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Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch
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Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch

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About this ebook

Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs formiert sich in Berlin die Dada-Bewegung. Hannah Höch ist eine der wenigen Frauen in diesem illustren Mannerclub. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelten ihre Werke als "entartet". Ihre engsten Freunde verlassen das Land. Die Kriegsjahre verbringt sie zurückgezogen in ihrem Garten am Rand von Berlin. Ihr Haus wird zum geheimen Archiv einer verfemten Avantgarde. Die Biografie thematisiert die dramatischen Umstände ihrer Ehe mit dem 21 Jahre jüngeren Kurt Heinz Matthies. 1938 wird er verhaftet, und für die ehemals so vorsichtige Künstlerin beginnt der Kampf um seine Freilassung. AUTORENPORTRÄT Cara Schweitzer, Jahrgang 1973, studierte in Berlin und Rom Kunstgeschichte und evangelische Theologie und schrieb ihre Magisterarbeit über Kandinskys Künstlerbuch "Klänge". Von 2005 bis 2007 wissenschaftliche Assistentin am Kunstmuseum Stuttgart. Sie veröffentlichte Essays und Kurztexte zur Kunst der 1910er- und 1920er-Jahre sowie zur zeitgenössischen Kunst. "Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch" ist ihr erstes Buch.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateJan 8, 2016
ISBN9788711449479
Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch

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    Schrankenlose Freiheit für Hannah Höch - Cara Schweitzer

    existiert.

    1. Kapitel

    »Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«

    Kindheit und Ausbildung

    (1889–1915)

    Am 1. November 1889 wird Hannah Höch, deren vollständiger Geburtsname Anna Therese Johanne lautet, als ältestes von fünf Kindern in der thüringischen Residenzstadt Gotha geboren. Sie wächst in behüteten bürgerlichen Verhältnissen auf. Ihr Vater, Friedrich Höch, ist Generalagent der Württembergischen Feuerversicherung und baut als Subdirektor die Niederlassung der Stuttgarter-Berliner Versicherungsanstalt für Thüringen aus.¹ Ihre Mutter Rosa Höch, geborene Sachs, war vor ihrer Eheschließung in den Häusern adliger Damen als Haushaltsvorsteherin und Vorleserin tätig.² Wie in vielen bürgerlichen Familien zählte künstlerische Bildung zum guten Ton bei den Höchs. Die Mutter fördert Hannah Höchs Freude am Zeichnen und Malen. Auch sie selbst ging »bescheidenen künstlerischen Ambitionen« nach und »malte nach Vorlagen« Ölbilder.³ Mit einer kurzen berufsbedingten Unterbrechung, die die Höchs nach der Geburt ihrer ersten Tochter nach Weimar führt, lebt die Familie in Gotha, in einem dreistöckigen Gründerzeithaus in der Kaiserstraße 28, die heute 18.-März-Straße heißt.⁴ Die Fassade des Höch’schen Wohnhauses erscheint wohlgeordnet, wenige schlichte Stuckelemente gliedern die Front. Das Gebäude wirkt großzügig, aber nicht protzig. Hinter dem Haus öffnet sich ein Garten, der an eine kleine Parkanlage angrenzt, die zum Gut des Barons von Leesen gehört.⁵ Für das Familienleben und die intensive Beziehung zwischen Hannah Höch und ihrem Vater ist der Garten von zentraler Bedeutung. Den grünen Daumen hat sie offenbar von Friedrich Höch geerbt: »Mittags, zwischen zwölf und zwei Uhr, wenn die Büros geschlossen waren, pflegte mein Vater seinen Rosengarten, und ich lernte dabei helfend, schon mit sechs oder sieben Jahren, Rosen veredeln. Ich musste den Bast aufbinden, für die richtige Feuchtigkeit sorgen, das Okuliermesser reichen.«⁶ Ihre Familie bedeutet Hannah Höch sehr viel. Hier findet sie Verständnis und Rückhalt auch in schwierigen Lebenssituationen. Die Geborgenheit erzeugt in ihr einen großen Schatz an Vertrauen. Dieses Lebensgefühl trägt sie in sich und es bietet ihr in Krisensituationen Halt. Dennoch hat sie für das harmonische Zusammenleben in der Familie auf ihr wichtige Anliegen und Ziele verzichten müssen. 1904 verlässt Hannah Höch auf Wunsch der Eltern vorzeitig als Fünfzehnjährige die Höhere Töchterschule. Eigentlich hatte ihr die Schule viel Spaß bereitet, und der Unterrichtsstoff in vielen Fächern, auch in den Naturwissenschaften, interessierte sie. Der Grund für ihr vorzeitiges Ausscheiden aus der Schule lag in der Geburt der jüngsten Schwester Marianne, genannt Anni oder Nitte (1904–1994) begründet.⁷ Hannah Höch sollte als älteste Schwester die Mutter bei der Betreuung und Erziehung unterstützen und Verantwortung in der Familie übernehmen. Als die Kleine drei Tage alt ist, übernimmt Hannah Höch die Säuglingspflege. Sie wird die Schwester bis zur Einschulung betreuen.⁸ »Ich liebte dieses Kind sehr, aber dadurch zögerte sich zu meinem großen Kummer mein Studium beträchtlich hinaus – sehr zur Befriedigung meines Vaters, der ein Mädchen verheiratet wissen, aber nicht Kunst studieren lassen wollte, was übrigens um 1900 noch der allgemeinen bürgerlichen Ansicht entsprach.«⁹

    Ein um 1905 entstandenes Foto zeigt die etwa sechzehnjährige Johanne Höch in einem weißen, mit Rosen und Blüten geschmückten Ballkleid. Aufrecht sitzend schaut sie stolz aus dem Bild (Abb. 1). Die junge Frau scheint den für sie vorbestimmten Weg anzunehmen, wenn da nur nicht dieser selbstbewusste Blick wäre.

