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Die Mauer
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Die Mauer

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In 11 Kapiteln erzählt Jürgen Petschull die Geschichte der Berliner Mauer von Walter Ulbrichts berühmtem Satz "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten" bis zu deren Öffnung und Fall im November 1989. Der Schwerpunkt wird dabei auf die bewegten Tage des Mauerbaus im August 1961 sowie auf ihre nicht minder bewegten letzten Tage im Herbst 1989 gelegt. Zahlreiche historische Text- und Bilddokumente runden Petschulls Darstellung ab. Ein packendes Zeitdokument zum wohl einschneidendsten deutschen Trauma der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Jürgen Petschull, 1942 in Berlin geboren, ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist, der unter anderem lange Jahre für den Stern Reportagen und Serien über zeitgeschichtliche Themen verfasst hat und Chefreporter von Geo war. Heute lebt Petschull in Bremen sowie in einem Haus am Flüsschen Oste und schreibt Sachbücher und Romane, die häufig auf tatsächlichen historischen Geschehnissen basieren. Viele seiner Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt worden.-
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateJan 1, 2016
ISBN9788711460436
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    Die Mauer - Jürgen Petschull

    Die Mauer

    August 1961 – November 1989 vom anfang und vom ende eines deutschen bauwerks

    Jürgen Petschull

    Saga

    Vorwort

    Ende der Mauer – Anfang der deutschen Einheit?

    November 1989. Ganz Berlin ist eine Wolke, ein Herz, eine Seele. Nicht wiedervereinigt, doch wiedervereint.

    Am Ende hat eines der traurigsten Kapitel deutscher Geschichte überwiegend heitere Seiten: Auf der Mauer treten Feuerschlucker auf, kreisen Sektflaschen, reichen sich Polizisten (West) und Grenzsoldaten (Ost) die Hände, sinken sich Deutsche (BRD) und Deutsche (DDR) in die Arme, wird das Ende des kalten Krieges mit heißen Getränken und wärmendem Schnaps begossen. Seither beschäftigt eine Frage die geteilte Nation: War das Ende der Mauer der Beginn der deutschen Einheit?

    „Die Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper. „Ich habe meiner Tränen kaum Herr werden können, gesteht Willy Brandt. Der Chefredakteur der „Zeit, Theo Sommer, hat sein Ohr am Volke und hört heraus: „In den Herzen der Deutschen läuten die Glocken. Und als im Bundestag „Einigkeit und Recht und Freiheit angestimmt wird, da entringt sich dem Abgeordneten Hubert Kleinert der Stoßseufzer: „Mein Gott, auch das noch.

    *


    Überraschen konnte der Massenausbruch unterdrückter Gefühle kaum. Nichts hat die Deutschen so sehr getrennt wie die Mauer in Berlin, physisch, politisch und emotional. 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage lang verlief hier für die meisten von uns die Front zwischen Gut und Böse, zwischen sozialer Marktwirtschaft und sozialistischer Zwangsherrschaft, zwischen Demokratie und Diktatur.

    Für die einen war das von Hunden und Minen und von Männern mit Maschinenpistolen gesicherte Bauwerk aus Beton „die Schandmauer, errichtet von „kommunistischen Unterdrückern, die 17 Millionen Deutsche in ein riesiges Gefängnis gesperrt haben. Für andere galt es als „moderne Friedensgrenze, als „antiimperialistischer Schutzwall, als „Bollwerk gegen westliche Militaristen, Revanchisten und Monopolkapitalisten". Dabei wurde auf beiden Seiten der Mauer vergessen – oder böswillig unterschlagen –, daß nach dem Krieg engagierte Menschen in Deutschland-West wie in Deutschland-Ost eine bessere Welt bauen wollten, in der sich die Katastrophe des Hitler-Reiches nie wiederholen sollte:

    Die Deutsche Demokratische Republik war als Staat mit marxistischen Idealen gedacht, mit Gleichheit und Brüderlichkeit, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – aber mit staatlicher Planung, mit Vorrang des Kollektivs und Einschränkungen für den einzelnen. Zum Wohle aller. In der Bundesrepublik Deutschland wurde mit Hilfe der westlichen Siegermächte ein demokratisches System installiert, mit freien Wahlen, mit Meinungs- und Pressefreiheit, mit politischem und wirtschaftlichem Wettbewerb und mit Recht auf Selbstverwirklichung für den einzelnen. Zum Wohle aller.

