben. Wenn Cecilie noch mehrere Stunden nach einem solchen Gespräch sauer war, war das leider in der Regel ein sicheres Zeichen, dass ihre äußerst ehrliche Freundin recht hatte. Verdammt. Auf der Schnellstraße steckte Cecilie eine ganze Weile hinter zwei Lkws fest, die ihre Zeit damit totschlugen, sich gegenseitig zu überholen. Cecilie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad. War sie wirklich zu langweilig, wie Karen behauptete? So lang war ihre letzte Beziehung nun wirklich nicht her. Sie schaltete den Blinker ein, fuhr von der Schnellstraße ab und zählte mit den Fingern nach, während ein Traktor vor ihr langsam die eisige Fahrbahn entlang schlidderte. Ja, okay, es war zweieinhalb Jahre her. Zweieinhalb Jahre? So lang kam es ihr gar nicht vor, was bestimmt auch daran lag, dass sie den Job bei der Ægidius-Stiftung bekommen hatte. Das Geld anderer Menschen an verschiedene umweltfördernde Projekte zu verteilen war ungefähr der beste Zeitvertreib, den Cecilie sich vorstellen konnte. Aber sie musste vielleicht nicht unbedingt all ihre Zeit dafür verwenden.
Bevor sie zu einem Schluss kommen konnte, ob Karen vielleicht recht damit hatte, dass es Zeit war, sich wieder in die Dating-Welt zu begeben, bog der Traktor auf einen Schotterweg ab und sie hatte freie Sicht. Es verschlug Cecilie fast den Atem, so schön war die Landschaft im Sonnenuntergang. Nordjyllands windgeplagten Weiten waren wirklich ein vergessener Juwel. Aber sie bezweifelte, dass es der richtige Ort war, um Karens Rat zu befolgen, sich einen Mann zu suchen. Nachdem Cecilie im Gasthof eingecheckt hatte, der einzigen Übernachtungsmöglichkeit in der winzigen Stadt, gab es keinen Zweifel mehr: Sie musste auf jeden Fall zurück nach Kopenhagen, um irgendeine Hoffnung haben zu können, einen Mann kennen zu lernen. Astrup war eine der kleinsten Städte, in der sie je gewesen war.
Sie stellte ihren Koffer in ihrem Zimmer ab, das immerhin herrlich warm war und eine fantastische Aussicht hatte. Sie freute sich schon jetzt darauf, morgen die Sonne durch das große Fenster scheinen zu sehen, und war dankbar, dass ihr Meeting auf dem örtlichen Gut spät genug beginnen würde, um im Gasthof bleiben zu können, bis die Sonne aufgegangen war. Ein Sonnenaufgang war ein Genuss, der in Kopenhagens eng stehenden Häusern äußerst wenigen vergönnt war, und auch wenn sie ihre kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im zentralen Altbauviertel Vesterbro vergötterte, packte sie manchmal die Sehnsucht nach dem Licht und der Weite, die an ihre Kindheit auf dem Land erinnerten. Sie ging hinunter und schaute sich in dem menschenleeren Foyer um.
„Womit kann ich helfen?", fragte die freundliche Empfangsdame, eine rundliche Frau um die Fünfzig, die nicht zu verbergen versuchte, dass sie dasaß und Kreuzworträtsel löste.
„Wo kann ich etwas essen gehen?"
„Wir öffnen um 18 Uhr."
Die grauhaarige Frau lächelte sie warm an und schien sich nicht bewusst zu sein, wie putzig es war, dass sie nicht einmal gefragt hatte, an was für Essen Cecilie interessiert war.
„Sie können sich schon reinsetzen."
Das bedeutete offensichtlich, dass es in dieser Stadt nur einen Ort gab, wo man etwas essen konnte, und Cecilie war bereits dort.
„Wenn Sie keine Pizza möchten?", fragte die Empfangsdame hilfsbereit.
„Nein, nein, dänische Küche ist in Ordnung."