    Um die praktischen und kaufmännischen Fähigkeiten seiner Tochter weiter zu fördern, verlangt der Vater von Hannah Höch, dass sie ihn ein Jahr lang in seinem Versicherungsbüro unterstützt.¹⁰ Trotz der klaren Vorstellungen des Vaters über den weiteren Lebensweg seiner Tochter, der nicht ihren eigenen Wünschen entsprach, beschreibt Hannah Höch das Verhältnis zu ihm als liebevoll und positiv. Friedrich Höch stellt mit seiner Lebenshaltung und seinem pädagogischen Konzept keine Ausnahme unter den bürgerlichen Familien in Deutschland vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs dar. Hannah Höchs Biographie entspricht bis dahin dem typischen Bild einer behüteten Tochter aus bürgerlichem Hause. Doch all die Versuche der Eltern, ihre Tochter zu einem »bodenständigen« Beruf zu bewegen, scheitern an Hannah Höchs starkem Willen: »Lieber will ich mich in Berlin zu Tode schuften, als dass ich einen Tag länger in Gotha bliebe.« So jedenfalls schilderte sie retrospektiv ihren Entschluss, als junge Frau ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren, in dem 1977 von Hans Cürlis gedrehten Film »Hannah Höch – jung geblieben«.¹¹ Erst acht Jahre nachdem sie von der Schule abging, fast zweiundzwanzigjährig, verlässt sie 1912 die wohlgeordneten Verhältnisse und zieht nach Berlin. Trotz vieler Vorbehalte der Eltern beginnt sie eine Ausbildung an der privaten Kunstgewerbeschule Charlottenburg, wo sie in die von Harold Bengen geleitete Klasse für Gestaltung aufgenommen wird.¹² Bengen war selbst Maler und hatte 1910 unter anderem mit Max Pechstein gemeinsam die Neue Sezession in Berlin gegründet. Sein künstlerischer Ruf basierte auf Entwürfen für Mosaiken und Glasfenster. Er gestaltete Teile der ornamentalen Ausschmückung für das Museum in Magdeburg, das Friedenauer Rathaus und die Berliner Charité. Die Charlottenburger Kunstgewerbeschule war den Ausbildungstraditionen des 19. Jahrhunderts verpflicht. Das Entwerfen und Zeichnen von Ornamenten, Kalligraphie und Schriftgestaltung bestimmten das Curriculum, wobei das Kopieren historischer Vorlagen einen zentralen Stellenwert einnahm.¹³ Ursprünglich war es Hannah Höchs oberstes Ziel, an einer Akademie freie Kunst zu studieren. Doch die Erfüllung dieses Traumes wäre eine allzu provokative Entscheidung gegen die Pläne ihrer Eltern gewesen. »Kunstgewerblerin war immerhin nicht Künstlerin«.¹⁴ Kunstgewerbeschulen etablierten sich seit dem späten 19. Jahrhundert zusehends in Deutschland. Die Ausbildung setzte einen starken Akzent auf die praktische Anwendbarkeit des Gelernten und auf fundierte Kenntnisse handwerklicher Techniken. Das Angebot war breit gefächert. Entwerfen von Stoff- und Tapetenmustern, das Gestalten von Schnittmustern und das Erlernen druckgrafischer Verfahren zählte ebenso zum Curriculum wie Techniken der Glasmalerei. Vieles, was an diesen Schulen unterrichtet wurde, konnte sinnvoll in einem handwerklichen Beruf oder in der industriellen Warenproduktion eingesetzt werden. Es war ebenso in einem bürgerlichen Haushalt von Nutzen. Dieser Aspekt scheint, trotz der tendenziell eher liberalen und der Kunst durchaus zugeneigten Erziehung im Hause Höch, bei der Zustimmung der Eltern eine Rolle gespielt zu haben. An den Kunstakademien hingegen wurden die Studenten zu »freien« Künstlern in der sogenannten »hohen« oder »freien« Kunst ausgebildet, auch wenn aus heutiger Sicht der Lehrplan mit seinen verpflichtenden Kursen wie dem Zeichnen vor Originalen verschult wirkt.¹⁵ In der rückblickenden Äußerung Hannah Höchs klingt an, dass sie wohl nicht nur mit den im Großen und Ganzen ihr sehr wohlwollenden Eltern Schwierigkeiten bekommen hätte, wenn sie sich an einer Kunsthochschule oder Akademie für den Bereich »freie Malerei« beworben hätte. Ein Universitätsstudium war Frauen in Preußen offiziell erst seit wenigen Jahren, seit dem Wintersemester 1908/1909, gestattet.¹⁶ Als Hannah Höch ihre Ausbildung in Berlin beginnt, herrschen nach wie vor starke politische und gesellschaftliche Ressentiments gegen den gleichberechtigten Zugang von Frauen und Männern zu Bildungseinrichtungen. Die rückschrittliche Haltung in Deutschland demonstriert ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern, wie etwa der Schweiz, die bereits in den 1840er Jahren erste Gasthörerinnen akzeptierte und bald darauf auch die Vollimmatrikulation von Frauen erlaubte. Ähnliches gilt für Frankreich, Schweden, Dänemark und Belgien und die USA, in denen sich nach englischem Vorbild Frauen-Colleges etablierten.¹⁷ Nicht nur in den medizinischen, theologischen und juristischen Fakultäten sind starke Vorbehalte gegen das Frauenstudium verbreitet. Vor allem die Kunstakademien verweigerten ihnen den Zugang zur Ausbildung. Einzelne renommierte Kunsthochschulen wie etwa die Münchner Akademie setzten in ihren Statuten noch 1911 fest, dass sie ihren Bildungsauftrag ausschließlich in der Schulung von »jungen Männern« definierten, »welche die Kunst als Lebensberuf gewählt haben«. Ihnen seien »jene Kenntnisse zu vermitteln, deren sie zur selbstständigen erfolgreichen Ausübung des Künstlerberufes bedürfen«.¹⁸ Erst nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich auch die Münchner Kunstakademie auf Grund des in der Weimarer Verfassung festgeschriebenen Gleichheitsprinzips nicht länger der Immatrikulation von Studentinnen verschließen. Die frauenfeindliche Haltung der Akademien spiegelt sich auch in der allgemein verbreiteten Abneigung wider, die die spätwilhelminische Gesellschaft Künstlerinnen entgegenbrachte. In Satirezeitschriften wie dem »Simplicissimus« oder auch in sonst so fortschrittlichen Kunstjournalen wie der »Jugend« wurden bartwüchsige Künstlerinnen in Männerkleidung und Herrenschnitt vor der Staffelei stehend als »Malweiber« diskreditiert, die, falls sie es je zu künstlerischen Leistungen bringen sollten und nicht im Dilettantismus verharrten, zu halben Männern mutieren würden.¹⁹ Die Vorstellung, dass eine ernstzunehmende Künstlerin notwendigerweise einen Verwandlungsprozess durchlaufen müsse, der einer Geschlechtsumwandlung gleichkommt, entsprang einer abwehrenden Einstellung gegenüber Frauen, die einem intellektuellen Beruf nachgingen. Kritiker sprachen Frauen auf Grund ihrer angeblichen psychischen und biologischen Konstitution die Fähigkeit ab, selbständig neue künstlerische Ideen zu entwickeln.²⁰ Zu diesem Urteil trugen Theorien über die »Biologie« der Frau aus dem Bereich der Naturwissenschaften bei. Frauen dichtete man auf Grund ihres Geschlechts einen Mangel an Erfindergabe, an »inventio«, an, die jedoch als maßgebliches Zeichen künstlerischer Genialität galt. Eben diese Begabung bestimmte wenige Ausgewählte und selbstverständlich nur Männer zu Künstlern. Hierin unterschied sich der Künstler, der nach seiner freien Eingebung Neues schafft, von den Kunstgewerbetreibenden, die nach Vorgaben und Aufträgen angewandte oder gewerbliche Arbeiten ausführten.

    Die Ressentiments gegenüber Künstlerinnen demonstrieren aber auch, wie entschieden man das kreative Potential des Kunstgewerbes unterschätzte. Neben diesen angeblich von der Natur vorgegebenen Beschränkungen der Frau wurde vor allem das für die künstlerische Ausbildung notwendige Studium des nackten menschlichen Körpers als Argument gegen Studentinnen an den Kunstakademien angeführt. Moralisch anstößig war für viele Professoren die Vorstellung, dass junge Studenten und Studentinnen gemeinsam vor dem Akt zeichneten. Im späten 19. Jahrhundert galt das Zeichnen des entblößten weiblichen Körpers allerdings generell als Gefährdung der Sittlichkeit. Der preußische Staatskünstler und kunstpolitisch äußerst einflussreiche Historienmaler Anton von Werner lehnte 1874 aus diesem Grund einen Antrag seiner männlichen Studenten ab, weibliche Modelle einzustellen.²¹ Die Vorbehalte und Verbote waren Ausdruck des tabuisierenden und unterdrückenden Umgangs mit dem weiblichen Körper um 1900 in Deutschland. An Koedukation vor dem unbekleideten Modell war auch noch lange nach der Jahrhundertwende nicht zu denken. Das gilt übrigens auch und vor allem für die Medizin. Anatomie lernten Frauen hier in von ihren männlichen Kollegen getrennten Kursen.

