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Grenzgänge
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Grenzgänge

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In diesem Werk beschreibt Wilhelm König einen Einzelgänger und seine Erfahrungen mit Ost und Westdeutschland zu Zeiten der Teilung. Langsam aber stetig wird der Held Karl Simpel zu einem politisch bewussten Denken verleitet. Ein Umschulungslehrgang mit Flüchtlingen von der anderen Seite, eine sich anbahnende Beziehung mit einem Mädchen in der DDR und die immer zugrunde liegende Frage von Freiheit prägen seine Einstellung und die Dinge, für die Karl bereit ist sich einzusetzen.Wie der Name schon verrät, ist die Hauptperson dieser Trilogie Karl Simpel. Als eine Art schwäbischer Till Eulenspiegel sieht er die Welt durch seine ganz eigenen Augen und muss daher immer wieder lernen mit den Situationen umzugehen, die sich ihm präsentieren. Insbesondere die politischen Phasen, wie den Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands, erlauben ihm immer wieder zu lernen und zu wachsen.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateJul 22, 2019
ISBN9788711731406
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    Grenzgänge - Wilhelm König

    könig

    I

    Die Begegnung

    »Willy, Willy!« Die Menge jubelt, als der hohe Gast von drüben auf den Balkon des Hotels »Erfurter Hof« tritt. »Willy, Willi!« möchten auch wir mit einstimmen, meine junge Frau Brigitte und ich, die wir die Szene am Fernseher verfolgen. Doch hätte unsere Begeisterung beiden Männern gelten müssen, Gast wie Gastgeber, dem Mann aus dem Osten wie aus dem Westen, dem Willy mit »y« und dem Willi mit »i«.

    Schon seit dem frühen Morgen des 19. März 1970 geht es in allen Medien hierzulande um nichts anderes als um den ersten Besuch des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Willy Brandt, in dem nun doch längst faktisch vorhandenen zweiten deutschen Staat. In Erfurt wird der frühere Regierende Bürgermeister von Berlin (West) und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom Vorsitzenden des Ministerrats der Deutschen Demokratischen Republik, Willi Stoph, empfangen.

    Brandt winkt verstohlen – ja, es ist der gleiche Mann, der noch nicht vor langer Zeit, wie die Mehrheit der Wähler, den Feind der Menschheit und besonders Deutschlands nur auf der anderen Seite sah – vielleicht bis dahin auch sehen mußte.

    Und wieder schwillt der »Willy, Willy«-Chor drunten auf der Straße an. Das Volk mag nach Hunderten oder Tausenden zählen, und laß die Hälfte oder zwei Drittel davon Funktionäre, Polizisten und Staatssicherheitsdienstler sein: sie müssen sich freuen – andere dürfen sich freuen!

    Schon weit im Vorfeld gab es natürlich in der ganzen Republik Diskussionen um Sinn und Zeitpunkt dieser deutschdeutschen Begegnung. Und es wird weiterhin Auseinandersetzungen geben, quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten. Aber ich möchte mich nun nicht mehr daran beteiligen.

    Fünf Jahre ist es jetzt her, daß ich zum vorläufig letzten Mal in das Land hinter Mauer und Stacheldraht gereist bin. Ja, damals hatte ich auch Erfurt besucht, die Stadt, die jetzt Schauplatz dieser bedeutsamen Begegnung ist. Damals wurde ich als Spinner und Kommunistenfreund verlacht und verdächtigt. Und jetzt? Keine Reisen mehr ... aber nicht deshalb, weil das Leben nicht ausreichen würde, »über eine Wiese zu gehen«, wie ein hiesiger, bedeutender Künstler gesagt haben soll, einer, der selbst öfters den Schritt über die Grenze tut und, trotz inniger Heimatverbundenheit, stets den Blick über den Horizont schweifen läßt.

    Ich habe bis heute mehr als eine Wiese überquert – in verschiedenen Richtungen: im Frühjahr und im Herbst; im Heuet und zu der Zeit, in der auch ein Schäfer querfeldein seine Herde treiben darf.

