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Mond der Kindheit
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Mond der Kindheit

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About this ebook

In den Dünen inmitten einer Oase in der Wüste Gobi sitzt ein alter Mann und erinnert sich an seine Kindheit. Als Teil des Kinderkreuzzugs zog er als Junge von Köln nach Israel um von dort aus weiter durch die Welt zu ziehen. Seine Reise bringt ihn schliesslich in die Mongolei, von wo er als Gefangener des Dschingis Kahn in die Wüste Gobi floh. Die Schilderungen des Protagonisten sind fiebernd und sprunghaft – wie es auch reale Gedanken sind – was dem Buch Realitätsnähe verleiht. In einer faszinierenden Bildsprache vermittelt der Autor geschichtliche Fakten, philosophische Weltkonzepte und eine märchenhafte Geschichte. Ein gelungener Roman, der durch die facettenreiche Darstellung einer sagenhaften Welt überzeugt.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateJan 21, 2016
ISBN9788711465950
Mond der Kindheit

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    Mond der Kindheit - Tor Åge Bringsværd

    Klabund)

    I

    Ich weiß, daß ich mit den Händen rede, nicht mit dem Mund. Und daß du mit den Augen zuhörst, nicht mit den Ohren. Doch für mich ist das gesprochene Wort immer am wichtigsten gewesen. Ich weiß nicht, ob Tusche und Seide genügen. Ich weiß nicht, ob ich die Menschen dazu bringen kann, über Buchstaben zu lachen und zu weinen. Deshalb sage ich lieber: Hörst du, daß ich dir etwas zuflüstere? Denn du hast das Siegel erbrochen, hast den Deckel zur Seite geschoben ... Und ich habe meine Stimme auf dem Boden dieses Tonkruges versteckt.

    Kann ich es so sagen?

    Ja.

    Zum erstenmal seit langem kann ich sagen, was ich will.


    Dschingis Khan fragte einmal seine Offiziere: »Was auf der Welt vermag einem Mann größten Genuß und höchstes Glück zu geben?«

    Sie antworteten ihm: »Die weite Steppe, ein klarer Tag, ein schnelles Pferd unter sich.« Und nach kurzer Besinnung: »Und ein Falke auf der Hand, um Hasen aufzuschrecken.«

    Aber Dschingis Khan schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er zu ihnen. »Deine Feinde zermalmen, sehen, wie sie dir zu Füßen fallen, ihnen alles nehmen, was sie besitzen, auf ihren Pferden reiten. Die Gesichter, die ihnen teuer waren, in Tränen aufgelöst sehen. In den Armen ihrer Frauen und Töchter ruhen. Das ist das Beste!«


    Solche Bilder sehe ich. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf.