    Hannah Höchs Entscheidung gegen eine Bewerbung an einer Kunstakademie entsprach dem Ausbildungsweg der meisten künstlerisch begabten und interessierten jungen Frauen ihres Alters. Als Kompromiss bot sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Wahl einer privaten Kunst- oder Kunstgewerbeschule an.²²

    Der Eintritt des deutschen Kaiserreichs in den Ersten Weltkrieg am 1. August 1914 und die damit verbundene Schließung ihrer Schule zwang Hannah Höch, noch einmal zu ihren Eltern zurückzukehren, um in Gotha einige Monate für das Rote Kreuz zu arbeiten. Hannah Höch erlebt den Kriegsausbruch in Köln. Die Kunstgewerbeschule hatte ihr, gemeinsam mit drei Kommilitonen, ein Reisestipendium zur Werkbund-Ausstellung verliehen, die 1914 auf dem am rechten Rheinufer gelegenen Messegelände gezeigt wird. Der Werkbund war 1907 von zehn führenden Künstlern, Formgestaltern und Architekten ins Leben gerufen worden. Dazu zählten unter anderem Peter Behrens, Theodor Fischer, Joseph Hoffmann, aber auch Paul Schultze-Naumburg. Ziel der Gründung war es, deutsches Kunstgewerbe mit hohem künstlerischem Anspruch auf Weltmarktniveau zu bringen und der verbreiteten Devise »German goods are cheap and nasty« (deutsche Waren sind billig und scheußlich) entgegenzutreten.²³ Seine Gründer legten die Ziele in ihrem Programm fest. Die Veredelung gewerblicher Arbeit und Steigerung der Qualität wurden festgeschrieben. Die Werkbundschau, die Hannah Höch besuchte, sollte maßgeblich Einfluss auf zukünftige künstlerische und architektonische Entwicklungen in Deutschland nehmen. Hannah Höch konnte in Köln unter anderem Bruno Tauts Glaspalast besichtigen, das utopische Sinnbild kristalliner Architektur.

    In ihrem Lebensüberblick von 1958 schrieb Hannah Höch, sie sei vom Ersten Weltkrieg »überrascht« worden. Lange vor dem 1. August 1914 prägten Vorzeichen der Mobilmachung in Deutschland das Straßenbild. Hannah Höchs Blindheit für die Kriegseuphorie hing mit ihrer Einstellung zusammen. Anders als viele Altersgenossen, vor allem auch in Künstlerkreisen, verband sie mit der sich anbahnenden kriegerischen Auseinandersetzung keinerlei positive Vorstellungen: »Aus den schwerelosen Jugendjahren kommend und glühend mit meinem Studium beschäftigt, bedeutete diese Katastrophe den Einsturz meines damaligen Weltbildes. Ich übersah die Folgen für die Menschheit und für mich persönlich sofort und litt unter dem munteren Aufbruch meiner Umwelt in den Krieg sehr.«²⁴ Ihr klares Bekenntnis zum Pazifismus wird Hannah Höchs persönlichen und künstlerischen Werdegang maßgeblich beeinflussen.

    Zu Beginn des Jahres 1915, als die Kunstschulen trotz des Krieges ihren Unterricht wieder aufnehmen, kommt sie nach Berlin zurück und schreibt sich neu in die Klasse für Graphik und Buchkunst von Emil Orlik ein, diesmal an der staatlichen Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums.²⁵ Der Krieg ist auch in dieser Institution täglich präsent. Teile des Gebäudes werden als Lazarett genutzt. Unter anderem befindet sich eine Nervenstation im Reservelazarett Kunstgewerbemuseum, wie die Notunterkunft militär-bürokratisch genannt wird.²⁶ Geleitet wird sie von Richard Cassirer, dem Bruder des Galeristen Paul Cassirer.

    Anders als ihre erste Ausbildungsstätte genießt die staatliche Unterrichtsanstalt einen progressiven Ruf. Die Schule bietet ihren Studenten künstlerischen Freiraum.²⁷ Der Unterricht bei Orlik, der während eines Aufenthaltes in Japan vom asiatischen Farbholzschnitt beeinflusst wurde und diese Technik mit nach Europa brachte, bot ihr auf künstlerischem Niveau höchste Anforderungen. Schon bald nach ihrem Eintritt in seine Klasse stellte Orlik sie als Assistentin ein. Hannah Höch schnitt nach seinen Vorgaben Holzstöcke. Ihre Schule lag zwischen Potsdamer Platz und Anhalter Bahnhof in der Prinz-Albrecht-Straße 7. Das Architektenteam Martin Gropius und Heiko Schmieden errichtete Ende der 1870er Jahre das monumentale kubische Gebäude. Das Besondere an dieser Einrichtung war die enge Nachbarschaft zwischen der Sammlung des Berliner Kunstgewerbemuseums, die zu den königlichen Museen zählte, und der Schule. Museum und Unterrichtsanstalt waren unter einem Dach untergebracht, wobei die Ausbildungseinrichtung im Nordflügel des Hauses lag. Die Studierenden lernten auf diese Weise problemlos hochwertige historische Zeugnisse handwerklich oder industriell hergestellter Produkte und Gebrauchsgegenstände kennen. Auch heute wird das Gebäude wieder für Ausstellungen genutzt. Es ist nach einem seiner Architekten Martin-Gro-pius-Bau benannt. Lehrer und Studenten der Schule standen in engem Austausch mit Kreisen der künstlerischen Avantgarde im Berlin der 1910er Jahre. Über Hannah Höchs Jugendfreundin und Studienkollegin Maria Uhden, die ebenfalls aus Gotha stammte und die bereits ein Jahr vor Höch in Berlin an der Kunstgewerbeschule zu studieren begonnen hatte, nahm sie erste Kontakte zum expressionistischen Künstlerkreis »Der Sturm« auf. Gründer und Namensvater der Vereinigung war der mit all seinen physischen und finanziellen Kräften für die Kunst kämpfende Schriftsteller, Musiker, Galerist und Verleger Herwarth Waiden. Ebenfalls Schüler in Orliks Klasse war George Grosz, mit dem Hannah Höch später, nach dem Ersten Weltkrieg, gemeinsam auf der »Ersten Internationalen DADA-Messe« in der Kunsthandlung Dr. Otto Burchard ausstellen wird. Allerdings hatte sie während ihres Studiums nur wenig Kontakt zu Grosz.

    Hannah Höch hat ihre kunstgewerbliche Ausbildung auch später, als sie sich als freischaffende Künstlerin definiert, nie verleugnet. Vielmehr wird sie ihr technisches und handwerkliches Wissen in ihren Arbeitprozess integrieren. Und wie viele Künstlerkolleginnen ihrer Zeit interessiert sie sich weiterhin für ornamentale Strukturen von Stoffen und Stickereien. Mehrfach wird sie sich zum Ziel setzen, neue Tendenzen in der Kunst in den Bereich der Formgestaltung zu übertragen.

    Im April 1915 lernt sie in der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums, die den Studierenden auch in den vorgeschrittenen Abendstunden offenstand, ihre erste große Liebe kennen, Raoul Hausmann. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter. Mit Hausmann wird sie eine siebenjährige Liebesbeziehung verbinden, die von tiefer Nähe, aber auch zermürbenden Auseinandersetzungen und vielen Zerwürfnissen geprägt ist. Über eigene freundschaftliche Beziehungen und vor allem durch Hausmanns Bekanntenkreis lernte Hannah Höch all jene Künstler kennen, die sich zum Ende des Ersten Weltkrieges in der Berliner DADA-Bewegung formierten.

    2. Kapitel

    »Damen ohne Herrengesellschaft ist das Rauchen hier nicht gestattet«

    Raoul Hausmann. Dada-Berlin.

    Künstlerfreundschaften

    (1915–1926)

    Das Foto zeigt einen jungen Mann in typischem Porträtformat (Abb. 2). Er trägt einen eleganten dunklen Anzug, einen dunklen Schlips und ein steifes weißes Oberhemd. Sein leicht vorgeschobener Unterkiefer und die vollen Lippen verleihen ihm einen energischen, fast brutalen Gesichtsausdruck, der durch den ernsten Blick verstärkt wird. Breite Schultern betonen seine Männlichkeit. Hausmann schaut nicht direkt in die Kamera, er fokussiert etwas, das sich links neben ihr befindet. Der Mann hat eine Vision, vermittelt unmissverständlich sein Blick aus dem Bild. Im Glas seines Monokels bricht sich das Licht. Die Sehhilfe erzeugt einen Lupeneffekt, der das dahinterliegende Auge vergrößert und verzerrt.