    Der Wettkampf der Systeme, von den Supermächten USA und UdSSR in beiden Teilen Deutschlands angefacht und weiter geschürt, eskalierte zum 13. August 1961. Berlin wurde geteilt. Mitten in der Stadt wuchs die Mauer. Die jeweils von ihrer gerechten Sache überzeugten Deutschen hüben und drüben entfremdeten und verfeindeten sich noch mehr.

    Die Mauer wurde zum Monument dieser politischen Entfremdung – gleich von welcher Seite aus man sie betrachtete. Sie war Anlaß und Schauplatz ungezählter menschlicher Tragödien. Familien und Freundschaften sind durch sie zerrissen worden. Menschen wurden getötet, verletzt und ins Gefängnis gesperrt, weil sie die Mauer überwinden wollten. Ein 22jähriger Ostberliner starb noch im Februar 1989 im Kugelhagel. Er war das 80. Todesopfer.

    Für dieses Leid sind diejenigen verantwortlich, die die Mauer gebaut haben: die damaligen Machthaber in Ost-Berlin und in Moskau. Mitverantwortlich sind aber auch Politiker und Meinungsmacher im Westen, die die DDR politisch und wirtschaftlich in den Ruin treiben wollten – Konrad Adenauer und Axel Springer, um zwei herausragende Persönlichkeiten aus der Zeit des kalten Krieges zu nennen.


    Aber, so stellte sich bei den Recherchen für dieses Buch auch heraus, es ist nicht auszuschließen, daß durch den Mauerbau Schlimmeres verhütet worden ist – ein Krieg um Berlin, der schnell zu einem Atomkrieg geworden wäre. Erst als in den USA die Archive geöffnet wurden, als die Pläne der Militärs an die Öffentlichkeit kamen und Mitwirkende der Geschichte zu sprechen begannen, wurde klar, wie knapp wir alle davongekommen sind. Deutsche, Amerikaner und Russen. Der damalige US-Präsident John F. Kennedy wußte, wovon er sprach, als er wenige Tage nach der Teilung Berlins im Weißen Haus in Washington sagte, er könne die Aufregung der Deutschen nicht recht verstehen, die ein energisches Eingreifen der Amerikaner in Berlin forderten. „Es ist keine sehr schöne Lösung, sagte Kennedy, „aber die Mauer ist, verdammt noch mal, besser als ein Krieg ...

    *


    Und heute, 28 Jahre später? Herrscht nach den vom Volk in der DDR erkämpften Reformen, nach der Öffnung der Grenzen Friede, Freude, wenigstens Zufriedenheit im Lande über die unerwartet positive Wende der späten Nachkriegsgeschichte? Leider nicht. Schon sind rechte CDU-Politiker, Kanzler und Generalsekretär vorneweg, beim Ausheben alter Gräben zu beobachten. „Freiheit oder Sozialismus hieß die demagogische Wahlkampf-Devise der „Christlichen Demokraten in den sechziger Jahren. Hilfe für die DDR erst, wenn dort dem Sozialismus in allen denkbaren Formen für alle Zeit abgeschworen wird, heißt es heute. Nun sind sowohl die nun verblüffend reformfreudigen alten Parteien der DDR (inklusive der Basis der SED) ebenso wie die neuen radikal-demokratischen Volksbewegungen nicht für die Abschaffung, sondern ausdrücklich für eine „demokratische Erneuerung des Sozialismus. Wie in der Sowjetunion Gorbatschows soll auch auf deutschem Boden ein gesellschaftliches Modell in eine zweite Versuchsphase gehen: Nachdem totalitäre Kommunisten von Stalin bis Honecker ihre Völker mit Gewalt und mit Meinungsterror, durch Gefängnisstrafen und Arbeitslager, durch Mauer und Schießbefehl zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen wollten, sollen jetzt Selbstbestimmungsrecht und freie Wahlen, Freizügigkeit und offene Grenzen, mehr Leistungsprinzip und Marktwirtschaft mit sozialistischen Idealen von einem besseren, humaneren Zusammenleben in einer Gesellschaft vereinbart werden. Ein historisches, ein dramatisches, ein zerbrechliches Unternehmen, dessen Gelingen beste Absichten aller Beteiligten und aller Nachbarn voraussetzt. Denn nach dem Sturz der korrupten SED-Clique um Erich Honecker und Günter Mittag kann das Experiment „Demokratischer Sozialismus ebenfalls am natürlichen Egoismus der beteiligten Bürger scheitern – den von Marx konzipierten „neuen Menschen", der sein persönliches Wohlergehen zugunsten der Gesellschaft zurückstellt, hat es bisher bestenfalls als Prototypen, nicht aber als massenhafte Erscheinung gegeben. Wenn dennoch eine Mehrheit der Bevölkerung in der DDR eine völlig reformierte sozialistische Staatsform wünscht, sollten wir sie unterstützen. Demokratischer Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik – sozialer Kapitalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Das erst wäre ein wirklicher Wettkampf der Systeme.