    Ich erinnere mich an ein Kloster. Es lag in einem engen Tal zwischen großen Granit- und Schieferfelsen. Den Namen habe ich vergessen. Und den Ort würde ich nie wiederfinden. Wir wurden mit Wimpeln, Fahnen, Trommeln und Gongschlägen willkommen geheißen. Die große Gebetsmühle war elf Fuß hoch und hatte einen Umfang von vier Faden. Zwei Mönche saßen da und drehten sie, von Sonnenaufgang bis Mitternacht – jahraus, jahrein. Bei jeder Umdrehung läutete ein Glöckchen. Die Mühle machte zehntausend Umdrehungen pro Tag und war mit Millionen von Gebeten gefüllt, geschrieben auf dünnes Papier. Hier sah ich auch zum erstenmal das, was die Tibeter dupkang nennen. Das ist eine Eremitenhöhle. Sie lag oberhalb des Klosters, und wir mußten einen steilen Hang hinaufklettern. Der Eingang war zugemauert, und die Höhle hatte keinen anderen Zugang. Es gab nur einen kleinen Spalt knapp über dem Boden, durch den man einen Eßnapf schieben konnte. In dieser Höhle lebte seit sechzehn Jahren ein Lama. Und während all dieser Zeit hatte er nicht ein einziges Wort mit irgend jemandem gewechselt. Er hatte sich für das unwiderruflichste, für das schrecklichste aller Mönchsgelübde entschieden: für den Rest seines Lebens lebendig begraben zu sein. Jeden Morgen wird eine Schale mit tsampa und vielleicht einem Klecks Butter zu ihm hineingeschoben. Wasser bekommt er von einer Quelle im Innern der Höhle. Jeden Morgen wird die leere Schale herausgezogen und wieder gefüllt. Jeden siebten Tag bekommt er ein Quäntchen Tee und zweimal im Monat einige Holzspäne, die er mit Hilfe seines Feuersteins zum Brennen bringt. Ansonsten sitzt er in völliger Dunkelheit. Kein Schatten bewegt sich. An der Änderung der Temperatur erkennt er den Wechsel der Jahreszeiten. Aber er weiß nicht, wann die Sonne aufgeht und wann sie untergeht. Seine einzige Gesellschaft sind Käfer und Spinnen. Das einzige, was er hört, ist der Klang seiner eigenen Stimme. Die Kleider faulen ihm vom Leib. Die Haut wird fahl, das Haar lang und strähnig. Die Nägel wachsen zu stumpfen Messern. Allmählich erlischt das Augenlicht, bis er eines Tages völlig blind ist. Aber unablässig erfleht er in Gebeten und Träumen das Nirwana. So ist seine Sehnsucht nach dem Tod. So groß ist seine Verzweiflung über das Leben ... Jeder andere Mönch, der versuchen würde, mit ihm zu sprechen, wäre auf ewig verdammt. Und spräche der Eremit selbst mit einem seiner dienenden Brüder, dann wären all die Jahre, in denen er eingemauert meditierte, umsonst gewesen. Das glauben sie jedenfalls.

    Finden die Brüder die Schale eines Morgens unberührt vor, wissen sie, daß der Eremit entweder krank oder gestorben ist. Sie warten sechs Tage lang. Dann wird die Höhle aufgebrochen, denn nun kann man sicher sein, daß er tot in der Dunkelheit liegt.

    Der Tote wird herausgeholt und verbrannt. Und vielleicht nimmt der nächste seinen Platz ein ...


    Auch solche Bilder sehe ich.


    Deshalb: Wie Kinder in den Sand fassen, die Hände zur Schale formen, den Sand dreimal in die Luft werfen und sehen, was zurückbleibt, so habe ich mir vorgenommen, dieses Buch zu schreiben. Ich will die Bilder betrachten, die in meinem Kopf sind. Ohne über die Reihenfolge nachzudenken. Und der Mund soll sie beschreiben. Wie sie ihm einfallen. Und die Wörter, für die die Hand Interesse zeigt, will ich versuchen festzuhalten.

    Auf diese Weise will ich einen Zusammenhang aufspüren.

    Damit nicht alles mit einem Schrei endet.


    Sie meinen, ich hätte meine Reise in westliche Richtung fortgesetzt. Statt dessen bin ich den Karawanenwegen nach Süden und Osten gefolgt. Es wird einige Zeit dauern, bis sie mich finden.

    Ich habe diese Oase nicht ausgesucht.

    Aber ich kann hier ebensogut warten wie anderswo.

    Im Herzen der Wüste Gobi.

    An der alten Seidenstraße.

    Beim Halbmondsee.

    In der Nähe der Stadt Dunhuang.

    Vielleicht machen sie sich gar nicht die Mühe, nach mir zu suchen.


    Die großen, zimtfarbenen Sandberge erheben sich an allen Seiten. Hügel, die bis zu fünfhundert Fuß hoch werden können. Sie verändern ständig ihr Aussehen. Selbst beim kleinsten Windhauch rieselt die Oberfläche dieser Dünen wie der Sand in einem Stundenglas ...


    Es hat Zeiten gegeben, da dachte ich, ich könnte nicht mehr weinen. Und Zeiten, da glaubte ich, nie mehr einen Grund zum Lachen zu finden. Doch die Tränen sind nie ausgeblieben, und das Lachen ist immer wiedergekommen. Meist dann, wenn ich es am wenigsten erwartet hatte.

    Als Schauspieler war mir das von großem Nutzen.