    In dem Foto aus dem Jahr 1915 sind bereits alle stilbildenden Attribute angelegt, auf die Raoul Hausmann zukünftig bei seiner Selbstinszenierung als Künstler Wert legt. Dazu zählt die kämpferische Haltung, gepaart mit Eleganz. Auf das Monokel wird Hausmann kaum noch verzichten. Das konservative Image des Einglases steht im Kontrast zu seinem sonstigen Erscheinungsbild. Der Widerspruch verwandelt das Monokel in ein modisches Accessoire, das seinem Träger die nötige Lässigkeit verleiht. Doch das Monokel ist nicht nur Dekor. Hausmann leidet seit seiner Kindheit an Kurzsichtigkeit und ist auf seinem linken Auge fast blind.¹ »Ich muß erwähnen, daß Monokeltragen zu der Zeit zwar etwas provozierend wirkte, es aber doch weit mehr benutzt wurde als heute; Hausmann kam wahrscheinlich schon mit Monokel auf die Welt. Denn schon als ich ihn kennenlernte, also längst vor DADA, wäre er sich ohne ... wie ohne Kleidung vorgekommen. Er hatte seine Augen, die schon immer einer Stütze bedurften, so an das Einglas gewöhnt, dass es saß wie eingewachsen. Er hat es auch nie an einer Schnur getragen. Und wenn er den ganzen Kurfürstendamm hinunter hätte Purzelbäume schlagen müssen, er hätte das Glas nicht einen Augenblick abgenommen oder gar verloren. Psychologisch gesehen gehörte es auch zu ihm, er musste es tragen aus der prinzipiellen Verneinung des Üblichen«, kommentierte Hannah Höch die Extravaganz ihres Partners im Rückblick.² Modebewusstsein zählt zu seinen Charaktereigenschaften.

    Hannah Höch notierte auf dem Foto, das sich heute in ihrem Nachlass in der Berlinischen Galerie befindet, »Raoul Hausmann 1915. Als ich ihn kennenlernte.«³

    Am 12. Juli 1886 wurde Raoul Hausmann in Wien in eine wohlhabende Künstlerfamilie geboren. Der Vater, Victor Hausmann, stammte aus Ungarn, aus einer betuchten Großkaufmannsfamilie. Zunächst zog er für ein Studium an der Kunstgewerbeschule und dann an der Wiener Akademie in die Hauptstadt der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Hier erarbeitete der Vater sich einen Ruf als Porträt- und Historienmaler. Dennoch zieht die Familie 1900 nach Berlin, in die südwestlichen Vorortbezirke nahe der Havel. Dort entsteht eine neue, großzügig angelegte bürgerliche Wohngegend im Grünen mit großen freistehenden Häusern, umgeben von Gartenanlagen. Berlin bedeutet für Hausmanns Vater einen Karrieresprung. Wilhelm II. berief ihn als Hofmaler in die kaiserliche Reichshauptstadt. Zudem verlangte die weiterhin von konservativen Kreisen dominierte Berliner Kunstszene anders als das im Aufbruch befindliche Wien von dem etablierten Maler nicht allzu große Anpassungen an neue Kunstauffassungen.

    Der junge Raoul Hausmann wächst, zumindest was seine pekuniäre Situation anbelangt, in ähnlich behüteten Verhältnissen auf wie Hannah Höch. Über seine Kindheit ist wenig bekannt. Wahrscheinlich ist, dass der Vierzehnjährige in Berlin nicht mehr eine Schule besucht, sondern sich autodidaktisch weiterbildet. Ursache für die Entscheidung der Eltern, ihren Sohn nicht noch einmal in eine schulische Einrichtung zu geben, mögen seine Schwierigkeiten mit Autoritäten gewesen sein: »In dem Wiener Realgymniasium habe ich wirklich nichts als Unfug gemacht, und als ich dann nach Berlin kam, war mein Vater so davon überzeugt, dass ich in keiner Schule zu halten sei, dass er mich der Malerei und dem Radfahren überließ«, kommentiert Hausmann.

    Als er Hannah Höch 1915 kennenlernt, war das Verhältnis zu seinen Eltern und seiner Schwester Mira, die er 1916 zum letzten Mal sieht, distanziert.⁶ Seine Eltern nehmen sich 1920 gemeinsam das Leben. Über die Ursachen für die Tat erfährt man aus der Korrespondenz zwischen Raoul Hausmann und der Künstlerin nichts. Die Inflation und der Verlust von Ansehen nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie und dem Ende des Kaiserreiches hatten das Selbstverständnis des akademischen Hofmalers zerstört.⁷

    Sowohl Raoul Hausmann als auch Hannah Höch haben die Stimmung ihrer ersten Begegnungen in Gedichten füreinander eingefangen. Im April schreibt Hannah Höch ihr Poem »Erstes Rendez-vous«:

    »Stille, mit dem Tau in Verbund.

    Alle Geräusche verzehrte die Nacht,

    Ein Stern steigt von Stunde zu Stund’ behutsam weiter.

    Einer wandernden Wolke Pracht

    lockt den Mond in weiße, steife Schleifen,

    damit nicht seiner Neugier Licht

    die aufgeschloss’nen Straße streife

    auf deinem und meinem Angesicht.«

    Ausgedehnte Spaziergänge im Berliner Grunewald waren ein regelmäßiger Bestandteil gemeinsamer Unternehmungen des Paares. Im November 1915, kurz nach Hannah Höchs sechsundzwanzigstem Geburtstag, verfasst Raoul Hausmann für sie ein Gedicht. Ihre Beziehung besteht nun seit einem halben Jahr.

    »Zwei Tage erinnere ich.

    Der eine,

    Jener 28. April dieses Jahres

    An dessen Abend ich,

    zurückgezogen auf mein innerstes Selbst

    hingeführt wurde in die Prinz-Albrecht-Straße

    wo ich Dich gewann, weil ich die äußerlich egoistischen Schranken

    fallengelassen hatte und Du Dich in mir spiegeln konntest;

    das wussten wir Beide nicht.

    Und der andre Tag ist

    Der 3. Juli danach gewesen.

    Wir hatten im Bad Wannsee

    Whitman gelesen.

    Er ist der Tag,

    an dem ich das Erste mal

    furchtsam, zitternd – aber doch

    willentlich und wissentlich

    Deinen Schoß in meine Hand nahm.

    An diesen beiden Tagen,

    so verschieden sind sie,

    hängt unser ganzes Schicksal.«

    Hannah Höch wird sich rückblickend dem Kunsthistoriker Heinz Ohff gegenüber äußern: »Raoul Hausmann war der erste von den bedeutenden Menschen, die in meinem Leben eine Rolle spielen. Er soll hier nur kurz Erwähnung finden. Vom Leben habe ich in dieser Zeit mit ihm unendlich viel erfahren. Auch: ausweglosen Tiefen philosophischen Denkens nachzuspüren. Auch: der irdischen Liebe meinen Tribut zu zollen.«¹⁰ Lange Zeit hat es die Künstlerin vermieden, über ihre Beziehung zu Hausmann zu sprechen.¹¹

    In seinem Gedicht aus der Anfangsphase ihrer Liebe klingen zukünftige Konflikte an. Nach Höchs Tod wurde das Verhältnis zwischen der Künstlerin und Raoul Hausmann in der Literatur vielfach beleuchtet. Zu den umfangreichsten und einfühlsamsten Schilderungen zählt Karoline Hilles detaillierte und lebendige Darstellung der psychisch belastenden Auseinandersetzungen des Paares. Erst jüngst erschien die Dissertation von Silke Wagener, die die Künstlerbeziehung in den Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen am Ende des Ersten Weltkriegs und zu Beginn der zwanziger Jahre einordnet. Sie analysiert die von Hausmann rezipierte psychoanalytische und philosophische Literatur und untersucht, wie er das angelesene theoretische Wissen auf seine Beziehung anwendet. Exemplarisch für die Geschlechterbeziehungen der Avantgarden beschreibt sie das Rollenverständnis von Höch und Hausmann. Beide Autorinnen werten die zahlreichen Briefe und Dokumente aus, die sich in Raoul Hausmanns und Hannah Höchs Nachlass befinden. Ebenso wird der Einfluss der Beziehung auf die künstlerischen Arbeiten Hannah Höchs thematisiert.