    Ja, vorläufig keine Reisen mehr; nicht mehr blindlings fort, nur fort! Sondern bleiben, anhalten, um zu sehen und zu hören, was sich da noch bewegt oder bewegt hat, mir gar bis hierher gefolgt ist.

    Ja, ich höre und ich sehe, es ist etwas in Bewegung geraten. Vielleicht hat die Bewegung zu gleicher Zeit wie die meine und ohne mein Wissen neben mir her eingesetzt, ist insgeheim gar weitergegangen – in jedem Fall hätte ich richtig gehandelt, weil es an der Zeit war!

    Und es bewegt sich weiter, weniger an mir vorbei als um mich her. Das Land bewegt sich. Die Bundesrepublik Deutschland – diese Westzonen proben den Aufstand gegen sich und ihre Halsstarrigkeit und Uneinsichtigkeit gegenüber der »Ostzone«, der Deutschen Demokratischen Republik. Man reist nun allgemein mehr in dieses Land. So ist es auch ein wenig mein Wunsch, wenn ich nun stehenbleibe, zu genießen, zu sehen, und zwar von einem ruhigen, gesicherten Standpunkt in meiner Heimat aus, daß meine Einzelunternehmungen, meine mehr oder weniger instinktmäßig ausgeführten Vorstöße in dieses jenseitige, »kommunistische« und »russische« Deutschland einen Sinn hatten. Ich war unter den ersten; ich habe mich vorgewagt. Sicher auch wie ein Suchender und Getriebener – getrieben von was nur? –, der danach verlangt, einmal an einem Ort ganz bleiben zu können. Und das ist jetzt wieder die Heimat. Das mußte ich aber erst draußen erfahren, und zwar wörtlich er-fahren!

    Hier, in diesem Land

    Die erste Bekanntschaft mit der von mir seit langem schon im Widerstand zur damaligen Sprachregelung so genannten »Deutschen Demokratischen Republik« – ja, eben mit jener »Zone« irgendwelcher Verdrängungen und verschwiegenen Niederlagen – machte ich im Jahr 1961 von Heidelberg aus, wo ich mich seit dem 2. Januar am dortigen Berufsförderungswerk des Arbeitsamts Baden-Württemberg zur Umschulung als Technischer Zeichner des Allgemeinen Maschinenbaus aufhielt.

    Daß ich gerade diesen Lehrgang belegte, war reiner Zufall. Eigentlich hätte es, von meinem Schreinerberuf aus, mehr in Richtung Möbelzeichner oder Innenarchitektur gehen müssen. Doch als das Arbeitsamt diese Umschulung genehmigte – das war Ende 1960 –, hatte der Holzkurs bereits begonnen, und es blieb nur noch der Maschinenbau, ein Fach, mit dem ich mich bisher nicht befaßt hatte. Mir war’s gleich; ohnehin würde ich da nicht der einzige Berufsfremde sein, hieß es.

    So wie in den vergangenen fünf Jahren – wieder der Fünfjahresrhythmus! –, seit meiner glücklichen Heimkehr aus dem Heim im Allgäu, ging es auf alle Fälle nicht weiter: Monatelang arbeitslos; eine kurze Anstellung – dann krank! Manche meinten – vor allem wieder Tübinger Arzte –, ich sei, im besten Fall, gemütskrank. Das sei vermutlich eine Spätfolge meines Schlittenunfalls als Kind. Und ab und zu, in Zeiten tiefster Niedergeschlagenheit, glaubte ich selbst daran.

    Es war freilich nicht das Gemüt allein. Dafür hätte sich kein Kostenträger gefunden. Es war eher das Herz. Hinzu kam eine Allergie, die ich mir in der Schreinerei geholt haben mußte: Ich reagierte auf Leim und Schleifstaub mit Asthmaanfällen und Hautausschlägen. Noch im Winter 1959/60 hatte ich es in einer Möbelfabrik in Stuttgart-Bad Cannstatt versucht – versuchen müssen! Es folgten zwei kürzere Gastspiele als Pförtner und Fahrstuhlführer in Stuttgart-Mitte. Und von Frühjahr bis Sommer 1960 arbeitete ich abermals in einem Stuttgarter Kaufhaus. Dann gab ich auf und wartete den Bescheid des Arbeitsamts ab.