Es wäre eine Untertreibung, zu sagen, dass das Restaurant Astrup Gasthof nicht so gut besucht war. Es war völlig leer.
„Eine Person?"
Cecilie nickte schicksalsergeben. Nach so vielen Jahren in ihrem Job hatte sie sich daran gewöhnt, allein ins Restaurant zu gehen, aber es war etwas anderes, allein in ein vollkommen leeres Restaurant zu gehen. Fast leer. Als sie gerade angefangen hatte, die Speisekarte zu lesen, sah Cecilie einen groß gewachsenen Mann, der genau nach ihr hereingekommen sein musste. Er setzte sich an einen Tisch in der Ecke und bestellte in einem gedämpften Murmeln, ohne überhaupt in die Karte zu gucken. Offensichtlich ein Stammkunde. Er war schick auf diese gesunde, naturverbundene Weise. Helles, wogendes Haar, markante Kieferknochen und charakteristische Nase. Er sah auf und Cecilie senkte schnell den Blick, aber für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Er nickte ihr kurz zu und schaute weg. Sie spürte die Röte die Wangen steigen, obwohl er unmöglich wissen konnte, dass sie gerade eine SMS an Karen geschickt hatte: Ok, du hast recht. Ich muss den Hintern hochkriegen und einen Mann finden. Während sie auf ihr Essen wartete, vibrierte ihr Handy. Sie drehte es um und las die Nachricht: Wenn du nicht innerhalb einer Woche jemanden getroffen hast, arrangiere ich dir ein Blind Date! Okay? Sie lächelte und antwortete direkt: Eine Woche?! So schnell findet man keinen Freund. Die Antwort kam, bevor sie das Handy auch nur aus der Hand legen konnte: Wer redet von fester Beziehung? Willkommen in den 2000ern, Cille. Es ist erlaubt, sich an den Leckerbissen zu bedienen… Am Ende der Nachricht hatte sie einen Zwinkersmiley hinzugefügt, der die Zunge rausstreckte, und einen unmissverständlichen Auberginen-Emoji. Cecilie kicherte und steckte das Handy in die Tasche, ohne zu antworten. Als sie aufsah, traf sie wieder den Blick des Mannes. Er bohrte sich in ihren, bevor sie wegsehen konnte, und das Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, war unmissverständlich. Als der Kellner genau in diesem Moment zwei Teller brachte und den einen auf ihrem und den anderen auf dem Tisch des fremden Mannes abstellte, fasste sie einen schnellen Beschluss. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, warf sie sich ihre Tasche über die Schulter, nahm Teller und Besteck in die eine und das Glas in die andere Hand und steuerte auf den Tisch des Fremden zu.
„Ja?", sagte er und sah auf, als sie plötzlich vor ihm stand. Ihre spontane Initiative war ebenso kühn wie weit entfernt von ihrem gewöhnlichen Stil. Sie bereute es bereits, aber jetzt schien es kein Zurück mehr zu geben.
„Ich dachte nur…"
Die Energie hatte sie verlassen. Warum in aller Welt war sie zu einem wildfremden und sehr aparten Mann herübergegangen, der in Ruhe seine Mahlzeit im Restaurang Astrup Gasthof genießen wollte?
„…weil nur wir beide hier sind", beendete sie lahm ihren Satz und wünschte, sich inklusive ihres Krabbensandwiches und ihres Mineralwassers in Luft aufzulösen. Einen Augenblick lang sah er ihr einfach nur gerade in die Augen, vielleicht suchte er nach einer Ausrede, um sie loszuwerden, vielleicht war er nur überrascht über ihre Kühnheit. Dann lächelte er warm.
„Eine glänzende Idee."
Er nickte in Richtung der Mineralwasserflasche, die sie auf dem Tisch abstellte.
„Aber ich meine fast, dass die Gelegenheit etwas festlichere Getränkte fordert."
Er zog fragend die Augenbrauen hoch und Cecilie nickte schnell.
„Gerne."
Falls der Kellner überrascht war, als Cecilies neuer Tischherr nach ihm rief, um Wein zu bestellen, verbarg er dies geschickt.
