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Der Pflug Gottes
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Der Pflug Gottes

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Der Pflug Gottes ist das Kreuz. So erkennt der dänische Priester und Dichter Peter Schindler in dieser Lebensbeichte seinen von Glück und Gnade überleuchteten, aber immer auch von Schmerz begleiteten Weg. Er erzählt mit unbestechlichem Wahrheitswillen seine Erlebnisse in Italien, Deutschland und Holland, von den archäologischen Reisen zu den Stätten des antiken Christentums und gibt uns Einblicke in sein reiches Schaffen.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateDec 25, 2015
ISBN9788711446157
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    Der Pflug Gottes - Peter Schindler

    bewahrt.

    Erstes Kapitel

    Theologie auf eine dritte Weise

    Es war ganz zeitig im Frühjahr, im März 1914, als mich der Expreßzug südwärts durch Deutschland und Österreich über den Brenner nach Italien brachte. In diesen jungen Jahren reiste man ja ohne Rücksicht auf Gesundheit und Kräfte Tag und Nacht hindurch, ohne Aufenthalt. Wie später so oft, empfand ich die Wohltat des einsamen Reisens: die Freude an der schnellen Fahrt, den Rhythmus der Räder auf den Schienen, die wechselnden Landschaften, die einen nicht in frommen Gedanken stören, während man die Perlen des Rosenkranzes in der Rocktasche zählt. Das Ununterbrochene, Unaufhörliche, das ständig Wechselnde und doch ständig Gleiche – wie war das lindernd nach dem Schmerz des Abschieds, heilend für die Wurzelfasern, die aus der Erde gerissen worden waren!

    Kaum war ich in die Kirche aufgenommen, als mich Pater Bannwart dem Bischof v. Euch – damals schon einem Greis von fast 80 Jahren – vorstellte und seine Einwilligung erreichte, mich nach Rom, in das Sacrum Collegium de Propaganda Fide zu senden, wo Missionare der ganzen Welt ausgebildet werden und wo auch unser armer Missionsbischof einen Freiplatz besaß. Von irgendeiner Wahl konnte nicht die Rede sein, die »Propaganda« war die einzige Möglichkeit. Hier hatten auch die wenigen anderen aus Dänemark stammenden Priester ihre Ausbildung genossen. Allerdings war das schon lange her. Aber einen gab es doch, der eben erst frisch von Rom gekommen war und in Nyborg saß. Diesen, meinte der Bischof, sollte ich aufsuchen, um mich über die Verhältnisse im Collegium zu orientieren.

    Da der »schwarze Mads« jetzt, wo ich formell Katholik geworden war, meine Feder in seiner »Volkslektüre« nicht mehr länger haben wollte, fand er mich für eine mehrjährige Mitarbeit, die ihm unter seinen Zeitungsausschnitten oft den einzigen Originalbeitrag eingebracht hatte, mittels einiger schlecht bezahlter Vorträge in den äußersten Winkeln des Landes ab. Ich hatte Johannes Jörgensen im Schreibstil nachgeahmt und tat es jetzt auch in der Vortragsweise; ich hatte mit seinen Augen gesehen und sprach jetzt auch mit seiner Zunge – es war reine Affektiertheit! Auf diese Weise kam ich denn auch nach Nyborg und suchte den Geistlichen auf, der in der Dachkammer einer von Ordensschwestern geleiteten Privatklinik hauste. Ich fand ihn in dem langen schwarzen Talar, Dogmatik studierend. Ich drückte mein Erstaunen aus, daß er dieses Studium nicht in Rom zu Ende gebracht hätte. Auf seine Frage, was er denn sonst anfangen sollte, meinte ich freiweg: »Zum Beispiel missionieren!«

    Er entgegnete, hierzu sei unter den gegebenen Umständen wohl keine Möglichkeit, und als ich ihn fragte, ob man ihm diese Kunst denn nicht in der »Propaganda« beigebracht habe, erhielt ich zur Antwort: Nein, man habe ihnen dort nur Philosophie und Dogmatik beigebracht, aber etwas derartiges wolle ja in Nyborg niemand hören!

