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Mit dem Wind nach Westen: Die abenteuerliche Flucht von Ost nach West
Mit dem Wind nach Westen: Die abenteuerliche Flucht von Ost nach West
Mit dem Wind nach Westen: Die abenteuerliche Flucht von Ost nach West
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Mit dem Wind nach Westen: Die abenteuerliche Flucht von Ost nach West

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Packende Geschichte über eine der spektakulärsten Fluchten aus der DDR!
September 1979. Um dem verhassten Regime der DDR zu entkommen, planen zwei Männr aus Thüringen ihre Flucht. In einem selbstgebastelten Heißluftballon wollen sie mit ihren Familien in den Westen fliehen. Doch der erste Versuch misslingt. Die Flüchtenden können zwar unerkannt entkommen, aber die Staatssicherheit ist ihnen auf den Fersen. Mit einem zweiten Ballon starten die Familien schließlich einen neuen Versuch und landen in der Nacht des 16. Septembers 1979 tatsächlich in der BRD.
Petschulls nach den Original-Tonbandprotokollen aufgezeichneter Tatsachenbericht ist zugleich Abenteuerbuch, Politthriller und ein spannend vermitteltes Dokument deutscher Zeitgeschichte. 1982 diente Petschulls Buch über diese wohl spektakulärste "Republikflucht" als Vorlage für den gleichnamigen Walt-Disney-Spielfilm unter der Regie von Delbert Mann.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateDec 1, 2019
ISBN9788726350937
Mit dem Wind nach Westen: Die abenteuerliche Flucht von Ost nach West

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    Mit dem Wind nach Westen - Jürgen Petschull

    www.egmont.com

    Vorwort

    Kein Zweifel, es war die abenteuerlichste Flucht in der Geschichte des geteilten Deutschland. Zusammengepfercht auf einer winzigen Gondel, getragen von einem riesigen, selbstgenähten Ballon, überquerten zwei Familien unter sternklarem Himmel die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen den Machtblöcken in Ost und West.

    »Acht Menschen mit Heißluftballon aus der DDR geflüchtet«, berichtete per Eilmeldung am Sonntag, dem 16.September, die »Deutsche Presse Agentur«. Die Nachricht ging um die Welt. Überall im Westen – von Amerika bis Australien, von Finnland bis Südafrika – wurde das anscheinend unglaubliche Ereignis verbreitet und kommentiert. Und überall im Osten peinlich verschwiegen.

    Eine Portion Schadenfreude war im Westen wohl auch dabei – platzte die Ballonflucht doch mitten in die Vorbereitungen zur größten Jubelveranstaltung der DDR, die unter dem Motto »Größte Leistungsschau des Sozialismus auf deutschem Boden« gerade ihren 30. Jahrestag feiern wollte. Vor diesem Hintergrund geriet die symbolträchtige Ballonfahrt der Familien Strelzyk und Wetzel aus der kleinen Stadt Pößneck in Thüringen in die kleine Stadt Naila in Oberfranken zum weltweiten Politikum.

    Für die »New York Times« sprach »die Flucht zweier Familien mit einem Ballon Bände über die politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Verhältnisse in der DDR«.

    Die »Süddeutsche Zeitung« wertete das Ereignis als »unerhörte Tat, die einen bitterbösen Kommentar auf die Verhältnisse im Herzen Europas schreibt; zugleich freilich ist sie eine Hymne auf die Freiheit«.

    Der gewöhnlich auch bei ernsten Angelegenheit zu Ironie neigende »Spiegel« pries das Geschehen diesmal mit ungebremster Begeisterung: »Die Ballonflucht stellt an schierer, vorbedachter Tollkühnheit nun wirklich alles in den Schatten, was unsere hochbezahlten Stuntmänner, Risikosportler und Abenteurer zu bieten haben.«

    Die so bejubelten Flüchtlinge sehen das anders: »Warum muß man unbedingt einen Beweis unseres Heldentums finden?« überlegt sich der Ballonfahrer Peter Strelzyk, früher SED-Mitglied und »Verdienter Aktivist des sozialistischen Wettbewerbs«. Er fragt: »Ist es heldenhaft, frei sein zu wollen?« Und er stellt fest: »Unser Drang zur Freiheit war jedenfalls größer als unsere Angst.«

    Dieses Buch entstand nach wochenlangen Gesprächen mit den Flüchtlingen und nach zusätzlichen Recherchen in Ost und West. Es schildert die dramatische Ballonflucht und ihre Hintergründe, und es gibt einen Einblick in das Alltagsleben in der DDR. Aber es kann nicht objektiv sein. Denn es schildert die Verhältnisse drüben aus der Sicht von Menschen, die gute Gründe hatten, den »ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden« zu verlassen. Sie fühlten sich unfrei und unterdrückt. Sie hoffen im Westen die Freiheit zu finden.