    Doch so einfach war das alles gar nicht. Um an diesem Umschulungswerk aufgenommen zu werden, mußte der Bewerber in seinem zuständigen Arbeitsamt eine Eignungsprüfung ablegen.

    Diese Eignungsprüfung bestand in der Hauptsache aus der Lösung von einfachen Rechenaufgaben sowie im Verknüpfen natürlicher Gegenstände und Erscheinungen nach dem Muster: »Pflanze verhält sich zu Baum wie Tier zu Hund« usw.

    Ferner waren geometrische Fragmente zu Ende zu zeichnen und ein wertloses Triebwerk aus Achsen, Rädern und Kolben vor den Augen des stummen Prüfers – eines älteren Doktors der Psychologie (oder Psychiatrie, ich weiß das heute nicht mehr so genau!) – zusammenzusetzen. Für jede Aufgabe war eine bestimmte Zeit vorgeschrieben. Wer unterhalb dieser Zeit blieb, sammelte Pluspunkte, die dem Kandidaten bei anderen, zeitraubenderen Aufgaben zugute kommen konnten.

    Zuvor war man vom Arbeitsamtsarzt untersucht worden. Ein Einarmiger mit Fronterfahrung. In meinen Augen war das kein Arzt, zum Heilen berufen. Eher war der dazu da, meinen Weg nach Heidelberg oder zu einer anderen Umschulung zu verhindern.

    Er untersuchte nicht viel. Erst schaute er mich an, warf einen Blick in die Akten, dann wieder auf mich.

    »Trauen Sie sich das zu?« fragte er. »Sie haben ja eine merkwürdige Vergangenheit!«

    »Wieso merkwürdig?«

    »Na, erst mimen sie den Dackel, dann erschießen Sie zwei Männer. Aber nicht irgendwelche, sondern gezielt zwei ehemalige Nazis, wie man das heute nennt.«

    »Mimen, sagen Sie?«

    »Nun, wenn es stimmt – dann ist die Umschulung doch vertane Zeit, und das Geld dafür hinausgeschmissen!«

    »Das Geld kommt ja nicht von Ihnen«, sagte ich.

    »Nein, sicher nicht; aber ich habe darüber zu wachen, daß es sinnvoll ausgegeben wird.«

    »Und im Krieg haben Sie auch immer gewußt, was sinnvoll ist, Herr Doktor?« fragte ich frech.

    Der Herr Doktor stutzte; runzelte die Stirn: »Aha! Daher weht der Wind. Habe ich es mir doch gleich gedacht.«

    »Was gedacht?«

    »Schluß der Debatte und der Untersuchung. Sie kriegen Bescheid. Ade!«

    »Ade, Herr Doktor. Für Sie ist wohl ein Dackel ein Dackel – und bleibt es sein Leben lang?«

    Keine Antwort ist auch eine Antwort, sagt man. Doch vielleicht hörte ich sie nicht mehr, weil ich in diesem Augenblick die Tür hinter mir zuzog. Und wenn ich ehrlich bin, wollte ich auch gar keine Antwort hören. Hoffentlich war das das letzte Mal, daß ich es mit dem zu tun habe – aber wer weiß, fuhr es mir durch den Kopf.

    Mein Kopf? Unbewußt legte ich die rechte Hand auf die Stirn – was ist mit dem? Ich kanns doch; ich schaffs doch – ich bin doch begabt genug?

    Ehe ich diese Prüfungen über mich ergehen ließ, hatte ich einen Berufsberater aufgesucht. Der kam schließlich auf die Idee mit dem Technischen Zeichner. Aber vorher hat er mich auch ausgefragt, hat in den Akten geblättert – woher die alle diese Unterlagen haben? Hier, in diesem Land und in dieser Gesellschaft, bist du für alle Zeiten registriert, abgestempelt, numeriert. Mitten im Aktenstudium schüttelte er immer wieder den Kopf. Schließlich klappte er den Ordner zu, holte tief Luft, stand auf, reichte mir die Hand und erklärte: »Also – wir probieren es! Es kann nur noch besser werden. Auf alle Fälle nicht schlechter – nehmen wir es mal an!«

    Ich bekam schließlich meine Umschulung und freute mich. Freute mich allein über die Tatsache, wieder rauszukommen: aus meinen Verhältnissen – aus dem Dorf; aus dem Tal. Ich fuhr mit dem Zug zunächst bis in die nächste Stadt, talabwärts, stieg dort um und fuhr durch bis Heidelberg. Auch die bezahlten Heimfahrten, auf die ich mich dann nicht weniger freute, bewältigte ich mit der Bahn.