    Ob er denn nicht in den Lokalblättern schriebe und ab und zu öffentliche Vorträge hielte, fragte ich. – Nein, das ginge wohl nicht, wie würde man das aufnehmen, und würde überhaupt jemand kommen?

    Ich meinte, daß man das eigentlich nicht wissen könnte, bevor man es versucht hätte, und dachte dabei im stillen an die Heilsarmee, die vielleicht schwächer in Philosophie und Dogmatik, aber gewiß nicht so hilflos war.

    Er zeigte mir die Kapelle, die in zwei ineinandergehenden Zimmern eingerichtet war, Altar und Bänke im Krankenhausstil weiß lackiert, bunte Gipsheilige mit »Nonnenstickereien« ringsum auf kleinen Postamenten. Nein, er hatte recht, hierher zu kommen, konnte man die Leute wirklich nicht einladen, nicht weil alles fremdartig, sondern weil es überhaupt nichts war: süßlich, ganz ohne Stil und Gepräge und Persönlichkeit, völlig fade und kalt. Ohne nähere Auskünfte zu suchen oder zu erhalten, verließ ich den hilflosen Mann. Wenige Monate später legte er sein Amt nieder und sagte der Kirche Lebewohl – wie man sagte, durch Höffdings Religionsphilosophie dazu getrieben.

    Auf dieselbe Weise kam ich nach Silkeborg, wo ich den Samstagabend und den größten Teil des Sonntags zu meiner Verfügung hatte. Ich hatte schon etwas von der dortigen Kirche und ihrem Pfarrer gehört. Wenn er nach Kopenhagen kam und in Ballins Volkshochschule sprach, hatte er keinen geringen Widerhall. Alte Damen verließen entrüstet das Lokal, wenn er sich in allzu drastischen Wendungen bewegte, und er selbst war empört, daß man ihn auf Zimperliesen losgelassen hatte. Seine Kirche war der Gegenstand des Gespräches im ganzen Land. Er hatte sie selbst gebaut und mit mehr Zinnenkränzen versehen, als den einfachen Wänden aus rotem Backstein guttat. Das Licht fiel von hinten durch ein Fenster in der Art von Fliegenaugen herein; das weißgestrichene Innere der Kirche hatte er selbst mit Fresken dekoriert, von denen man sagte, sie seien mit viel Glauben und Liebe gemalt – ach, wären sie doch mit einem Mindestmaß von Talent gemalt gewesen! Das war nicht heilige Einfalt, nicht das bescheidene Können des Amateurs, nein, es war Dilettantismus, und man sah, daß der Dilettant selbst noch stolz auf sein Werk war. Altar und Kanzel waren aus roten Ziegelsteinen errichtet, aber ohne jede Proportion zueinander und zum Kirchenraum. Das Ganze lag jenseits der Grenze des Komischen, es wirkte nur peinlich. Als Mogens Ballin noch lebte, hatte er mich einmal davor gewarnt, meinen Weg über Silkeborg zu nehmen; denn der Priester dort sei auf Lob erpicht. Ballin meinte mit Recht, einem lutheranischen Pastor würden derartige Blamagen erspart bleiben; denn wenn er selbst auch keinen Geschmack und kein Schamgefühl im Leibe hätte, hätte er doch immerhin – eine Frau, und die würde ihn ja wohl davor bewahren, sich zum Gegenstand von Spott und Mitleid zu machen.

    Aber das Hauptbuch des Pfarrers von Silkeborg hatte auch eine Kreditseite, wenngleich die Beträge, die auf ihr eingetragen standen, eher in der himmlischen Bank gebucht wurden als in jener irdischen, in der wir unser bürgerliches Ansehen abheben. Der biedere, derbe, auch mit einem derben Mundwerk behaftete geistliche Herr, der nicht nur malte, sondern dazu noch dichtete (und das nicht viel besser als jenes), hatte das Unglück gehabt, sich ein gewisses Mißfallen des vornehmen, taktvollen und an der Tradition hängenden Bischofs zuzuziehen. Das konnte niemanden wundern, der beide kannte. In solchen Fällen geschieht es wohl zumeist ganz von selbst, daß ein Geistlicher kein so bedeutsames Arbeitsfeld zugewiesen bekommt, wie es seiner Eignung und Art am besten entsprechen würde, sondern in eine »Vertrauensstellung« mit »schwierigen Verhältnissen« versetzt wird, in die man sonst niemanden anderen beordern kann. Ist der Betreffende klug, dann sagt er »danke schön« und freut sich darüber, jetzt für all seine Lebtage ein ungestörtes und unbemerktes Eremitendasein führen zu können; er darf nur keine Unterstützung erwarten.