    Viele Menschen drüben denken wie die Strelzyks und die Wetzels, viele würden über die Grenze wechseln, hätten sie die freie Wahl – gäbe es nicht Mauer und Minen, Stacheldraht und Selbstschußanlagen. Aber nicht alle. »Wir vergessen manchmal«, schrieb meine Kollegin Eva Windmöller ¹ , zwei Jahre lang Korrespondentin des »Stern« in der DDR, »daß sich die Mehrheit der 17 Millionen Menschen mit der ihr aufgezwungenen Gesellschaftsordnung arrangiert hat. Den meisten ist die DDR Heimat geworden – so wie sie ist, so verbesserungsbedürftig wie sie ist.«

    JP

    1

    Tagsüber war es drückend schwül, so daß empfindliche Leute Kopfschmerzen bekamen. Am späten Nachmittag strömte eine Kaltfront aus Norden ein und schob die warmen Luftmassen gegen die Berge des Thüringer Waldes. Am frühen Abend entlud sich ein heftiges Gewitter. Erst quirlten Windböen kleine Schaumkronen auf das Wasser der Saale; dann drückten schwere Regengüsse das noch nicht abgeerntete Korn auf den Feldern platt; dann fuhr der Sturm in die hohen Fichtenwälder, und an der »Staatsgrenze West« spaltete ein Blitz eine meterdicke deutsche Eiche – nicht weit vom Minengürtel entfernt.

    Ebenso schnell, wie es gekommen war, legte sich das Unwetter. Blitz und Donner zogen über die Berge ab. Zurück blieb ein blanker, fast wolkenloser Himmel. Jetzt, eine Stunde vor Mitternacht, ist es sternenklar. Ein schmaler Mond hängt über der kleinen Stadt Pößneck in Thüringen.

    In einem Haus in der Tuchmacherstraße haben an diesem 15. September zwei Männer gespannt die Entwicklung des Wetters beobachtet und die Vorhersagen in Radio und Fernsehen verfolgt. Zuletzt meldet der »Zentrale Wetterdienst Potsdam« die weiteren Aussichten für die Deutsche Demokratische Republik: »Am Rande eines skandinavischen Tiefdruckgebietes wird weiterhin kalte Meeresluft polaren Ursprungs in unser Gebiet geführt. Bei klarem Himmel gehen die Temperaturen nachts bis auf drei Grad zurück. In Bodennähe kann örtlich leichter Frost bis minus zwei Grad auftreten ...«

    Der eine Zuhörer sagt: »Das hört sich doch prima an. Ich glaube, heute Nacht kann es endlich losgehen.«

    Der andere antwortet: »Es sieht gut aus, aber laß uns lieber noch mal den Wind kontrollieren.«

    Die beiden Männer ziehen festes Schuhwerk und Pullover an, bevor sie das Haus verlassen. Der eine trägt eine braune Kunstlederjacke, der andere eine graue Windjacke. Sie fahren in einem blauen Wartburg mit weißem Dach, ostdeutsches Kennzeichen NK-9743, durch stille Straßen aus der Stadt hinaus und weiter über eine schmale Landstraße in Richtung Süden. Ein gleichmäßiger Wind hat die Fahrbahn schon wieder trocken gefegt. Hinter den Ortschaften Wernburg und Ludwigshof biegen sie nach links in einen holprigen Schotterweg ab. Im zweiten Gang kriecht der Wartburg die Bahrener Höhe hinauf. Unterhalb dieser 600 m hohen kahlen Bergkuppe erlöschen die Scheinwerfer des Wagens.

    Die beiden Männer steigen aus und gehen die letzten Meter zu Fuß gegen einen starken, aber nicht stürmischen Wind an. Dann blicken sie über das in blasses Sternenlicht getauchte Land zu ihren Füßen. Im Nordwesten, in knapp 30 km Luftlinie, können sie noch den Widerschein der Lichter von Weimar erkennen. Genau im Norden, gut 20 km entfernt, liegt Jena. Rechts daneben, im Nordosten, die Bezirksstadt Gera. Im Süden sind nur vereinzelte Lichtpunkte auszumachen; sonst zeichnet sich in dieser Richtung nur dunkle Landschaft unter dem helleren Himmel ab, sanfte Höhenzüge, Wälder und Felder – das südliche Grenzgebiet der Deutschen Demokratischen Republik.