    Ich hätte mit meinem Zimmer- und Lehrgangskollegen in dessen VW mitfahren können. Denn er stammte aus der Kreisstadt. Auf diese Weise hätte ich die Hälfte der Fahrtkosten frei gehabt, so wurde es auch in anderen Fällen geregelt. Aber ich wollte nicht. Erstens war die Mühle dauernd überladen, einerseits durch Ernsts – so hieß der Landsmann – eigenes Gepäck, dann durch den Kollegen, den er bis Pforzheim mitnahm, und dessen Gepäck. Zweitens war der Mann vom Krieg her hirnverletzt. Er litt unter Anfallen, so wie ich sie vom Heim her kannte. Die Anfalle – wöchentlich bis vierzehntäglich einmal – verliefen insgesamt sehr harmlos.

    Für kurze Zeit – etwa eine halbe Minute lang, schätzte ich – verdrehte er mitten im Gespräch die Augen und hörte und sah nichts mehr. Das Gesicht behielt immer den gleichen lächelnden Ausdruck. Ernst wußte um seinen unheilbaren, unveränderlichen Zustand, ertrug ihn jedoch mit Geduld und Humor. Da hatte ich im Allgäu schlimmere Fälle erlebt: da stürzten die Männer wie von der Axt gefällte Bäume zu Boden und krümmten sich, Schaum stand ihnen vor den Lippen. Auch sie erholten sich, standen auf und spazierten herum wie jeder andere, Gesunde.

    Daß Ernst und ich auf ein Zimmer kamen, war kein Zufall. Die Verwaltung dachte in diesem Fall wohl nach Landschaften und Regionen, und da wir beide aus einer Gegend kamen und vom selben Arbeitsamt geschickt wurden, war es nur folgerichtig, daß man uns zusammenlegte.

    Das war auch keine schlechte Entscheidung. Nur in seinen bis unter den Himmel vollgeladenen Donnervogel wollte ich ums Verrecken nicht einsteigen.

    Wir vertrugen uns bis zum Schluß sehr gut – freilich wurden wir keine Freunde. Lags am Altersunterschied? Er verkehrte nach Feierabend mit einer anderen Gruppe, Kollegen aus der Klasse. Manchmal stieß ich mit Karlheinz dazu. Und dann feierte die ganze Klasse auch mal gemeinsam. Gründe dazu gab es immer wieder: Lehrergeburtstag, bestandene Prüfung, Ausflüge.

    Ernst hatte stets eine Flasche Whisky im Spind – »Englischen Korn« nannte er ihn, sei es aus Jux oder wirklich zur Tarnung. Nach seinen Angaben benötigte er ihn vorwiegend zur »Entfäulung« seiner Kiefer und Kauwerkzeuge, bereits vor dem Frühstück, und er bot mir ebenfalls einen Schluck an. Manchmal griff ich zu, aber nie vor dem Frühstück. Er trug ein hartes amerikanisches Gebiß, das er vor dem Schlafengehen nicht aus dem Mund zu nehmen brauchte. Deshalb die besondere morgendliche Mundpflege.