    Dieser Priester also war – nach einem mißglückten Versuch, bei einer verwitweten Baronin mit sehr selbständigen Meinungen »Hofkaplan« zu werden – in Silkeborg gelandet. Man hatte ihm eine entlegene Villa gekauft, in der er Pfarrhof, Kapelle und Schule einrichten und gefälligst mit ganzen achthundert Kronen im Jahr – man schrieb 1914 – existieren sollte.

    Er schwur sich, so nehme ich an, daß es eine Kirche mit Turm, Glocken, Orgel und einem Giebel mit Zinnenkranz werden sollte, denn das war dänisch; so dänisch, wie er selbst und die Wilden Männer im dänischen Reichswappen waren, die er in bezug auf Haar- und Barttracht nachahmte. Wie diese fauchte er gegen alles Deutsche im dänischen Katholizismus – und das heißt so ziemlich gegen alles, was vorhanden war. Er hungerte sich in einigen Jahrzehnten eine Tuberkulose an, die ihn in ein zu frühes Grab brachte; er sparte im Winter Kohle, die er durch ein paar zwischen Anzug und Wäsche gesteckte Zeitungen ersetzte; er besorgte seinen Haushalt selbst und versagte sich Ferien und Vergnügungen; sein einziger Luxus war der billigste Knasterund selten einmal ein Buch. Mit all dem gelang es ihm tatsächlich, dem Bischof eine schuldenfreie Kirche zur Einweihung zu präsentieren.

    Diesen Mann mußte ich ganz einfach besuchen! Ich klingelte an der Tür. Er kam in Pantoffeln und schlotternden Kleidern herangeschlurft, nicht aszetisch, sondern verhungert und tuberkulös anzusehen, keine tragische, sondern eher eine pathologische Figur; es waren ja die Merkmale Christi, die er an seinem Leibe trug! Ich gewann ihn sofort lieb. Unter dichten Haarbüscheln guckten mich zwei scharf forschende Augen an, die sich nicht durch Höflichkeit oder Falschheit bluffen ließen. »Sind Sie von jemandem drüben in Kopenhagen geschickt worden, dann sagen Sie es gerade heraus, und auch, was Sie wollen!« Nein, ich käme von selbst, wollte ihn nur kennenlernen und bei ihm morgen zur Messe gehen. Er faßte sofort Vertrauen und führte mich hinauf in seine Höhle, einen großen Raum im obersten Stockwerk des ganzen Pfarrhofes, ohne ein einziges Fenster. Er zog an einem Strick, der von der Decke herabhing, und nun öffnete sich eine Klappe vor einem Dachfenster und ich sah, daß er auch hier an den drei Wänden – die vierte wurde von einer eingebauten Koje wie in einer Kajüte eingenommen – Fresken gemalt hatte, Ansichten von Rom, bevölkert mit seinen alten Kameraden von der »Propaganda«: Chinesen, Negern, Indern, Abessiniern und Kanadiern ... und das Licht verriet eine wilde Unordnung von Papieren, Büchern, Malutensilien, Tabak und Kleidungsstücken wie in einem Atelier auf dem Montmartre oder in einer Seemannskabine.