    Der Mann mit der Kunstlederjacke befeuchtet seinen rechten Zeigefinger mit Spucke und hält ihn prüfend hoch. Der andere wirft ein paar helle Wollfäden in die Luft. Beide beobachten im Schein einer Taschenlampe, in welche Richtung die Fäden davongetrieben werden. Dann leuchten sie auf einen einfachen Kompaß. Der Wind weht aus Nord-Nord-Ost nach Süd-Süd-West – genau in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Die Windgeschwindigkeit, so schätzen die beiden Männer, beträgt etwa 30 bis 40 Stundenkilometer. Sie sind mit ihrem Test zufrieden. Der mit der Kunstlederjacke sagt: »Vom Startplatz aus müßten wir nach 20 bis 30 Minuten Flugzeit drüben sein.«

    Es ist kurz vor Mitternacht. Ein ganz gewöhnlicher Sonnabend geht in beiden Teilen Deutschlands zu Ende, keine besonderen Vorkommnisse in Ost und West.

    Nachrichten aus der Bundesrepublik: Der deutsche Fußballmeister HSV schlägt den 1. FC Kaiserslautern im Spitzenspiel der Bundesliga mit 1:0. – Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff sieht »keine Gefahr für das wirtschaftliche Wachstum der Bundesrepublik«. – Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Josef Kardinal Höffner hat »erneut die Auffassung bekräftigt, daß der legale Schwangerschaftsabbruch als Mord anzusehen ist«. – Die »Bild«-Zeitung berichtet auf ihrer ersten Seite über einen Einbruch in die römische Luxusvilla des Filmstars Claudia Cardinale und über einen Auftritt des Künstlers Hardy Krüger in der Münchner Nachtbar »Intermezzo«; der habe dort im Suff ein »schweres Silbertablett mit Getränken auf die beleuchtete Tanzfläche« geschleudert.

    Nachrichten vom Tage aus der Deutschen Demokratischen Republik: Das »Neue Deutschland«, das »Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei«, meldet auf der ersten Seite: »Leonid Breschnew besucht die DDR zum 30. Jahrestag.« – Der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, überbrachte »zum Tag der Werktätigen des Bereiches der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen« seine sozialistischen Grüße und Glückwünsche. – Auf Seite zwei steht, »der Bürger der BRD Bernhard Twiehoff« sei als »Grenzverletzer« festgenommen und »zur Prüfung der näheren Umstände den zuständigen Organen« übergeben worden. – Der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, und der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, gratulieren dem Generalgouverneur von Papua-Neuguinea Sir Tore Lokoloko zum Nationalfeiertag. – Im Spitzenspiel der DDR-Fußballoberliga schlägt an diesem Sonnabend der FC Carl-Zeiss-Jena den 1. FC Magdeburg mit 3:2.

    Es ist schon nach Mitternacht, schon Sonntag der 16. September, als der blau-weiße Wartburg von der Bahrener Höhe zurück in die Stadt Pößneck fährt. Am Steuer sitzt der Mann mit der Kunstlederjacke: Peter Strelzyk, 37 Jahre alt, früher Luftfahrtmechaniker, zuletzt selbständiger Elektromonteur, verheiratet, zwei Kinder. Der Mann auf dem Beifahrersitz ist Günter Wetzel, 24 Jahre alt, Maurer und Kraftfahrer von Beruf, auch verheiratet, ebenfalls zwei Kinder.

    Die beiden Männer sind schweigsam und nachdenklich. Aufmerksamer als sonst – so werden sie später erzählen – betrachten sie im Vorüberfahren die vertrauten Straßen und Gebäude ihrer Heimatstadt. Am Ortseingang erfassen die Scheinwerfer das Schild »Pößneck grüßt seine Gäste«. Wenig später fällt schwaches Laternenlicht am grauen Gebäude der SED-Kreisverwaltung auf den Leitspruch der Partei: »Vorwärts unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin.«

    Die Straßen der Innenstadt sind um diese Zeit menschenleer. In den Schaufenstern brennt kein Licht. Selten kommt ihnen ein Auto entgegen. Nur im »Café Dittmann« hinter dem »Hotel Posthirsch« ist noch was los. Hier schwingt wie immer in der Nacht zum Sonntag die reifere Jugend das Tanzbein, diesmal zu den fröhlichen Klängen einer Kapelle, die sich »Dance« nennt.