„Weiß oder rot?", fragte der schicke Fremde.
„Weiß?", sagte Cecilie und schaute dann auf seinen Teller mit Wild.
„Oh, das passt vielleicht nicht dazu…?"
„Das passt ausgezeichnet", sagte er und lächelte beruhigend.
„Den besten Sancerre für die Dame und ein großes Fassbier für mich, bitte."
Der Kellner nickte und eilte in die Küche. Es folgte ein unbequemes Schweigen.
„Wie heißen Sie?", fragte Cecilie und bereute es sofort. Hier wollte sie die Abenteuerlustige darstellen und dann stellte sie die aller naheliegendste und langweiligste Frage der Welt.
„Vergessen Sie es!", unterbrach sie ihn, als er gerade antworten wollte. Er schaute sie leicht verwundert an.
„Kein Name?"
Sie lächelte und schüttelte über sich selbst den Kopf.
„Entschuldigung. Ich dachte nur… Vielleicht ist das hier so eine Begegnung, bei der man einfach die Person sein kann, die man sein will?"
So. Jetzt lagen die Karten auf dem Tisch. Sie hätte kaum deutlicher sagen können, dass das hier nur für heute Abend bestimmt war. Zum Glück kam der Kellner mit den Getränken zurück und unterbrach das Gespräch, bevor Cecilies fremdes Date antworten konnte. Dankbar nahm sie einen Schluck von dem Wein. Er nippte an seinem Bier, nickte anerkennend und nahm den Gesprächsfaden wieder auf.
„Würden Sie gern jemand anderes sein?"
„Manchmal."
Sie widerstand dem Impuls, den Blick zu senken.
„Wollen Sie das nie?"
Statt einer Antwort hielt er sein Glas hoch und sie stießen an. Nach ein paar Schlucken in einem Schweigen, das Cecilie schwer deuten konnte, sagte er endlich etwas.
„Wer soll ich dann heute Abend sein?, fragte er und schaute nachdenklich in die Gegend. „Sie sind offensichtlich eine Frau, die weiß, was sie will, und die keine Angst hat, dem zu folgen.
Er machte eine ausschweifende Handbewegung, um auf die Situation hinzuweisen, die ja das Ergebnis ihrer Initiative war.
„Da kann etwas dran sein." Cecilie wollte, dass er weitermachte. Sie wollte seiner ruhigen, tiefen Stimme zuhören, die von der Frau erzählte, die sie gern sein wollte.
„Eine Frau aus der Großstadt, sagte er. „Eine Frau, die gefährlich sein kann für einen armen Mann vom Land, wie mich.
„Vielleicht", sagte Cecilie und drehte das Weinglas zwischen den Händen.
„Aber Sie scheinen ein Mann zu sein, der wagt, Chancen zu ergreifen."
Als er nicht antwortete, setzte sie fort: „Wer wollen Sie sein?"
„Helfen Sie mir."
Die Antwort kam schnell.
„Hmmm. Sie sind so einer, der nicht zögert, einer Frau Wein zu bestellen, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. „Also sind Sie selbstsicher.
„Ja, vielleicht, antwortete er. „Machen Sie weiter.
„Sie sind höflich, aber man merkt, dass Sie daran gewöhnt sind, Ihren Willen durchzusetzen."
Cecilie hatte natürlich schnell registriert, dass er keinen Ring trug, aber das würde sie lieber nicht kommentieren. Sie überlegte, zu sagen, dass er ein mittelgroßes Unternehmen führte, in einem Haus mit Aussicht aufs Meer wohnte und gerne jagen ging. Oh mein Gott, sogar ihre Phantasien waren langweilig. Stattdessen öffnete sie den Mund und sagte:
„Ich glaube, Sie sind Naturfotograf. Sie haben Bilder an einigen der gefährlichsten Orte der Welt gemacht, sind mit Haien geschwommen, auf eine Bergspitze geklettert, um die letzten wilden Adler zu fotografieren, haben tagelang reglos im Schnee gelegen, um das perfekte Bild von dem extrem scheuen Polarfuchs zu schießen. Sie sind kompromisslos, lieben die Natur und tun einfach alles für das perfekte Foto."