    Es wurde selbstverständlich ein römischer Abend mit viel Tabak, schwarzem Kaffee und Herzlichkeit. Aber ich beobachtete auch bei ihm, was ich noch bei anderen »alten Römern« unter den Priestern feststellen sollte, daß sie nämlich noch im Rom der ersten Zeit Leos XIII. lebten und der Entwicklung gar nicht gefolgt waren. Sie hörten zwar gern von dem Neuen, das dort unten vor sich gegangen war, fielen aber gleich wieder in die Vergangenheit zurück, in die Zeit, von der es heißt, »Als ich ein Mädel war, da hat es noch Mädel gegeben!« Ich brach spät auf, denn er hielt mich zurück, und am nächsten Morgen begab ich mich von meinem Hotel in seine Kirche.

    Er hatte soeben selber die Glocken geläutet – wie er auch selbst die Kirche rein hielt, denn es gebrach an Mitteln – und verschwand jetzt in die Sakristei. Die Uhr schlug zehn, aber so viele waren unser nicht, nur neun Seelen. Er las eine stille Messe, denn es gab kein Geld für Organisten und Chor; aber seine »stille« Messe war fast so laut wie das Hochamt anderswo. Sie war kein italienischer Galopp, auch keine Routinesache: jedes Wort war voller Ernst und tiefem Sinn – so, dachte ich, müßte man wohl seine letzte Messe lesen, wenn der Tod nahe ist. Und dann predigte er – und meinetwegen (aber vielleicht nicht der anderen wegen, die ihn jeden Sonntag hörten) hätte er noch lange so fortfahren können. Dies war das Evangelium, und zwar ein ganz persönlich erlebtes! Er sprach von der »Freiheit«: daß wir Katholiken die freiesten Menschen der Welt seien, denn wir kennten keine andere Beschränkung jener herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, zu der uns Christus verholfen habe, als diejenige, die Gott selbst vorschreibe. Ob wir Glaubensfreiheit hätten? Ja, die Freiheit, alles zu glauben, was Gott uns gelehrt habe, und alle menschlichen Einfälle zu verwerfen. Ob wir Redefreiheit hätten? Ja, eine ebenso große wie die Engel: Gott zu lobpreisen und zu bekennen, ihm zu danken und zu ihm zu beten, aber niemals, das Wort gegen Gott zu gebrauchen. Ob wir Handlungsfreiheit hätten? Ja, zu all dem Guten, wozu wir Lust hätten ...

    Es war paradox, es war aufreizend, aber es war wahr. Ich mußte ihm hernach in der Sakristei danken; denn dies war solides und klares Dänisch, meilenweit entfernt von der vorsichtigen, entschuldigenden Apologetik, wie man sie sonst in den Büchern las und in den Kopenhagener Kirchen vernahm – und es waren nur neun Menschen, die ihn hören wollten! So also waren die Arbeitsverhältnisse eines katholischen Priesters in Dänemark im Jahre 1914.

    Er war erfreut über meinen Dank, konnte es sich aber nicht versagen zu fragen, was ich denn von seiner Kirche hielte. Sie sei jedenfalls nicht deutsch, sondern dänisch, antwortete ich. Und nun dankte er mir, weil ich keine Begeisterung heuchelte, die ich nicht empfand, und weil ich seine Absicht, nach dänischer Art zu bauen, verstanden hätte. Ich hielt mich für zu jung, um ihm zu sagen, wie sehr ich das Opfer bewunderte, das in jedem Ziegelstein steckte: jeder von ihnen war ein Bissen, den er sich vom Mund abgespart hatte, ein Stück Kohle aus seinem Ofen. Ich hatte auch später nie Gelegenheit, es ihm zu sagen; aber ich war entrüstet – und das konnte ich ihm mitteilen –, als ein ausländischer Kollege, sobald der alte, kranke, schon vom Tod gezeichnete Mann allzu spät in eine »fette Pfründe« versetzt worden war, sich beeilte, seine Fresken zu überstreichen und seine Kanzel sprengen zu lassen – ja, sie mußte wirklich gesprengt werden. Was von dem neuen und »vernünftigeren« Mann dann zu hören war, war jedenfalls geringer an Gewicht als das Zeugnis des alten Martyrers.