    Als sie am Marktplatz und am »Kaffee Neubert am Markt« vorüberkommen, denkt Peter Strelzyk daran, daß er hier zum erstenmal einem Lehrmädchen namens Doris nähergekommen ist. Die Kapelle spielte »Tanze mit mir in den Morgen«. Nun sind sie bald 16 Jahre verheiratet.

    Am gotischen Rathaus fällt Günter Wetzel ein, daß hier im Standesamt seine »sozialistische Eheschließung« vollzogen worden ist. »Petra hatte sich zur Hochzeit ein teures weißes Kleid mit Blumenstickereien machen lassen, dafür waren unsere Ringe billiger, die sind aus Golddoublé und haben 35 Mark das Stück gekostet.« Die Hochzeit war vor fast sechs Jahren. Nun ist ihr Sohn Peter schon fünf Jahre alt, der kleine Andreas wird zwei. Er sagt: »Komisch, daß man in solchen Situationen plötzlich an solche Sachen denkt«.

    In dieser Nacht soll wahr werden, wofür sie gearbeitet, ihr Geld geopfert und hohe Gefängnisstrafen riskiert haben:

    Die beiden Männer werden in dieser Nacht ihr Leben aufs Spiel setzen und das ihrer Frauen und Kinder – sie wollen mit dem Wind nach Westen.

    2

    In der Tuchmacherstraße 22 warten die Frauen und Kinder. Sie haben in der guten Stube im ersten Stock im Westfernsehen den Spielfilm »Angélique« gesehen und danach in »Radio DDR I« die Musiksendung »Tanze mit bis Mitternacht« gehört. Die kleine Quarzuhr im Schrankregal zeigt bereits 0.30 Uhr, als die Männer von ihrem Ausflug zurückkommen.

    Petra Wetzel brüht noch einmal Kaffee auf, »keinen Muckefuck, richtigen guten Bohnenkaffee aus dem Delikatess-Laden«. Für die großen Kinder, für den 15jährigen Frank Strelzyk und seinen elfjährigen Bruder Andreas, gibt’s Tee. Der fünfjährige Peter Wetzel bekommt heißen Kakao, und dem noch putzmunter zwischen den Erwachsenen rumlaufenden zweijährigen Andreas flößt Petra Wetzel dreißig Baldriantropfen zur Beruhigung ein, die sie zuvor in heißem Zuckerwasser aufgelöst hat, damit es nicht so bitter schmeckt.

    Die Männer sprechen sich noch einmal Mut zu. »Eigentlich kann gar nicht viel schiefgehen«, sagt Peter Strelzyk. »Wenn sie uns schnappen, dann kommen wir eben alle für eine Weile ins Gefängnis, aber dann werden wir nach einiger Zeit bestimmt ausgetauscht. Die machen jetzt doch mit der Bundesrepublik diesen Menschenhandel auf Devisenbasis.«

    Wie die Wetzels haben auch die Strelzyks ein eigenes Haus in Pößneck. Sie fahren ein eigenes Auto, sie besitzen ein Fernsehgerät, einen Kühlschrank und eine Waschmaschine. Sie gehören zum gehobenen Mittelstand der DDR. Bei der letzten Tasse Kaffee in der alten Heimat sagt Doris Strelzyk: »Manchmal frage ich mich doch noch, warum wir das alles aufgeben und abhauen – anderen geht es doch viel schlechter als uns.«

    Ihr Mann Peter Strelzyk, der Wortführer der Gruppe, macht sich indessen schon Gedanken darüber, »wie ich denen drüben möglichst kurz und bündig klarmachen kann, warum wir es nicht mehr in der DDR ausgehalten haben«. Schließlich hat er seine Antwort-Formel gefunden. Er sagt: »Weil wir endlich als freie Menschen und nicht mehr länger als Eigentum eines totalitären Regimes leben wollen und weil uns die Zukunft unserer Kinder am Herzen liegt ...«

    So oder ähnlich begründen die meisten der mehr als 180000 DDR-Flüchtlinge, die seit dem Bau der Mauer in der Bundesrepublik registriert worden sind, ihren Absprung in den Westen. Peter Strelzyk hat da nichts Neues zu bieten. Er hat keinen bestimmten Grund. Er ist nicht politisch verfolgt oder persönlich bedroht; er habe, so sagt er, statt dessen viele Gründe – die Erfahrung seines Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik.