    Trotz ihrer noch jungen Liebesbeziehung zu Hausmann hält sich Hannah Höch im Sommer 1915 für über zwei Monate bei ihrer Familie in Gotha auf. In die Leidenschaft der ersten Wochen hat sich ein Bewusstsein für die komplizierten Voraussetzungen gemischt, die zumindest aus Höchs Sicht gegen ein ernsthaftes Verhältnis zu Hausmann sprechen. Die Erkenntnis mag auch ein Grund dafür sein, warum Hannah Höch für lange Zeit von Berlin wegbleibt: »Was mir am allernötigsten für Dich sowohl als für mich erscheint ist dies, wir müssen Beide jetzt Ruhe erzwingen. Ich meine nicht Concentration, sondern ein Vergessen (augenblicklich) der widrigen Umstände, an die wir schon genug dachten; [...]«¹², schreibt ihr der Geliebte aus der Hauptstadt. In einem seiner zahlreichen Briefe äußert sich Hausmann offen über die »widrigen Umstände«, die schon im ersten Jahr ihrer Liebe zum zentralen Anlass aller zukünftigen Auseinandersetzungen werden sollen. Hausmann hatte eine Ehefrau, die Geigerin Elfriede Schaeffer, und eine siebenjährige Tochter, Vera. Die gemeinsame Zweizimmerwohnung in Steglitz hatte er verlassen. Er wohnte zur Untermiete in der Charlottenburger Pestalozzistraße.¹³ Wie so oft war er eine Nacht lang mit dem Philosophen und Kunsthistoriker Salomon Friedlaender durch die Straßen in Charlottenburg flaniert: »Ich habe ihm nämlich gesagt, ›ich würde mich vielleicht von meiner Familie trennen‹, und habe lange mit ihm über meine Frau gesprochen, er kennt sie nämlich – er beurteilt sie eigentlich so wie ich. Er meint schwer, schlimm, und nur mit Vorsicht. Es darf kein Versehen passieren, das wäre unter Umständen ein Todesurteil. Daß ich nicht anders kann, giebt er zu. Ich sprach mit ihm nur was ich wusste, aber er ist sehr gescheit und daß er so dachte wie ich, hat mich doch irgendwie beruhigt«, schreibt Raoul Hausmann nach Gotha.¹⁴

    Bei dem »Vielleicht« sollte es für die fast sieben Jahre währende Beziehung bleiben. Salomon Friedlaender gehörte in dieser Zeit zu seinen engeren Freunden. Raoul Hausmann verkehrt, wie es von einem Bohemien zu erwarten ist, in den entsprechenden Berliner Kaffeehäusern und kennt zahlreiche Künstler und Intellektuelle der Berliner Kulturszene. Er ist auf der Suche. Seinen Platz in der Kunstwelt hat er noch nicht gefunden. Bei verschiedenen Zirkeln, in denen sich Anhänger des Expressionismus treffen, kämpft er um Anerkennung. Hausmann hat Kontakt mit dem Brückekünstler Karl Schmidt-Rottluff, der Anfang 1915 darum bemüht ist, zum Militär eingezogen zu werden: »Lieber Herr Hausmann, meine Versuche, artilleristisch beschäftigt zu werden, nehmen vorläufig einen komödienhaften Verlauf. – Würden Sie mir schreiben, ob u. wann ich Sie mal besuchen dürfte.«¹⁵ Hausmann teilt die Sehnsucht, endlich in den Kriegsdienst eingezogen zu werden, allerdings nicht.

    Viele der einst in Dresden ansässigen Expressionisten waren Anfang der 1910er Jahre, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, nach Berlin gezogen. Zu ihnen zählte Ludwig Meidner, der nie Mitglied der Brücke war, dessen apokalyptische Stadtansichten mit ihren perspektivischen Brüchen und zersplitternden Strukturen ihm weithin den Ruf einbrachten, der expressivste unter den Expressionisten zu sein. In regelmäßigen Abständen traf sich abends in Meidners Berliner Atelier ein lockerer Kreis von Künstlern, die sich dem Expressionismus verpflichtet fühlten. Seit 1914 gehört Meidner der links-expressionistischen Zeitschrift »Die Aktion« an, die der Literat Franz Pfemfert herausgibt und die keinen Hehl aus ihrer Antikriegshaltung macht. Meidner wird 1916 zum Kriegsdienst eingezogen. Die freiwillige oder unfreiwillige Beteiligung an den mörderischen Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs beherrschte seit Kriegsausbruch das intellektuelle Leben der Künstlergeneration, zu der Hannah Höch wie auch Raoul Hausmann zählt. Während die einen, wie etwa die Blauen Reiter August Macke und Franz Marc, sich freiwillig an die Front melden und darauf hoffen, durch Zerstörung und Kriegsgewalt an der Erschaffung einer neuen Welt beteiligt zu sein, irritieren die Widersprüche zwischen öffentlicher Kriegsbegeisterung und den ersten Berichten von den Schrecken in den Schützengräben. Im Sommer 1915 steht Raoul Hausmann vor der Musterung, doch offenbar wird er wegen seiner Kurzsichtigkeit für untauglich erklärt. Sein Freund Salomon Friedlaender, der, obwohl er mittlerweile Mitte vierzig ist, zweimal gemustert wird, deutet an, dass man ihn für kriegsuntauglich erklärt habe, da es ihm gelungen sei, vor den Militärs als geistesschwach zu erscheinen: »Mein König! Ich halte Dich für vollkommen untauglich, also werden sie Dich nicht nehmen. Sie haben mich auch nicht genommen. [...] Aber, mein König, Du bist systematisch vergeßlich [...].«¹⁶ In Friedlaenders Anspielungen und seiner Benennung Hausmanns als »König« stecken erste dadaistische Nuancen. Später, zu DADA-Zeiten, werden sich die Künstler Spitznamen aussuchen. Hausmann wird sich immer wieder darum sorgen, doch noch zum Militär eingezogen zu werden. Im Sommer 1916 schreibt er Hannah Höch in zynischem Ton an die Ostsee: »Bei unseren Musterungen werden von den alten (40–50 Jahre) Leuten von 10–8 genommen. Gute Aussicht!«¹⁷