    Dies war es also, was ich vom dänischen Katholizismus kennengelernt hatte, bevor mich der Zug nach dem Süden führte. Aber ich glaubte, schon ein paar von den Gesetzen erraten zu haben, die beachtet werden mußten, wenn meine Landsleute von Rom überhaupt Notiz nehmen sollten. Eines dieser Gesetze bestätigte mir Johannes Jörgensen. Als er und Mogens Ballin mit Jan Verkade, dem späteren Beuroner Mönch, über die Mission in Dänemark sprachen, hatte der Pater gesagt: »Wenn ihr zurückkommt, müßt ihr die Kirche in all ihrer Würde zeigen!« Man konnte vielleicht sagen, daß dies einigermaßen in der St.-Ansgar-Kirche in Kopenhagen, in der Stenostraße bei den Jesuiten, in Aarhus und draußen in der traulichen St.-Andreas-Kirche in Ordrup verwirklicht war – der Rest war immer wieder Nyborg, wenn nicht ärger, und selbst die zuerst genannten Stätten zeigten im Jahr 1914 noch ein entscheidend ausländisches, im besonderen deutsches Gepräge. Dies in den zwei Künstlerbiographien »Mogens Francesco Ballin« und »Chresten Skikkild« gesagt zu haben, wurde mir später vorgeworfen; aber es war die bittere Wahrheit, die augenscheinlich nur der hilflose Priester in Silkeborg verstand. Man hatte keine Berührungsfläche mit dänischem religiösen Geist, ja man hatte noch nicht einmal Ansatzpunkte dazu gefunden.


    Diese Gedanken erfüllten mich, als mein Auge die dänische Küste außer Sicht verlor und sich Rom zuwandte, und sie lenkten mich von der Erinnerung an den peinlichen Abschied im Elternhaus ab. Mein Vater hatte mir nichts anderes zu sagen als: »Du hast mir das größte Leid meines Lebens zugefügt«, und ich hatte ihm nichts anderes zu antworten als: »Ich habe gehandelt, wie ich handeln mußte.« Zwanzig Jahre später sollte der Tod uns trennen, bevor ich ihn und – wie ich glaube – er mich wiederfand. Mutter war voll Wehmut über das Unbegreifliche: war denn all dies nun wirklich notwendig? Zwischen uns blieb die Verbindung bestehen, aber, solange Vater lebte, eher wie zwischen einer lieben Tante und einem guten Neffen; Vaters Schatten fiel zwischen uns, bis er ins Licht, das ewige Licht einging.

    Ohne Elternhaus und Familie – meine Schwestern waren in alle Winde verstreut – hatte ich nur noch ein herzliches Verhältnis, das zu Holger, der auf Bornholm saß und sich auf den Lehrerberuf vorbereitete. Ich war hinübergefahren und hatte ihn mitten im Winter besucht, so daß wir zusammen mehr Stunden in den traulichen Stuben bei ihm und seiner Mutter verbrachten als in der rauhen Natur. In religiöser Beziehung wand und krümmte er sich, wollte sich nicht ergeben und konnte sich doch nicht losreißen. Aber selbst diese Spannung band uns nur enger aneinander; war ich David, war er mein Jonathan, und unsere Freundschaft war und blieb in Gott gegründet. Seine Freundschaft und die Liebe seiner feinen, milden Mutter hatte ich bitter nötig. Diese liebevollen Seelen waren mir so nahe, während ich südwärts »durch die lieblichen Reiche« fuhr, und all die gute Musik, die ich bei ihnen immer gehört hatte, klang mild in meiner Seele nach.

    Im übrigen war ich ein Kampfhahn oder wenigstens ein Kampfhähnchen gewesen und hatte in einer Diskussion im dortigen Lehrerseminar mächtig vom Leder gezogen. Auch auf dieser fernen Insel erlebte ich eine Überraschung. Als ich auf Wunsch für das dortige winzige Lokalblättchen etwas schrieb, bezeichnete man mich als den »bekannten P. S.« Ich betrachtete das zwar nicht schon als einen Schritt zur Weltberühmtheit, zu der Johannes Jörgensen auf dem besten Wege war, entdeckte aber doch, daß man auch außerhalb des Freundeskreises auf mich aufmerksam geworden war. Dies verdankte ich also dem üblen Mads, und darum nichts Schlechtes mehr über ihn!