    Die Gebäude waren damals noch ziemlich neu. Im allgemeinen wohnten alle zu zweit in zentralbeheizten Zimmern mit Blick auf die Straße und daran entlang aufgestellte Reihenhäuser. Nicht weit davon ein Flugplatz der Amerikaner. Nachts konnte man – auch mit weniger feinfühligen Ohren – das Rauschen der Autobahn hören. Auf dem Flugplatz landeten nur kleine Maschinen, die aber sicher so laut wie größere waren und eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts darstellten. In den kleinen Pausen hielt man sich im Gang auf, die Raucher rauchten, öffneten die Fenster und blickten auf diesen Flugplatz. Zu den großen Pausen zog man hintereinander in den Speisesaal hinüber und schlürfte eine Fleischbrühe, pumpte sich mit Tee voll oder blies den Dampf von einer Tasse Kaffee. So lebte man miteinander in trautem Einverständnis, hoffte auf eine wirkliche Umkehr der Verhältnisse nach diesem Lehrgang, war gespannt, ob diese Zeit auch staatlich anerkannt wurde, und fühlte sich, durch das massenhafte Auftreten vergangener und gegenwärtiger Krankheiten, im Grunde wie ein Gesunder.

    Alle waren sie auf eine Art »beschädigt«, die sich hier aus der ganzen Republik zusammengefunden hatten: Dem einen fehlte eine Hand oder ein ganzer Arm, dem andern ein Fuß oder ein halbes Bein; ein dritter bekam Anfälle – so wie Ernst –, hatte es am Herz oder litt unter einer Allergie, wie Friedhelm, der Kräutermann (so nannten wir ihn, weil er den ganzen Tag mit Kräutern und Arzneien beschäftigt war) und ich. Ach, und was mochte da noch alles beim einzelnen aus den Fugen geraten sein!

    Das waren Leute wie ich: Handwerker, Büroangestellte, Kriegsteilnehmer – auch zwei ehemalige Kellner waren darunter. Jeder von ihnen hatte beim heimatlichen Arbeitsamt die gleiche Eignungsprüfung ablegen müssen: Strich, Zahl – Zahl, Strich! So auch Karlheinz, mein Brettnachbar in der Klasse. Er war in Heidelberg so etwas wie mein Freund und Kamerad. Wir spielten miteinander auch Schach, oft bis in die Nacht hinein, waren zeitweise geradezu schachsüchtig, wenn es das gibt. Es muß es geben, denn wir saßen oft bis nachts um drei im Aufenthaltsraum.

    Karlheinz war ein paar Jahre älter als ich und hatte ein lahmes Bein; das steckte in einem Stahlmieder und war noch dünner als ein Arm. Die Haut war gerötet, Kniescheibe und Kniegelenk gegenüber Schenkel und Wade übermäßig ausgebildet. Er hatte Bauschlosser gelernt. Mit 19 Jahren erlitt er einen Betriebsunfall. Auf der Baustelle wurde er unter einem herabstürzenden schweren Warmwasserkessel begraben. Er war mehrere Wochen bewußtlos. Die Ärzte hatten ihn schon aufgegeben. Danach war er Vollrentner, wurde von Heim zu Heim, von Kur zu Kur gestoßen. Dann ein paar Jahre zu Hause – die Mutter pflegte ihn (ach, immer die Mütter!); jetzt war er hier. Er wollte wieder etwas arbeiten, und vielleicht war das ein Einstieg. Wir nannten ihn nur den Seemann, obwohl er nie zur See gefahren war. Aber er hatte davon geträumt, einmal auf einem Überseedampfer zu fahren. Er stammte aus Hannoversch Münden – »wo Fulda und Werra sich küssen/und es in der Weser büßen müssen«, lernte ich von ihm. Ja, doch: er hatte schon auf Schleppkähnen gestanden und mit Seeleuten verkehrt; es gab Ausreißversuche nach Hamburg und Bremen. Diese Zeit hatte zumindest sprachlich abgefärbt – zuerst auf ihn, und von ihm auf mich! Wenigstens in Einzelheiten.