    Auch der junge expressionistische Maler Conrad Felixmüller aus Dresden versucht, Kontakt zum Kreis um Meidner zu knüpfen. Bei den abendlichen Treffen der Gruppe herrscht eine gereizte Atmosphäre, angestachelt durch die künstlerischen Konkurrenzen unter den Männern. Hausmann ist nicht unbeteiligt. Er provoziert durch sein extrovertiertes Verhalten. Aber das ist nur eine aufgesetzte Fassade.¹⁸ In seinen Briefen an Höch spricht er offen über Unsicherheiten. Hausmanns Selbstbewusstsein leidet unter den ständigen Sticheleien und Neckereien der anderen Künstler: »Bei Meidner ist der Maler Felix Müller aus Dresden zu Besuch, er will eine neue Gruppe gründen und ich sollte ihn kennen lernen, deshalb war ich also Dienstag Abend zu Meidner gegangen. Das ganze Männchen ist 18 Jahre alt, aber sicher begabt, und recht nett. [...] In der Nacht kam dann noch ein unerwarteter Besuch: Herr Wieland Herzfeld, mein – Herr Gegner. Ich tat harmlos. Er benahm sich aber ganz unerhört. Z.B. als wir alle (Meidner, ich, Müller, Zierath) anfingen zu zeichnen, sagte er: ›Ach, Sie sind Maler, ich dacht Sie sind ein Schwein?‹ zu mir, und so ging’s den ganzen Abend. Ich tat als sähe und hörte ich nicht. Als er wieder fort war, gab Müller zu verstehen, dass ihm vor Erstaunen der Mund offen stehen bliebe. Nachher kam dann noch heraus, dass Friedlaender unpassende und unverschämte Witze über mich einen Abend vorher gemacht hatte. Mein Entschluss war also gefasst, ehe ich Deinen Brief erhielt. Ich habe Friedlaender brieflich ein’s verabreicht, und Meidner ließ ich durch Zierath, der sich als recht nett erweist, bedeuten, ich käme ihn nicht mehr besuchen, ich könnte durchaus nicht dulden, für seine Bekannten, die mir schnurz sind, als Witzobjekt zu dienen.«¹⁹

    Hausmann weiß noch nicht, ob er sich als Literat oder Maler definieren soll. Und auch hinsichtlich seines künstlerischen Stils ist er unsicher. Sein Vorbild ist van Gogh.²⁰ Und er behauptet dem befreundeten Maler Oskar Moll gegenüber, seinen »persönlichen Kubismus« gefunden zu haben. Moll rät ihm davon ab: Kubistisch malen jetzt so viele.²¹

    In der Berliner Kunstwelt ist es schwer, sich endgültig aus dem Weg zu gehen, und so wird auch Hausmanns Gegner Wieland Herzfelde in den kommenden Jahren trotz aller persönlicher Ressentiments auf der gleichen Seite wie Raoul Hausmann kämpfen.

    Hausmann fühlt sich der expressionistischen Kunst zugeneigt, die in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg die Avantgarde repräsentierte. Zentrale Anlaufstelle für alle Expressionisten ist Herwarth Waldens Sturm-Galerie am Potsdamer Platz. Begeistert besucht Hausmann hier eine Ausstellung mit Werken unter anderem von Marc Chagall, Oskar Kokoschka und Henri Rousseau, die ihn zum eigenen Arbeiten motiviert.²² Auf den Galeristen ist er allerdings nicht gut zu sprechen. Aber er befreundet sich mit der Dichterin und Mitarbeiterin in der Sturm-Galerie, Sophie van Leer, an: »Mag Walden sein wer er will, so dumm als er will – er hat die großen Künstler und man kann nur bei ihm ausstellen«, teilt er Hannah Höch mit.²³ Die Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Else Lasker-Schüler, die zu dieser Zeit bereits von Herwarth Walden geschieden ist, sagt später über Hausmann: »Kleines Gift, muß auch sein.«²⁴ Ende des Jahres 1915 erhält er, wahrscheinlich über Sophie van Leer vermittelt, die Gelegenheit, Walden seine Arbeiten zu zeigen. Doch in einem Brief an den Galeristen schränkt er ein, dass er nur eine geringe Auswahl an Bildern präsentieren könne, da er lediglich fünf Bilderrahmen besäße.²⁵ Das klingt nicht sehr selbstbewusst und eher nach selbst verpatzter Chance. Er plant, Walden die Bilder in die Galerie zu bringen, wo er dem vielbeschäftigten Galeristen einen Tag Zeit gibt, um sie anzuschauen. Fordernd teilt ihm Hausmann mit: »Ich werde die Bilder morgen Nachmittag wieder abholen und gleichzeitig Ihren Bescheid darüber, ob Sie 12–15 Bilder von mir im Januar 1916 (oder zu einer andern Zeit) ausstellen würden.«²⁶

    Hausmanns finanzielle Lage ist angespannt. Seinen Lebensunterhalt und den der Tochter verdient die Ehefrau durch das Erteilen von Geigenunterricht. Wenn sie ihn nicht gerade mit Birnen und Äpfeln aus dem elterlichen Garten in Gotha versorgt, leiht auch Hannah Höch ihm gelegentlich Geld. Sporadisch verkauft er Illustrationen. Seinem Stolz tut der Zustand keinen Abbruch. Zu einer Ausstellungsbeteiligung bei Walden, die für Hausmann hätte lukrativ und karrierefördernd sein können, kommt es nicht. Was nicht nur an dem Galeristen liegt, sondern vor allem an Hausmann. Er weigert sich, im Rahmen einer Gruppenausstellung mit »diesen Jünglingen Hans Richter und Georg Schrimpf« sowie dem späteren Bauhausmeister Johannes Itten und Hannah Höchs Schulfreundin, der Malerin Maria Uhden, auszustellen.²⁷

    Ende September 1915 kehrt die Künstlerin nach Berlin zurück. An ihre Schwester Margarete schreibt sie: »Wir sind nun fest entschlossen durch und zusammen zu halten und sind dadurch nach soviel Zweifel, Kummer und Quälereien ruhiger geworden. Es gibt nur noch ein Vorwärts nun.«²⁸ Zumindest bis zum Ende des Jahres 1915 hält die hoffnungsvolle Stimmung zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann an. Ihre Geschwister werden Hannah Höch bei zukünftigen Konflikten mit ihm immer wieder Unterstützung bieten.

    Über Raoul Hausmann lernt Hannah Höch Salomon Friedlaender und Johannes Baader, den einstigen Grabmalsarchitekten aus Stuttgart, kennen. Die drei Männer planen eine neue Zeitung, »Die Erde«.²⁹ Friedlaender verfasst einen umfangreichen Artikel über Wahrnehmungstheorie. Auf dem geplanten Titelblatt formulieren die Beteiligten die utopische Zielrichtung des Journals, als »Vorschau auf das verheissene und vorbereitete Gedicht der Neuen Erde«. Die Zeitschrift wird nie erscheinen. Das im Anfangsstadium stecken gebliebene Projekt ist der Auftakt für weitere gemeinsame Aktivitäten.³⁰