    In Florenz gönnte ich mir ein bis zwei Tage, die gut angewendet wurden: Bronzepforten, Goldgrundtafeln, Skulpturen und einige Dutzend Botticellis, Tizians, Rubens und Ghirlandajos wurden aufs neue verschlungen, ohne daß es der Verdauung abträglich gewesen wäre. Eine Wallfahrt wurde zu der Lampe in Fiesole unternommen und ein Gebet für Mogens Ballins Kinder verrichtet. Und dann ging es nach Siena, wohin mich J. J. zu einem Aufenthalt auf dem Wege nach Rom eingeladen hatte. Wehmut über den Tod von Mogens Ballin, der gemeinsame Wille, sein Werk fortzusetzen, und die Freude über unser Wiedersehen vermengten sich miteinander. Pater Felix war uns ein guter Freund, und bald schlug Siena wieder seinen Mantel um mich; an wenigen Stätten fühlte ich mich so daheim wie dort.

    Ich sollte gefirmt werden, bevor ich mich in Rom vorstellte. Johannes Jörgensen sprach darüber mit dem Erzbischof Prosper Scaccia, dem feinen, edlen, hochkultivierten Kanzelredner. Wie zu erwarten, fragte er mich, ob und wo ich getauft sei, und da nicht anzunehmen war, daß er ein größeres Vertrauen zu Pastor Jungersen von der Kopenhagener Wahlgemeinde hatte, als Jungersen zu ihm, erklärte er pflichtgemäß, er sei nicht sicher, ob eine solche Taufe Gültigkeit habe. – Jawohl, aber ich sei doch in die Kirche aufgenommen worden! – Gewiß, aber könnte ich ein Dokument hierüber vorlegen, mit Namen und Siegel der kirchlichen Behörde? – Nein, streng genommen hatte ich nur ein deutsches Andenkenblatt mit einem frommen dänischen Text (»Sei getreu bis in den Tod«), dem Datum und Pater Bannwarts Namen darauf; eine Urkunde war das aber nicht. – Nun, so müßte er mich vor der Firmung mit der Formel »Wenn du nicht getauft bist, taufe ich dich jetzt ...« zuerst bedingungsweise taufen. Es wurde betont, daß dies nur der Sicherheit wegen geschehe und keine Verwerfung meiner eventuellen Taufe bedeuten sollte. Ich weigerte mich indes mit der Begründung, daß ich an unum baptisma, eine einzige Taufe glaubte und mit der vorgeschlagenen Zeremonie alle die beschämen würde, die mich zur Taufe gebracht hätten, wie überhaupt alle anderen Getauften in meinem Vaterland. Ich zog es daher vor zu warten, bis ein formelles Zeugnis mit Namen und Siegel des Bischofs v. Euch vorlag. Dieses verschaffte mir Pater Bannwart auf eine eilige Zuschrift hin, und nun erklärte sich der Erzbischof zufrieden.

    In seiner kleinen traulichen Kapelle salbte er mich und machte unter apostolischer Handauflegung das Kreuz über mich. Als Firmnamen wählte ich Francesco Giovanni, in dankbarem Gedenken an alles, was Mogens Ballin und Johannes Jörgensen für meine Seele getan hatten.

    Das Erlebnis mit dem Zeugnis veranlaßte mich Jahre später als Priester, große solide Doppeltaufscheine in Dänisch und Lateinisch mit Siegel und allem Zubehör drucken zu lassen, die ich meinen Konvertiten ausfertigte, damit sie nicht vor dem gleichen Dilemma stünden wie ich. Nach Überwindung des obligaten Widerstandes wurden diese Formulare genehmigt und allgemein eingeführt.