    Man hatte sich sehr schnell eingefügt in die neue Gemeinschaft, einem Spiegelbild der Gesellschaft im allgemeinen, mit dem Unterschied jedoch, daß man sich hier als Gleicher unter Gleichen fühlen konnte. Das verlief ohne einen verzögernden Höflichkeitsaustausch. Jeder hatte ein Recht, hier zu sein, und jeder nahm dieses Recht auch für sich in Anspruch. Niemand wies uns jetzt die Plätze an. Aber dann kamen wir von den Stühlen nicht mehr los, auf die wir uns einmal gesetzt hatten. Der Ausschnitt, den man im Zeichensaal oder Speisesaal vom Viereck der Häuserblöcke wählte, blieb. Der Gemeinschaftsraum, in dem sich die Männer – keine Frau – zum Kaffee oder Tee morgens und nachmittags, am Mittag zum Essen und nach Unterrichtsschluß trafen, nahm einen ganzen Gebäudeflügel ein. In den Zwischenpausen saßen wir an verschiedenen Tischen. Anders am Mittag und Abend. Das änderte sich erst im Laufe der Zeit, dann hockten auch immer die gleichen beieinander. Das war aber nicht vorgesehen. Das ergab sich. So wie wir uns schon die Bretter im Zeichensaal nicht bewußt herausgesucht hatten. Am nächsten Tag fanden wir uns auf unseren Plätzen und blieben da bis zum Schluß. Und staunen konnte man darüber, wie wir schon nach kurzer Zeit diese uns zuvor fremden Plätze verteidigten. Irgendwie setzte sich hier etwas fort, das draußen schon begonnen hatte. Oder es war hier halt nicht anders als draußen.

    Verschiedene Systeme

    Die Ausbildung erfolgte nach dem Berufsbild des Technischen Zeichners. Neben der theoretischen Schulung wurde besonderer Wert auf das Ausführen praktischer Arbeiten gelegt. Verschiedene Stoffgebiete wurden behandelt: Normgerechtes Zeichnen, darstellende Geometrie, Fachrechnen, Rechenschieberrechnen, Fachkunde, Werkstoffkunde, Maschinenelemente und Werkstattpraxis (Bescheinigung des Berufsförderungswerks e.V.).

    Die Werkstatt – ein flacher, ebenerdiger Betonbau, der den offenen Winkel des Berufsförderungswerks gegen die Stadt Heidelberg hin halbwegs abschloß, war erst in unserer Zeit betriebsfertig geworden. Hier fielen wir an einem Vormittag und an einem Nachmittag in der Woche ein und beobachteten unsere ausgebildeten Mitschüler an den Maschinen: Drehbänke, Bohrmaschinen (Metallbohrmaschine: Radialbohrmaschine), spanabhebende Metallbearbeitungsmaschinen, spanabhebendes Werkzeug; die Drehbank (Schnelldrehbank, Metalldrehbank): das Schaltgetriebe (der Spindelstock), der Vorlegeschalthebel, der Hebel für Normal- und Steilgewinde, der Hebel für das Leitspindelwendegetriebe, die Drehzahleneinstellung, der Wechselräderkasten (Vorschubgetriebekasten, das Nortongetriebe)... die Nortonschwinge, ein Stellhebel, der Einschalthebel für Rechts- oder Linkslauf der Hauptspindel, der Drehbankfuß ... die Verstellspindel, mit Kurbel ... die Fallschnecke, zum Einschalten der Vorschübe, der Hebel für das Mutterschloß der Leitspindel ... der Längssupport, der Quersupport ... Kühlmittelzuführung, die Pinole, der Pinolefeststellhebel, der Reitstock, die Reitstockspitze, das Pinoleverstellrad, das Drehbankbett ... die Spannut, die Spannbacke ... der Mitnehmerklemmring... das Drehherz... Drehstähle, der Schruppstahl, der Schlichtstahl... Werkzeugkunde, Werkstoffkunde ... neu damals: ein Indexautomat.

    Fortsetzung Fachkunde: Gewicht und Wichte. Punkt 1.

    »Die Erde übt auf jeden Körper eine Anziehungskraft aus (Schwerkraft). Das Einwirken der Anziehungskraft auf einen Körper nennt man Gewicht. Die Maßeinheit ist das ...«