    Hannah Höch ist bestrebt, finanziell soweit es möglich ist, von ihren Eltern unabhängig zu werden. Beim Ullstein Verlag, einem der größten Zeitungshäuser in Deutschland, der seine Produktionsabläufe nach amerikanischem Vorbild optimiert hat, nimmt sie Anfang 1916 für drei Tage in der Woche eine Stelle als Illustratorin für Handarbeitshefte an. Medien aus dem Ullstein Verlag repräsentierten den Geschmack weiter Bevölkerungsschichten und waren entsprechend populär aufgezogen. »In der ›Praktischen‹ erscheinen jetzt öfter mal liebliche Richelieu-Kleider etc. von mir und in der ›Dame‹ bemalte Kästen und so. Ich habe auch noch einen Nachmittagsnebenverdienst, indem ich durch Orlik, bei einer Frau von Kardorff, seidene Stoffe für Lampenschirmzwecke und so mit Blumen, Schmetterlingen etc. bemale«, schreibt Hannah Höch über ihre neue Tätigkeit an ihre Schwester Grete.³¹ Für den Ullstein Verlag wird die Künstlerin zehn Jahre tätig sein, bis sie 1926 zu Til Brugman nach Holland zieht. Die Arbeit im Verlag ermöglicht ihr ein regelmäßiges Einkommen. Mit einigen ihrer Kolleginnen bei Ullstein wird Hannah Höch ein lange Freundschaft verbinden. Sie entwirft nicht nur für den Ullstein Verlag, sondern auch Schnittmuster für die Fachzeitschrift »Stickerei- und Spitzen-Rundschau«, die von der Verlagsanstalt Alexander Koch in Darmstadt herausgegeben wird.³² Bereits ihre ersten dekorativen Entwürfe stehen in Zusammenhang mit künstlerischen Arbeiten. Sie demonstrieren ihre Auseinandersetzung mit zeitgenössischen expressiven und abstrakten Strömungen in der bildenden Kunst. Im September 1918 wird die Verbindung noch ersichtlicher, wenn Hannah Höch Forderungen nach Erneuerung in der bildenden Kunst in ihre theoretischen Texte über neue Formen handarbeitlichen Arbeitens überträgt. In einem Artikel in der »Stickerei- und Spitzen-Rundschau« appelliert sie an die Kunstgewerblerinnen: »[...] modernste Frauen, ihr, die ihr geistig zu arbeiten glaubt, [...] wenigstens i-h-r müsst wissen, dass ihr mit euren Stickereien eure Zeit dokumentiert.«³³ Auch Höchs spätere Fotomontagen demonstrieren ihre Auseinandersetzung mit ornamentalen Strukturen in Stoff- und Strickmustern. Sie wird mehrfach Fragmente von Schnittmustern oder Motive von geklöppelten Spitzen in ihren Fotomontagen verarbeiten. Das Verhältnis von Linie und Fläche und die Auseinandersetzung mit Farbwirkungen bestimmen Höchs analytisches Herangehen an die Wirkung ornamentaler Oberflächen. In seinem 1911 erschienenen Buch »Über das Geistige in der Kunst« beschrieb Wassily Kandinsky die Entstehung abstrakter Malerei, indem er die gesetzlichen Beziehungen zwischen linearen und flächigen Strukturen, die Tiefenwirkung und die symbolischen Bedeutungen von Farben und Formen darstellte. Seine im »Geistigen in der Kunst« formulierten theoretischen Überlegungen fließen auch in das 1913 im Piper Verlag erschienene Künstlerbuch »Klänge« ein, das Hannah Höch von Raoul Hausmann im Juli 1918 geschenkt bekam.³⁴ Für das Buch entwarf Kandinsky über einen längeren Zeitraum hinweg Farb-Holzschnitte, schwarz-weiße Vignetten, und verfasste zahlreiche Gedichte, in denen er seine Ideen zur synästhetischen Wahrnehmung verarbeitet. Wortklang, Illustrationen und die poetischen Sprachbilder sind vielfach assoziativ aufeinander bezogen und erzeugen im Raum des Buches ein dicht ineinander verwobenes Netz von Bedeutungsebenen, die Kandinsky als Klänge beschreibt. Nicht nur das Künstlerbuch ist ein Beleg dafür, dass sich Hannah Höch intensiv mit Kandinsky befasste, auch in ihren Überlegungen zum Verhältnis von Ornament und Abstraktion tauchen Ansätze aus seinen Schriften auf.


    Raoul Hausmann und Hannah Höch sehen sich im Frühjahr 1916 fast täglich. Seinen sehnsüchtigen Briefen ist zu entnehmen, dass sie trotz ihrer freien Liebe auf der Einhaltung gesellschaftlicher Regeln besteht. Hausmann beklagt, dass er sich jede Nacht von ihr trennen muss: »– und ich hatte mir gewünscht, nur ein einziges Mal bei Dir schlafen zu dürfen, in Deinem Bett – [...].«³⁵

    Im Mai geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut: »Wir wollen also solange warten, bis Du wieder gesund bist. Aber ich muß Dich bitten, Sonnabend früh zu einem Arzt zu gehen. Wir müssen unbedingt Gewissheit haben, was mit Dir ist. Was Du dem Arzt sagst, schreibe ich Dir genau auf. – Bis dahin werde ich mit keinem Wort auf das Andere zurückkommen. Und wenn es Dir recht wäre, würde ich nächste Woche vielleicht verreisen. Nicht nur Du bist krank von mir, wegen mir. [...]«, schreibt ihr Hausmann.³⁶ Wenig später haben Hannah Höch und Raoul Hausmann Gewissheit. Sie ist schwanger. Hannah Höch wird das Kind nicht bekommen. In den folgenden Briefen spricht Hausmann über seinen Schmerz, seine Schuld und sein Ringen um ihr Vertrauen. Am 16. Mai 1916 lässt Hannah Höch eine Abtreibung vornehmen. Das Datum ist lediglich aus einem späteren Brief, den Raoul Hausmann gemeinsam mit seiner Ehefrau Elfriede Hausmann-Schaeffer an Johannes Baader richtet, überliefert.³⁷ Der gesetzlich verbotene Eingriff endete für eine große Zahl Frauen tödlich. Illegal, unter mangelhaften Hygienebedingungen und ohne Betäubungsmittel wurden Abtreibungen in Hinterhäusern vorgenommen. Kaum eine Engelmacherin besaß eine medizinische Ausbildung. Ärzte brauchten Mut, um Frauen in Not zu helfen. Ihnen drohten Gefängnisstrafen, wenn bekannt wurde, dass sie Abtreibungen durchführten. Hannah Höch und Raoul Hausmann hatten Angst. Einen Tag nach der Abtreibung schreibt Hausmann an sie: »Was ich Dir bis heute nicht sagen durfte. Jetzt liebe ich Dich. So, wie ich nie ein Weib geliebt habe. Jetzt erst! Ich habe zum erstenmal einen Weg zu mir selbst gesehen. Und damit auch zu Dir. Ja, ich war Egoist – weil ich immer in meinen Grenzen blieb. Ich konnte erst darüber fort, als ich in Angst und Sorge um Dich war. Wenn ich nur noch zur rechten Zeit für Dich zu mir kam. Wenn Du nur leben bleibst. [...]«³⁸

    Die Künstlerin hat sich nie direkt über die Ursachen ihres Entschlusses geäußert. Aus dem weiteren Verlauf der Beziehung, der in zahlreichen Briefen dokumentiert ist, geht hervor, dass Hausmann sich von Höch ein Kind gewünscht hat. Und Hannah Höch hat später mehrfach betont, dass auch sie sich ein Kind wünschte. Die Umstände ihrer Beziehung scheinen für sie dennoch einem Kinderwunsch entgegengestanden zu haben. Trotz aller Überlegungen und Versprechungen hatte sich Hausmann bisher nicht von seiner Ehefrau getrennt, mit der er ja bereits eine Tochter hatte. Hinzu kam, dass auch Höchs Familie, vor allem ihr Vater, ein Kind unter den gegebenen Umständen nicht akzeptierte.³⁹

    Dass Hausmann sich nicht von seiner Frau trennen konnte und wollte, evozierte bereits zu Anfang ihrer Beziehung Konflikte zwischen Hannah Höch und ihm. Doch der erste Schwangerschaftsabbruch führt zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen. Hausmann beginnt in seinen Briefen, Streit und Zwiespalt auf eine theoretische Ebene zu verschieben. Nach der Abtreibung geht es Hannah Höch gesundheitlich nicht gut. Aus der aufgewühlten Atmosphäre eines Gedichts, das sie kurz nach dem Eingriff an Raoul Hausmann richtet, spricht die psychische Anspannung, die der Abbruch in Hannah Höch auslöste. Expressionistische Sprachbilder evozieren eine düstere, todessehnsüchtige Stimmung; das lyrische Ich verwandelt sich in eine schwarze Schlange, die durch Kometen saust und von einer »Macht-Gestalt« verfolgt wird. Dem »Jäger« gelingt es schließlich, den »sprühenden« Schlangenleib zu fangen und zu halten.⁴⁰