    Nun war ich also vollerwachsener Katholik mit der Befähigung zum Studium in Rom, um dann meine Tätigkeit in Dänemark beginnen zu können. Es war ihretwegen, daß ich die Theologie wiederaufnahm, und nicht der Theologie selbst wegen; denn weit mehr als Philosophie, Dogmatik und Moral interessierten mich Mystik und Hagiographie – die Seele der Kirche in ihrer Geschichte –, mit denen sich auch Johannes Jörgensen beschäftigte. Aber sechs lange Jahre theologisch-philosophischen Studiums und aszetischer Erziehung im Kolleg sollten der Weg sein, um meinen Landsleuten in Dänemark von dieser Seele künden zu dürfen. Ich war bereit. Bischof v. Euch hatte mir ein Empfehlungsschreiben an Kardinal Gotti, den »Roten Papst« und Leiter der Kongregation der »Propaganda« mitgegeben; ich sollte mich damit eines Vormittags bei ihm melden. Mit Johannes Jörgensens, Pater Felix’ und Erzbischof Prospers Segen zog ich denn ab, gerüstet zu einem neuen, langen Lebensabschnitt, der, wie ich wußte, voller Opfer sein würde.


    Am Abend kam ich in Rom an. Um nahe an meinem Ziel zu sein, stieg ich in einem äußerst bescheidenen Hotel gleich bei der Kirche San Silvestro in Capite neben dem Hauptpostamt ab. Am nächsten Morgen begab ich mich nach der Messe mit meinem Empfehlungsschreiben in der Tasche zur Piazza di Spagna, vielleicht dem lieblichsten und zugleich prunkvollsten aller römischen Plätze. Ich gab Visitenkarte und Brief bei dem Diener des Kardinals ab. Einen Augenblick später führte mich ein geistlicher Sekretär durch eine lange Reihe von Zimmern in den innersten Salon, wo mich der Kardinal erwartete. Nach Kniebeuge und Handkuß erhielt ich meinen Platz auf einem Sofa angewiesen, während sich der Kirchenfürst in einen Lehnstuhl mir gegenüber setzte. Ich kannte seine Verdienste um die Kirche nicht und kenne sie auch heute noch nicht; sie mußten weit zurückliegen, denn der Mann, dem ich gegenübersaß, war kein Greis, sondern ein völlig erloschener Mensch. Man hatte mir gesagt, daß er als alter Karmelitermönch ein strenger Aszet sei. Das hatte mich wenig für ihn eingenommen; denn nur allzu oft ist ein »Aszet« eine Persönlichkeit, die die Härte gegen sich selbst auf die anderen überträgt. Offen gestanden hatte ich oft schon Menschen, die wegen ihrer Aszese gerühmt wurden, als äußerst unangenehm empfunden.

    Es war denn auch kein Lächeln in den Augen dieses Mannes, keine Glut innerer Wärme, kein Herz hinter der Stimme; er wirkte überhaupt gar nicht wie ein Lebewesen, sondern wie einer, in dem alles Menschliche, ja alles Leben erstorben war – eine Mumie, die nur ab und zu einen inquisitorischen Blick aus den sonst todmüde geschlossenen Augen aussandte und deren Stimme nur ein scharfes Flüstern war: zu mehr reichte die Kraft nicht. Er las das Schreiben des Bischofs, konstatierte meine Identität (»Nun, das sind Sie also!»), faltete den Brief zusammen, legte ihn wieder in den Umschlag und gab ihn mir zurück: »Wie alt sind Sie?« – »Zweiundzwanzig, Eminenz.« – »Und Sie haben auf einer protestantischen Universität studiert?« – »Ja, Eminenz.« – »So ist es unmöglich, ich kann Sie nicht aufnehmen, Sie sind zu alt.« – Ich war betroffen: »Eminenz, das ist der einzige Fehler, den zu ändern nicht in meiner Macht steht. Aber ich habe den besten Willen, mich in allem der Disziplin des Kollegs zu unterwerfen.« – Leidenschaftlos kam die Antwort von schmalen, blutlosen Lippen, die sich wie ein Schnappmesser schlossen: »Das nützt nichts. Hier will ich meine Leute direkt von der Schule haben, damit wir sie von Grund auf formen können. Dies sollte Ihr Bischof wissen. Vous êtez trop vieux, Monsieur!«

    Da lag nun alles, was ich aufgebaut hatte, nein, alles das, was Gott aufgebaut hatte, in Trümmern. Ich erhob mich schnell: »So will ich Euere Eminenz nicht weiter stören.« Ich verbeugte mich und ging.