    Man schreibt das Jahr des Herrn 1240. Dem Kalender der zwölf Tiere zufolge war es ein Rattenjahr. Ich kam in die Hauptstadt der Mongolen – Karakorum. Eher als Gefangener denn als Gast. Als einer der vielen, die den Seiltanz zwischen Reichtum und Hinrichtung wagen wollten. Ein Parasit unter Parasiten. Krämer, Gaukler, Astrologen, Quacksalber, religiöse Schwärmer. Ügedai war noch Khagan. Aber so, wie er soff, wußte jeder, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis Magen und Kopf barsten. Auch Tschaghatai war nur ein Schatten seiner selbst. Yelü Chucai bemühte sich, das Reich zusammenzuhalten. Sein Stern war im Sinken begriffen. Nur die Erinnerung an seine Freundschaft mit Dschingis Khan hielt ihm die schlimmsten Wölfe vom Leibe, und er war nach wie vor Ügedais höchster Berater.

    Ich gehörte Yelü Chucai.

    Das verschaffte mir mehr Freiheit als den meisten andern.

    Aber im Palast-in-dem-sich-alle-Wege-treffen hatte Töregene bereits begonnen, Ränke und Intrigen zu spinnen.

    Sie wollte Güjük auf dem Thron sehen.

    Und ihr war jedes Mittel recht.


    Auch 1204 war ein Rattenjahr. Das Jahr, in dem ich geboren wurde ... Ich habe mir abgewöhnt, auf Vorzeichen zu achten. Ich verschließe die Ohren vor den Sternen. Ich lese nicht mehr in den Rissen warmer Tierknochen. Denn ich habe in drei Welten gelebt. Unter drei verschiedenen Zeitrechnungen. Und ich weiß, daß fast alles nur die Sehnsucht ist, die große Verwirrung in unserem Herzen zu lindern.

    Meine Eltern brachten mir bei, die Jahre von Christi Geburt an zu zählen.

    Später wurde ich gezwungen, von der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina auszugehen.

    Die letzten Jahre habe ich nach einem Kalender gelebt, in dem zwölf Tiernamen aufeinander folgen wie Speichen in einem Rad.

    Ich weiß, daß fast alles Wind ist.

    Trotzdem habe ich seltsamerweise oft das Gefühl, im Schatten einer Ratte zu wandern ...


    Der Halbmondsee.

    Mein Rücken ist schuld daran, daß ich hier geblieben bin. Er trägt mich nicht mehr. Jedesmal, wenn ich erwache, habe ich Angst, daß der Tag gekommen ist, an dem ich nicht mehr aufstehen kann.

    Die Menschen hier sind hilfsbereit. Niemand stellt unangenehme Fragen. Man ist an die verschiedenartigsten Pilger gewöhnt. Und ich kann für mich bezahlen.


    Vier Jahre lebte ich in Karakorum. Als Yelü Chucai starb – Friede sei mit ihm –, folgte ich der Karawane, die seinen Leichnam zurück nach Cathay bringen sollte. Es war sein Wunsch, am Fuße des Berges Wan Shan begraben zu werden. Sogar seine Feinde achteten seinen Letzten Willen. Der Wunsch wurde erfüllt.

    Ich hätte ihn gerne bis dorthin begleitet. Unter den Menschen gibt es keinen, den ich mehr bewundert habe als Yelü Chucai. Doch als sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, ergriff ich sie. Was heißt fliehen ... die ganze Welt ist bald ein mongolischer Käfig, und es ist zwecklos, an den Gitterstäben zu nagen. Mir bleibt nur, zwischen Wegmarken aus Totenschädeln herumzuirren ... in der Hoffnung, einen dunklen Winkel zu finden.