    Erst wenn dieser alternative Versuch in der DDR mißlingt – erst dann ist der Sozialismus als idealistisches Modell staatlichen Zusammenlebens endgültig gescheitert. Erst danach, so meint der Münchener Historiker Prof. Christian Meier, könne die Frage der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik aktuell werden. (Nicht die der „Wiedervereinigung wohlgemerkt, denn was es so zuvor nie gegeben hat, kann auch nicht „wieder vereinigt werden.)

    Doch: „Finanzhilfen für die DDR dürfen keine Finanzierung des Sozialismus werden, hat Helmut Kohl seinen Volker Rühe verlautbaren lassen. Entpuppen sich also die jahrzehntelangen Sonntagsreden von „Hilfe für unsere unterdrückten Brüder und Schwestern drüben als das, was schon immer darin vermutet werden mußte: als Heuchelei? Es scheint, als fürchte die Bonner Nachhut des kalten Krieges (Abteilung rechter Flügel CDU/CSU) ein ernstzunehmendes gesellschaftspolitisches Konkurrenzmodell auf deutschem Boden, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie ihn der politisch wiederauferstandene Alexander Dubcek vor mehr als zwanzig Jahren in Prag proklamiert hat. Das wollen die Bonner und Münchener Deutschnationalen nicht. Sie berufen sich auch auf das Gebot des Grundgesetzes, nach dem die „Einheit der Deutschen anzustreben sei. Was das heißt? Da sind unserem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt. „Einheit der Deutschen könnte besonders enge Zusammenarbeit zweier Staaten verschiedener Gesellschaftssysteme bedeuten; oder „Vertragsgemeinschaft, wie sie der neue DDR-Ministerpräsident Hans Modrow vorgeschlagen hat; oder Kooperation auf allen Gebieten; oder eine Konföderation der beiden souveränen Staaten in einem einigen Europa, mit oder ohne Nato und Warschauer Pakt. Helmut Kohls von den Sozialdemokraten unterstützter sogenannter „Zehn-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung hat ein großes Deutschland mit sogenannten „föderativen Strukturen als Ziel. Die DDR wäre darin nicht Partner und schon gar nicht Alternativ-Modell, sondern letzten Endes ein eingemeindeter Bundesstaat.

    Der Nestor der DDR-Reformbewegung, Stefan Heym, sieht in Kohls Plan „die Ouvertüre zur Vereinnahmung der DDR. Er und seine Kampfgefährten fürchten „nach der Bevormundung durch die SED eine neue Bevormundung durch das große Geld. Wen wundert es nach den Erfahrungen in diesem Jahrhundert, daß von deutschem Boden aus ein Gespenst um die Welt geht: die Furcht vor einem von Amerikanern, Engländern und Israelis bereits sogenannten „Vierten Deutschen Reich". Von den historisch wohlbegründeten Ängsten in Polen und in der Sowjetunion nicht zu reden.

    Während im Osten Europas Entspannung nach innen und außen praktiziert wird, ist bei uns noch nicht einmal die geplante Wehrpflichtverlängerung vom Tisch. Tiefflieger terrorisieren weiter die eigene Bevölkerung und üben „Gegenangriffe gegen einen weit und breit nicht mehr auszumachenden potentiellen Angreifer. Noch immer sollen Milliarden für den „Jäger 90 verpulvert werden, noch immer ist nicht dementiert, daß neue US-Kurzstreckenraketen mit noch tödlicheren Nuklear-Sprengköpfen auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes in Schußposition gebracht werden sollen.

    Nie war der „Wahnsinn Rüstung wahnsinniger als heute: Zielrichtung all dieser Vernichtungswaffen wären auch Schwerin, Dresden und Leipzig, Orte, in denen „unsere Brüder und Schwestern noch immer den Ruf auf den Lippen haben, der schon Geschichte gemacht hat. „Wir sind das Volk ...!"