    Wie oft sollte ich später noch dem gleichen Phänomen begegnen, daß ein hochstehender Mann der Kirche in seinem Amt sitzen blieb, nicht nur über die Jahre der Kraft hinaus, sondern bis er so fossil war, daß man nicht nur seine Verdienste um die Sache des Reiches Gottes in den Jahrzehnten, in denen er Geist und Energie bewiesen hatte, vergaß, sondern auch sehen mußte, wie das Werk, das er in ein oder zwei Menschenaltern geschaffen hatte, unter seinen verwelkten Fingern zerbröckelte – Finger einer Hand, in der keine Kraft mehr war, wenn Menschenseelen ihr Schicksal in diese Hand legen mußten. In dieser Stunde sah ich den Fehler jedoch nicht im System, sondern in dessen Träger, so daß ich den Greis im Purpur nicht bemitleidete, sondern nur Wut über ihn empfand: ich sah nichts anderes vor mir als meine eigene Lage.

    Einen Augenblick später stand ich unten auf der Piazza in der Frühlingssonne, ganz zerschlagen, innerlich völlig gelähmt. Da es am Platz selbst keine Kirche gab, ging ich die fünf Minuten hinüber nach San Silvestro. Unterwegs durchlief ich alle Register meiner Seele. Rein naturgemäß lag es nahe, empört heimzukehren. Ich wußte, mit welchem Triumph mich Vater empfangen würde: Endlich sind dir die Augen darüber aufgegangen, wie der Papismus Seelen behandelt! Ganz unmittelbar lag auch ein anderer Gedanke nahe: Du hast im Vertrauen auf so viele Verheißungen Eltern, Heim, Besitz und alles verlassen, aber du hast das »Hundertfältige« nicht erhalten – es war nicht das ewige Licht, sondern ein Irrwisch, dem du gefolgt bist! In Fleisch und Blut lag der Trieb zu einer ungestümen, handgreiflichen Reaktion: Schreib der herzlosen Mumie da droben, was du von ihrem Christentum hältst, und dann geh hin, betrink dich und wirf dich der Fleischeslust in die Arme!

    Es dauerte nur wenige Sekunden, um alle diese Register in meinem Innern anzuschlagen und ihre falsche Musik mit einem »Ich entsage dem Teufel und allen seinen Werken und all seinem Wesen« zu quittieren; denn im gleichen Augenblick hatte sich auch schon der Glaube gemeldet. Will mich Gott prüfen, ob ich Vertrauen zu ihm habe, selbst wenn er die Wechsel seiner Verheißungen nicht sofort in bar einlöst? – Ja, aber in zwei Tagen sitzt du hier auf dem Trockenen! – Schön, so ist das eben eine noch schwerere Prüfung von seiten Gottes: ob ich ihm zutraue, daß er mir einen Raben mit einem Stück Brot in die römische Wüste schickt, wo ich keinen Menschen kenne und wo mich sein purpurgekleideter Hoherpriester wie einen unbefugten Eindringling abgewiesen hat. Gut, ich will es mit dem Mut des Glaubens wagen! Und ist es nicht eine Ehre, die mir Gott erweist, daß er mich so frühzeitig in meinem katholischen Glaubensleben auf eine so grausame Probe stellt? Jawohl, und dafür muß ich ihm danken. Ich will nach San Silvestro gehen und das Tedeum beten.

    Ich hatte das heilige Dunkel der Kirche nicht nötig gehabt, um Gott vorzujammern, für meine Seele zu flehen, mich zum Glauben durchzukämpfen – das Ganze hatte sich schon in der Via Borgonona und der Via della Mercede geklärt, so daß ich jetzt danken und mein Brot – das letzte, das ich hatte – getrost aufs neue ins Wasser werfen konnte, in der Überzeugung, daß ein Wunder es mich in wenigen Tagen würde wiederfinden lassen.

    Ich

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