    Ich erinnere mich an den letzten Abhang. Die Füße, die keinen Halt im losen Sand fanden. Ich krabbelte mehr, als ich ging. Bis ich endlich oben war ... und im Tal unter mir den kleinen, saphirblauen Halbmond erblickte. Ich habe Seen gesehen, die genauso schön waren. Aber an dem Tag ... nach mehreren Wochen in der Wüste ... auf der anderen Seite des Sees erkannte ich den kleinen Tempel, umgeben von silbrig schimmernden Bäumen ... und auf dem Wasser schwamm eine Schar Vögel mit schwarzen Hauben ... da fühlte ich, daß es richtig war, was mir die Leute in Dunhuang erzählt hatten: Hier ... genau hier ... sei die Hintertür zum Paradies. Und Furcht ergriff mich, alles könnte verschwinden ... alles wäre nur ein Spiel und ein Trugbild ... deshalb stürzte ich los, ließ mich hinunterrutschen, den ganzen Berg.

    Im selben Moment begann der Sand zu singen.

    Ein lauter, durchdringender Ton. Tief unter mir. Als hätte ich eine Harfe im Innern der Erde geweckt und die Saiten zum Schwingen gebracht. Und gleichzeitig fing die Sanddüne an zu beben.

    Ich erschrak zu Tode.

    Ich habe fast allem abgeschworen, fremden Lehren ebenso wie meinem Kinderglauben. Aber was ich sehen und hören kann, das, was ich mit eigenen Händen greifen kann ...

    Denn auch ich glaube, daß es geheimnisvolle Kräfte gibt.

    Der Priester und seine beiden Helfer kamen mir entgegen. Alle drei lächelten und zeigten die offenen Handflächen.

    Sie betrachteten meine Ankunft als gutes Vorzeichen.

    »Du hast genau die richtige Stelle ausgesucht«, erklärten sie mir. »Wärest du etwas weiter östlich gekommen, der Ton wäre viel schwächer gewesen. Und wärest du den Hügel dort drüben heruntergekommen, hätte man überhaupt nichts gehört. Nur einige wenige Sanddünen haben eine Stimme. Die meisten sind stumm.«

    Sie nannten die Erscheinung lui-ing – rollender Donner.

    Ich sagte, ich hätte nicht gewußt, daß der Sand donnern könne. Aber sie erwiderten, daß ich den Ton hier oft hören würde.


    Und sie hatten recht.

    Jedesmal, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung bläst, ertönt in den Dünen ein Geräusch. Manchmal klingt es wie Glocken. Manchmal ähnelt es dem Schrei eines männlichen Kamels.


    Später erfuhr ich, daß der Priester noch eine andere Erklärung dafür hat. Eine, die mich mehr befriedigt. Er glaubt, es seien die Götter, die da polterten ... dieselben Götter, für die in seinem kleinen Tempel Altäre stehen und denen er gehorsam Tag für Tag dient.

    Ich selbst denke mehr und mehr an Agartha. Das unterirdische Reich. Die Zufluchtsstätte. Wo die leben, die zweimal geboren werden.

    Der Traum von Agartha ... die Hoffnung, den geheimen Eingang zu finden ... ein verständlicher Traum für uns, die wir in einem Käfig leben.


    Aber es brauchte Zeit, bis ich mich an lui-ing gewöhnte. In einer der ersten Nächte wurde ich von einem Geräusch geweckt, das wie Trommelwirbel klang.

    Ich sprang auf.

    Der Priester hörte mich und rief: »Keine Angst, mein Bruder. Das sind nur die Trommeln unserer Sandhügel. Beruhige dein Herz.«


    Was bedeutet ein solcher wie ich für die Mächtigen in Karakorum? Warum sollten die Mongolen mir Soldaten nachschicken? Wen kümmert schon ein fremder Gaukler, der nicht mehr auf dem Marktplatz tanzt?

    Ich bitte um Zeit, damit ich diesen Tonkrug mit meiner Stimme füllen kann.

    Ich bitte um Zeit, damit ich ausreden kann.

    Und ich bitte darum, daß einmal ein Mensch dastehen und zuhören möge. Einer, der meine Sprache versteht.


    Fremder, der du mein Grab geöffnet hast ... trage ich noch das braune Gewand? Habe ich noch ein Gesicht? Oder bin ich nur ein Häufchen vermoderter Gebeine, nur ein grinsender Totenschädel?

    Ich weiß weder Tag noch Stunde. Ich weiß nicht das Jahr. Vielleicht bin ich nur ein entferntes Echo aus längst vergangener Zeit.