    Das Gebiet Fachkunde wurde zunächst von unserem Zeichenlehrer, einem frühergrauten, trinkfesten Sportwagenfahrer, locker weitergeführt. Bis zur Übernahme dieser Unterrichtsstunde durch einen jungen Ingenieur. Er gab sich von Anfang an sehr ungezwungen – nachmachbare Haltung: linker oder rechter Ellbogen auf der Fensterbank abgestützt und in den Raum nasalierend: er versuchte den Eindruck zu vermitteln, als begänne er hier nichts Neues. Sondern führe nur eine etwas vernachlässigte Übung weiter. Tatsächlich war dies hier sein erster »Lehrauftrag«. Es sollte ihm nicht schwergemacht werden, solange er einsah und durch Handhabung des Belehrungsvorgangs bewies, daß er es ausschließlich mit »erwachsenen« Männern zu tun hatte. Der minderjährige Kellner wurde stillschweigend mit eingeschlossen. Herrn Knorr – »Sie können ruhig rauchen, meine Herrn, wenn Sie es unbedingt brauchen; ich hab’ nichts dagegen ... Ich stamme aus Mannheim, bin dort geboren, zur Schule gegangen, Realschule, aufgewachsen, Ingenieurstudium, ein Jahr Praktikantenzeit in den USA; die sind schon viel weiter dort als wir«, so hatte er sich uns in der ersten Stunde rauchend vorgestellt – wurde sodann auch das Fach »Rechenstab« übertragen. Jede Veränderung im Schulablauf teilte uns der Vertreter des Arbeitsamtes mit, der – mit Blick auf den Innenhof des Gebäudevierecks – zwischen den Schulräumen sein Büro hatte. Sekretärin, an die Schreibmaschine gekettet. Wenig beschriftete Ordner. Dafür verläßliches Gedächtnis. »Die Unterlagen sind in der Stadt ...« Herr Knorr gab sich einen Ruck. Mit ein paar seitlichen Ausschlägen war er an der Tafel. Die Kreide flog ihm voraus: »Damit es etwas anschaulicher wird, empfehle ich die Verwendung von Farben ... In den Staaten waren die Arbeitsbedingungen im wesentlichen nicht sehr viel anders, meine Herrn, dafür zielgerichteter; wer in den ersten Wochen nicht folgen konnte, blieb auf der Strecke, das war das Ausleseprinzip ... Wir aber leben in der Bundesrepublik. Es ist vielleicht gut so, möchte ich sagen ... Bitte, meine Herrn, beginnen Sie mit Blatt 1. Punkt 1: Allgemeines zum Rechenschieber. Der Rechenschieber ist ein sehr altes Rechenhilfsmittel. Man kannte seinen grundsätzlichen Aufbau schon im 17. Jahrhundert ... Kennen Sie denn den, meine Herrn: seit der Krieg aus ist, gibt es wieder Läuse in Deutschland ... hahaha! – Es gibt verschiedene Systeme ... Wir benutzen einen Rechenschieber des Systems Darmstadt in vereinfachter Weise ... Sein großer Vorteil liegt darin – sage ich es zu schnell? –, daß er eine versetzte Skala hat ... Siehe später!«

    Schon während des Empfangs durch den Direktor und deutlicher während der Aufteilung der Ankömmlinge auf die einzelnen Lehrgänge war von jemandem der Zweifel in Umlauf gesetzt worden, wie denn der Abschluß am Ende des Jahres aussehen werde. Es war ein formales Problem zunächst: Zeugnis oder Bescheinigung, das hieß Anerkennung oder nur Beachtung. Wirklich erhielten wir am Ende dieser Zeit nur eine »Bescheinigung« ausgehändigt ... »Habe ich es euch nicht von Anfang an gesagt –?«