Er riss überrascht die Augen auf und versuchte das Grinsen zu unterdrücken, das sich auf seinen Lippen ausbreiten wollte.
„Was mache ich dann hier?"
Er sah sich in dem verlassenen Restaurant um. Cecilie zögerte nicht.
„Sie sind seit zehn Jahren nicht in Dänemark gewesen. Jetzt sind Sie zurück, um die dänischen Wölfe zu fotografieren. Bisher hat man nur verpixelte Bilder gesehen, die genauso gut einen sibirischen Husky darstellen könnten. Die Leute sind panisch, völlig ohne Grund, und jetzt ist es Ihre Aufgabe, zu zeigen, was für ein fantastisches Tier der Wolf ist, und wie glücklich wir uns schätzen können, den Wolf wieder in der dänischen Natur zu haben."
„Und weiter?", fragte der Mann und sah Cecilie fasziniert an.
Es war ihr, als ob sie auf seinem bewundernden Blick schweben könnte. Warum hatte sie das hier nicht schon viel früher ausprobiert?
„Eine ganze Menge Frauen haben versucht, Sie zu zähmen, aber Sie fühlen sich mit einem solchen Alltag nicht wohl. In der Natur geht es Ihnen am besten, allein mit Ihrer Kamera und Ihrer Mission. Nur ab und zu verspüren Sie ein Bedürfnis nach dem Körper einer Frau und dann begeben Sie sich in die Stadt, wo eine glückliche Frau die Nacht ihres Lebens mit Ihnen verbringt, solang sie damit einverstanden ist, dass Sie am nächsten Morgen verschwunden sind."
Bei diesen Worten hustete der Mann und verschluckte sich an seinem Bier.
„No pressure!", lachte er.
Auch Cecilie grinste selbstzufrieden.
„Jetzt sind Sie dran", sagte sie auffordernd und lehnte sich im Stuhl zurück, als ob sie sich auf eine lange Ausführung freute.
„Hmm."
Der Mann betrachtete sie von oben bis unten, als ob er Inspiration suchte.
„Sie arbeiten mit Windkraft. Morgen wird eine ganze Reihe Ingenieure aus allen möglichen Ländern Vorschläge für die zukünftige Entwicklung eines der weltweit führenden Produzenten erneuerbarer Energie präsentieren, aber Sie wissen jetzt schon, dass Sie ausgewählt werden. Der Konzern glaubt, in Ihnen eine kompetente Führungskraft zu bekommen, aber er bekommt so viel mehr. Wenn es etwas gibt, das Sie haben wollen, dann bekommen Sie es. Egal, was der Arbeitgeber denkt, zu suchen, er weiß es eigentlich nicht, bevor er Sie getroffen hat. Die anderen Kandidaten haben nicht mal eine Chance, aber das wissen sie noch nicht. Sie wohnen alle zusammen im selben Hotel und sitzen da und zittern vor Angst, aber Sie haben sich dem entzogen, um vor dem entscheidenden Tag allein zu sein. Jetzt wollen Sie die Zeit so angenehm wie möglich verbringen. Und vielleicht ist es dem ein oder anderen glücklichen Mann erlaubt, heute Abend Ihre Gedanken zu zerstreuen."
Cecilie nickte anerkennend und hob ihr Glas. Nachdem sie sich zugeprostet hatten, tauchte der Kellner auf und begann, die Teller abzuräumen. Hatte sie wirklich schon aufgegessen? Der Teller war leer, also musste sie es getan haben. Sie hatte es nicht einmal bemerkt.
„Möchten Sie einen Nachtisch?"
Cecilie und ihr Tischherr schauten sich an.
„Nein danke", sagten sie im Chor.
Als Cecilie im oberen Stockwerk das Zimmer aufschloss, zitterten ihre Hände vor Spannung. Es hatte keinen