    Aber du hörst, daß ich dir zuflüstere?


    Ich bin Wolfgang.

    Eines der Kinder von Hameln.

    II

    Was wirklich geschah, geriet in Vergessenheit.

    Denn als die Trauer zu einer Scham wurde, die mitzuteilen keiner mehr für nötig fand, dachten sich die Menschen eine andere Geschichte aus.


    Wie lange dauert es, um aus einem Mönch einen Rattenfänger zu machen? Wie viele Jahre sind erforderlich, damit aus einer hohen, kreischenden Stimme Flötentöne werden?

    Ich habe gehört, wie man mein eigenes Schicksal erzählte. Als eine Lüge. Schon zur Sage verzerrt.

    Aber ich tadle niemanden.

    Auch ich lasse meine Zunge gerne Abkürzungen nehmen. Übertreiben. Bilder und Gleichnisse benutzen. Wie hätte ich sonst Schauspieler werden können? Und wenn sich die Gedanken nicht jedesmal, wenn ich mich näherte, im Dornengestrüpp verheddert hätten ... wer weiß ... vielleicht wäre auch ich in Versuchung geführt worden ... ein Maskenspiel aufzuführen ... aus der Geschichte der Stadt, die so furchtbar von Ratten heimgesucht war, eine Posse zu machen ... mit lauten Schreien und grotesken Gebärden? Ich sehe die Möglichkeiten. Hätte Mika noch gelebt, wir hätten sie zusammen machen können. Für uns zwei wäre das ein leichtes gewesen. Wir hätten Menschen spielen können, verdreckte und abgerissene, reiche und satte – und wir hätten zeigen können, wie die Angst sie langsam und flüsternd fesselt, unsichtbare Fäden, die zu Tauen und starken Trossen werden ... bis die ganze Stadt ein einziger heulender Knoten aus Angst ist. Denn die Ratten sind überall. Kratzen an Fußböden und Wänden, huschen unter den Matratzen hervor, nagen in jedem Vorratskeller, treiben halbtot im Brunnenwasser. Und wir wären ohne Puppen und ohne kleine, graue Lederreste zurechtgekommen ... wir hätten uns mit raschen Blicken, Pfeiflauten und erschreckten Zeigefingern begnügt ... trotzdem hätten alle sie gesehen, deutlicher, als wären sie wirklich da, größer, gefährlicher und ekliger. Denn so hat der Herr unser inneres Auge geschaffen, pflegte Mika zu sagen. Ohne dieses Auge kann man kein Theater machen, und erst wenn es aussetzt, sind wir wirklich blind ... Unsere Ratten sollten tanzen, pfeifen und die Zähne fletschen – und der Platz, wo wir standen, sollte sich langsam in den Marktplatz von Hameln verwandeln ... in jenes Reich der Deutschen, das mir heute ebenso fern und unerreichbar erscheint wie der Mond. Ich weiß, daß die Bilder, die ich mit mir herumtrage, nie etwas anderes als Scherben waren. Trotzdem werde ich mich niemals zurücksehnen. Und im Theaterspiel könnte ich dort sein, die rote Maske aufsetzen und Bürgermeister sein, schlau und hinterlistig. Und Mika könnte die Menge der Stadtbewohner sein, die schrien, weinten, fluchten und an die Rathaustür hämmerten. Denn war ich nicht der Verantwortliche? War ich nicht der Bürgermeister? War es nicht meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Bedrohung des Schwarzen Todes beseitigt wurde? Aber nichts half. Bis eines Tages ... und ich sehe Mika im schwarzen Umhang mit dem roten Futter, den hohen Stiefeln und der Feder am Hut ... bis eines Tages der Rattenfänger in die Stadt kommt. Er verspricht, uns von der Plage zu befreien. Wir handeln einen Preis aus. Einen zu hohen Preis. Aber wenn die Ratten nicht verschwinden, wer weiß, ob ich wiedergewählt werde, und außerdem: Wer sagt denn, daß ich bezahlen muß? Sind die Ratten weg, dann

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