    Seine Bilanz summiere sich einerseits zu einem gewissen materiellen Wohlstand. Dem stehe jedoch eine wachsende Steigerung von Skepsis zu Mißmut, von Unbehagen zu Enttäuschung, von Zweifel zu Verzweiflung, von unterdrücktem Zorn zu ohnmächtiger Wut gegenüber. Peter Strelzyk fühlt sich schließlich von den Machthabern, von der Einheitspartei, von den Funktionären, von dem »ganzen gleichgeschalteten System entmündigt und unterdrückt«. Er sagt: »Am Ende empfand ich das ganze Leben als eine einzige geistige Vergewaltigung.«

    Peter Strelzyk ist an diesem Tag genau 37 Jahre und einen Monat alt. Er sieht nicht älter aus, als er ist, aber er wirkt abgespannt und nervös, wie einer, der schon unter Magenbeschwerden leidet und aufpassen muß, daß kein Geschwür daraus wird. Er ist schlank, fast mager. Schatten liegen unter seinen braunen Augen. Markante Falten ziehen sich von der Nase zu den Mundwinkeln herab. Der dünne, dunkle Bart läßt sein Gesicht schmal und blaß aussehen. Er raucht zuviel, meist mehr als 50 Filterzigaretten Marke »Cabinett« pro Tag. Er wiegt bei seiner Größe von 1,75 m mit 64 Kilo zuwenig. »Ich bin nicht kräftig, aber zäh. Ich kann körperlich einiges aushalten.«

    Noch vor zwei Jahren, so ist im Familienalbum nachzusehen, sah Peter Strelzyk zehn Jahre jünger aus. Da ist ein flotter junger Mann mit modisch langgeschnittenem Haar abgebildet, bartlos, mit einem fröhlichen Grinsen im vollen Gesicht. Nun spricht Peter Strelzyk leise und bedacht; oft macht er längere Denkpausen, bevor er auf Fragen antwortet, wie einer, der fürchten muß, daß ihm jedes Wort falsch ausgelegt werden kann – aber auch wie jemand, der gewohnt ist, daß man ihm zuhört. Er spricht Thüringer Dialekt, ein wenig weich, oft nuschelnd.

    Peter Strelzyk ist am 15. August 1942 in Oppeln geboren, Sternzeichen Löwe. Nach dem Krieg wird seine Familie aus Oberschlesien vertrieben. Sein Vater arbeitet bei der Bau-Union in Gera. Der Junge wächst in verschiedenen Thüringer Dörfern auf, denn seine Eltern ziehen auf der Suche nach neuen, besseren Wohnungen häufig um. Nach der Schule beginnt Peter Strelzyk eine Lehre als Maschinenschlosser in Pößneck. Nebenbei besucht er einen Abendkursus für Elektrotechnik. »Ich habe meinen Elektromonteur in Qualifizierung gemacht«, sagt er auf DDR-deutsch, das heißt, er hat Abendkurse besucht. Mit 18 wird der Jungtechniker zur Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen. »Eigentlich wollte ich einmal Pilot werden und meldete mich für die Luftwaffe.«

    Er kommt zur fliegertechnischen Schule in Karmitz bei Dresden. Er wird als Flugzeugmechaniker ausgebildet. Bei Reparaturarbeiten an einem Kampfflugzeug stürzt er von einer Leiter und verletzt sich am Lendenwirbel. Die Folgen spürt er noch heute. »Aus war der Traum, Pilot zu werden. Ich wurde 1963 als Flugzeugmechaniker aus der Armee entlassen.« Peter Strelzyk geht zurück nach Pößneck. Er bekommt eine Stelle beim Volkseigenen Betrieb »Polymer«, einem kunststoffverarbeitenden Unternehmen.

    Peter Strelzyk ist ehrgeizig. Er arbeitet hart und lange. Er macht Karriere. Er wird Hauptmechaniker, dann Spezialist für »Betriebsmeß-, Steuer- und Regelungstechnik« und schließlich sogar Abteilungsleiter für Rationalisierung. »Ich habe fast 16 Jahre lang an Spritzgießautomaten gearbeitet«, erzählt er, »das sind Maschinen mit komplizierten Steuerungstechniken, mit Hydraulik und mit Elektronik.«

    Die Arbeit habe ihm Spaß gemacht, er sei »richtig vernarrt in die ganze Technik« gewesen. Oft habe er an Feiertagen, sogar Weihnachten und Sylvester, defekte Maschinen repariert, »weil davon der ganze Produktionsablauf abhing«. Er sagt: »Mir haben sie immer die schwierigsten Probleme gegeben, die kompliziertesten Reparaturen, mit denen sonst keiner klarkam. Dann habe ich mich stunden- oder tagelang hingesetzt, habe gearbeitet und gegrübelt und habe mir gesagt: Du mußt diese verdammte Russenmaschine – wir hatten meist russische Maschinen – wieder hinkriegen! Du mußt einfach!

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