    Von ihrem Arbeitgeber erhält sie elf Tage Urlaub, den sie bei ihrer Familie in Gotha zu verbringen plant. Ihr Entschluss war Auslöser für einen erneuten Streit. Hausmann schildert in einem langen Schreiben, wie es zu dem jüngsten Zerwürfnis kam. Zunächst spricht er offen über seine Gefühle und bekennt: »– Ich wollte Dir zwischendurch einmal sagen: ich bin so eifersüchtig – Deine Familie hast Du 26 Jahre – wir haben uns noch nicht lange – und wie kurz erst wieder –. Hätte ich’s nur gesagt.«⁴¹ Wenigstens drei Tage solle Hannah Höch »heimlich mit ihm«, verbringen. Im letzten Teil des Briefes rückt er von der Beschreibung seiner Gefühle ab. Die folgenden Passagen enthalten Hausmanns Reflexionen über die Schriften des Psychoanalytikers und Freud-Schülers Otto Gross. In diesem Brief erwähnt er den Psychoanalytiker noch nicht namentlich. Später wird Hausmann Gross wie einen Propheten für seine Argumente gegen Hannah Höch zitieren,⁴² etwa wenn er schreibt: »– deshalb will ich Dir an den Worten von Otto Gross zeigen, was ich will und wollte.«⁴³ Im Februar 1916 hatte Gross einen Essay »Vom Konflikt des Eigenen und Fremden« publiziert, den Hausmann intensiv studierte.⁴⁴


    »[...] ich kämpfe für Dich – gegen Deinen Großvater und gegen Deinen Vater. Ich sehe und höre scharf, erst durch Deine Briefe jetzt hindurch, dann durch die Geschehnisse der letzten vergangenen Zeit und ich weiß: ich muß Dich aus den Täuschungen, die Dich von klein an umgeben, befreien. Das Recht dazu gabst Du mir selbst (weil Du mich liebst) [...] – Wenn Du Dir sagst, Du seiest nicht hart und egoistisch dann ist das wahr – und wenn Du hier keinen Weg zu mir fandest, trotzdem Du mich liebst und ich Dich – dann kann ich Dir nun sagen, was Dich hindert Vertrauen zu mir zu fassen: Dein Herkommen. Von der Art Mensch, wie Deine Väter. Die Du aber im Innersten nicht bist. Das ist der Zwiespalt, das ist was Dich lähmt, das ist Dein Kampf: sieh doch: Du, Du selbst, gegen Deine Väter. Du willst werden, was sie nicht sind: ein Mensch, der weiß, was das Leben ist, ein Mensch der den Doppelblick des Lebens ertragen kann. [...] Deine Väter sind gute, aber schwache Menschen, bei allem Ruheverlangen ohne innere Ruhe und Gewissheit, ohne das stolze Wissen: mir fällt alles, was das Leben geben kann, zu – denn ich biete mich selbst dagegen – ich schone mich nicht. – Darum kann ich Deine Väter nicht lieben. Und darum sollst Du wissentlich und willentlich mir vertrauen – mich vorziehen – und Du wirst nicht daran zu Grunde gehen – weil Du mich liebst.«⁴⁵


    Den August 1916 verbringt Hannah Höch gemeinsam mit ihrer Mutter und ihren Schwestern in dem Ostseebad Brunshaupten. Hier will sie sich von den gesundheitlichen Folgen des Schwangerschaftsabbruchs erholen. Noch am Tag ihrer Abreise schreibt ihr Hausmann: »Nachdem ich Deine Hand losgelassen hatte und der Zug schon ein Stück vor mir fuhr – das tat weh, als würdest Du aus mir herausgerissen. Liebste, das war das letzte Mal, daß ich Dich fahren ließ.«⁴⁶ Zunächst ist geplant, dass er sie dort besucht. Doch auf ein Informationsblatt, das die »Bestimmungen über den Verkehr in den Seebädern im Bereich des stellv. IX. Armeekorps« enthält, notierte Höch: »Vater schickte uns: Mutter, Grete, Anni u. mich nach Brunshaupten. Zu meiner grenzenlosen Enttäuschung kam dann Hausmann nicht, der sich erst angesagt hatte.«⁴⁷ Zunächst hatte Hausmann vor, für einige Tage an die Ostsee zu kommen: »Liebste, werde mir gesund, schön, stolz – wenn ich komme werde ich geblendet sein.«⁴⁸ Doch er traute sich offenbar nicht, ihrer Mutter zu begegnen: »Wie lange bleibt Deine Mutter? Wenn bis Ende, dann wird sie meine Ankunft wohl nicht erbauen.«⁴⁹ Stattdessen fährt er Mitte August nach Böckele in Westfalen, auf das Rittergut von Herta König, wo sich auch seine Frau und seine Tochter aufhalten. Das konnte er Hannah Höch in seinen Briefen in das Seebad nicht ehrlich mitteilen. Als Hannah Höch ihn zur Rede stellt, antwortet er: »Liebe, meine Briefe sind durchaus einfach zu verstehen. Ich dachte, es würde Dir schmerzlich sein, mich in Westfalen zu wissen – nichts weiter wollte ich bitten mit dem ›stolz sein, lieb schreiben‹ – als daß Du in Gewißheit auf mich warten würdest.«⁵⁰

    Im Zusammenhang mit Hannah Höchs Abtreibung wird ihr Vater für Hausmann zum Feindbild per se: »Töte Deinen Vater in Dir!«, appelliert er an die Künstlerin im Herbst 1916.⁵¹ Bei ihr stoßen solche Losungen auf Unverständnis und Abneigung. Die Verletzungen, die er durch seine radikalen Forderungen hervorruft, gehören zu seinem Erziehungsplan: »Darauf sagtest Du unter Tränen: er will mir wohl – erinnere Dich überhaupt jenes Tages, da haben wir das obenstehende ganz prinzipiell erlebt – ganz logisch und rein sah ich, was ich von Dir fordern muß – [...].«⁵²


    Otto Gross verlagerte die Erkenntnisse der Psychoanalyse aus dem medizinischen und pädagogischen Bereich auf sein revolutionäres Gesellschaftsmodell.⁵³ Sein sozialkritischer Ansatz brachte ihm erhebliche Kritik und den Widerspruch Sigmund Freuds ein. Gross entwickelte seine Theorie in einer Zeit, in der die Psychoanalyse in der Gesellschaft und in der Wissenschaft zusehends Anerkennung und Verbreitung erfuhr.⁵⁴ Er war 1877 im österreichischen Gniebingen geboren. Sein Vater, ein bekannter Kriminologe, unterwarf ihn einer ausschließlich leistungsorientierten, strengen Erziehung.⁵⁵ Um die Jahrhundertwende bewegt sich Gross in Münchens berüchtigtem Künstlerbezirk Schwabing in den Kreisen der Boheme und der Anarchisten, wo er unter anderem Erich Mühsam und dessen Freund, den sozialistischen Schriftsteller Franz Jung, kennenlernt. 1913 kommt Gross mit seiner Frau Frieda nach Berlin und schließt sich der von Pfemfert gegründeten Gruppe »Aktion« an. Zu dieser Zeit leidet Gross bereits unter den Folgen seiner Kokainabhängigkeit. Die Gefahr, die von Kokain als Droge ausgeht, wird in der Medizin gerade erst entdeckt. Nicht nur Sigmund Freud experimentiert mit den verschiedensten Darreichungsformen bei schmerzhaften Leiden oder setzt Kokain versuchsweise als Ersatzdroge ein.⁵⁶ Im November 1913 wird Gross in Berlin verhaftet und »als geisteskranker Anarchist« aus dem preußischen Staatsgebiet abgeschoben.⁵⁷ Auf Veranlassung seines Vaters wird er in Österreich entmündigt und gegen seinen Willen in verschiedene private psychiatrische Anstalten eingewiesen. Aus Anlass seiner Abschiebung und Zwangseinweisung beginnen seine Berliner

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