    Wer hatte es denn gleich gewußt? Es war Friedhelm, der Kräutermann; der Heilgehilfe. Täglich drehte er seine Runden über den Platz Heidelberg und Umgebung. Keine Himmelsrichtung war vor ihm sicher. Er brauche die Bewegung, versicherte er immerzu; sie sei ihm sozusagen verordnet. Wirklich litt er an einer nie näher bekanntgemachten Überempfindlichkeit. Am Ende einer Schulstunde wirkte er blaß und blutleer; er zeigte uns seine Hände: Die Finger mit den großen Nägelflächen schienen abgestorben. Wenn er sich auch nicht selbst helfen konnte, so beschrieb er seine Beschwerden doch sehr genau und beurteilte auch die Krankheiten anderer. Er nannte sogar bestimmte Arzneien; medizinische Fachausdrücke gehörten zu seinem Sprachschatz. Während er zwischen den Feldern hindurchraste – meistens wurde er von seinem älteren, aber leichtfüßigen Zimmerbruder begleitet –, warf er sich von Zeit zu Zeit eine Tablette in den aufgesperrten Mund. Ohne anzuhalten. Es handelte sich vorwiegend um homöopathische Mittel, die ohne Wasser oder eine andere Flüssigkeit und in regelmäßigen Abständen einzunehmen waren. In dem ganzen Jahr, während ich täglich mit ihm zusammen war, nahm er ständig irgendein Mittel ein. Nie hatte ich ihn davon sprechen hören, daß sein Leiden nach einer gewissen Zeit verschwinden würde. Er selbst betrachtete sich keineswegs als Kranken. Denn krank war irgendwie jeder – hatte eine Neurose, litt unter einem Komplex –, und er war nicht schlimmer krank als alle andern. Wenigstens diejenigen andern, mit denen er es hier zu tun hatte. Er stammte aus Gelsenkirchen, wie sein Mitsprinter. Sie hatten dort beide als Schlosser gearbeitet; aus diesem Beruf brachten sie auch ein wenig materialtechnische Erfahrung mit. Jedoch fand sich keiner von ihnen an der Spitze. Beide trampelten redlich durch das Mittelfeld; hier fühlten sie sich wohl, und sie wären sogar eine Pedaldrehung zurückgegangen, wenn es einmal den Anschein gehabt hätte, daß sie ein Schwung weiter nach vorne tragen würde. Immerhin hatte es Gründe gegeben, weshalb ihnen diese Ausbildung genehmigt worden war. Daran zweifelte niemand. Nicht mal die beiden selbst. Und keiner unter den Mitstreitern. Wenn es auch Bedenken hätte geben müssen, gerade bei Friedhelm. Man nannte ihn auch den »TT«! Das bedeutete: »Tarnen und Täuschen«. Dieses Schlagwort hatte er in der Klasse eingeführt. Er meinte damit eine grundsätzliche Zurückhaltung und das Verschweigen der eigenen, eigentlichen Fähigkeiten!

    Über seine Zukunft hatte er bereits feste Vorstellungen. Nie hatte er ernsthaft vorgehabt, sein weiteres Leben nun als Technischer Zeichner zu verbringen. Vielmehr dachte er an eine bequemere Tätigkeit, die neben einem geringeren persönlichen Einsatz auch mehr Gewinn einbrachte. Er hatte genug »malocht« und kaum »Moneten« übrigbehalten. Mir gegenüber hatte er seinen Plan entwickelt: in Gelsenkirchen wolle er einen handwerklichen Kundendienst aufziehen, der sich auf Haushalte verlegte. Hier sei eine große Lücke vorhanden, wies er mir nach. Es müßte nun so gehen, daß er ausschließlich am Telefon saß, die Anrufe entgegennahm und seine Mitarbeiter einteilte. Er versprach sich allen Ernstes Reichtümer aus diesem Geschäft. Wir wollten es nicht bezweifeln, bevor der Versuch gemacht war.

    Er berichtete uns auch von seinen früheren Vorhaben. Aufgrund seiner Neigungen hatte er an eine Ausbildung als Heilpraktiker gedacht. Er erwähnte eine entsprechende Fachschule in München. In diesem Beruf eines Heilpraktikers, so meinte er, sei eine Menge »Moos« zu machen. Bei kleinem körperlichem und geistigem Aufwand. Eigenkapital sei nicht erforderlich. Auf diese Seite seiner Unternehmungen mußte er besonders achten. Später gewöhnte man sich an seine Aussetzungen, unterstellte ihm sogar Miesmacherei; aber dies auch nur aus Furcht, daß an seinen Allerweltszweifeln doch etwas Wahres sein könnte. Als die Papiere vorlagen und man die Wahrheit schwarz auf weiß sah, war Friedhelms Hellseherei schon vergessen. Er selber schwamm in der allgemeinen Aufbruchstimmung. Ganz sicher würde ihm nur das Extralied in der Bierzeitung sein, mit

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