    Jürgen Petschull

    Dezember 1989

    *


    Dieses Buch will Ursachen und Folgen der Ereignisse um den 13. August 1961 aufzeigen. Und es schildert die Freude der Menschen und die politischen Ereignisse, als 28 Jahre später die Mauer als Symbol des kalten Krieges zusammenbrach, als die Grenzen von Deutschland-Ost nach Deutschland-West geöffnet wurden. Bei den Arbeiten zu diesem Buch standen mir Dokumente (vor allem aus Washingtoner Regierungsarchiven) zur Verfügung, die bisher geheim waren, und Gesprächspartner, die bisher geschwiegen hatten. Für Informationen, Hinweise und Anregungen bedanke ich mich bei Zeugen und Mitwirkenden der Zeitgeschichte; besonders bei Willy Brandt und Egon Bahr, bei Professor Arthur Schlesinger jr. (Anfang der sechziger Jahre Berater Präsident Kennedys), Foy D. Kohler (damals stellvertretender US-Außenminister) und Allan Lightner (früher amerikanischer Gesandter in Berlin).

    1. Kapitel

    10. August 1961

    „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten"

    (DDR-Staatsratsvorsitzender Walter Ulbricht)

    Für Donnerstag, den 10. August 1961, hat das Meteorologische Institut der Freien Universität Berlin eine durch das Hochdruckgebiet ‚Petroklus’ verursachte Fortdauer des sommerlich warmen Wetters vorhergesagt. Die Berliner packen die Badehosen ein. Am Wannsee ist heute auch der letzte Strandkorb besetzt. Aus den Kofferradios scheppern die neuesten Schlager. Gerhard Wendland singt „Tanze mit mir in den Morgen, Bill Ramsey schwärmt von der „Zuckerpuppe aus der Bauchtanzgruppe, das Orchester Bert Kaempfert spielt „Wonderland by Night".

    Teenager spazieren abends mit wippenden Petticoat-Röcken und Pferdeschwanz-Frisuren über die neonbeleuchteten Straßen. Junge Männer – Halbstarke genannt – tragen amerikanische Nietenhosen und kämmen sich die Locken wie ihr Rock’n’Roll-Idol Elvis Presley. Im Theater am Kurfürstendamm spielt Hildegard Knef die Hauptrolle in dem Stück „Nicht von gestern. In den Kinos ist „Das Spukschloß im Spessart mit Liselotte Pulver und Wolfgang Neuss der Lacherfolg der Saison.

    Für die bevorstehende Berliner Funkausstellung wird eine technische Neuerung angekündigt: zum erstenmal soll ein „stereophonisches Rundfunkkonzert direkt ausgestrahlt werden; zum Empfang, so heißt es, brauche man „zwei auf verschiedene Frequenzen eingestellte UKW-Geräte, von denen das eine den linken Kanal wiedergibt, während das andere den rechten überträgt.

    Sportfreunde reden über den bevorstehenden Kampf des beliebten Mittelgewichtsboxers Bubi Scholz gegen einen farbigen Südamerikaner. Uwe Seeler wurde „Fußballer des Jahres". Heinrich Lübke ist Bundespräsident. In sechs Wochen, am 17. September, wird in der Bundesrepublik gewählt; doch der Wahlkampf schleppt sich bisher spannungslos dahin, denn der 85 Jahre alte amtierende Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) gilt als haushoher Favorit gegen den erst 48jährigen SPD-Kandidaten Willy Brandt, den Regierenden Bürgermeister von Berlin.

    Politisch interessierte Bürger Westberlins, die für den Bonner Bundestag ohnehin nicht wählen dürfen, haben in diesen Augusttagen andere Sorgen. Denn am sommerlich-friedlichen Himmel über der früheren Reichshauptstadt zieht gefährliches Unwetter auf: Droht ein Krieg um Berlin?

    Die Zeitung „Der Tagesspiegel" berichtet heute über zwei militärische Ereignisse:

    Das eine erfreut in Berlin-Dahlem beim deutsch-amerikanischen Volksfest 20 000 Zuschauer. Dort wirbeln GIs bei einem schmissigen Schauexerzieren zum Boogie-Woogie-Rhythmus ihre Gewehre durch die Luft.

    Das Zweite eignet sich nicht zur Volksbelustigung. Unter der Schlagzeile „US-Luftlandeübung für 4000 Fallschirmjäger berichtet die Zeitung von einem Manöver im US-Bundesstaat Carolina. Codewort: „Schneller Schlag. Annahme der Übung: Ein befreundetes kleines Land wird vom Feind umzingelt und dann besetzt. Aufgabe: Fallschirmjäger, Infanterie- und Luftwaffen-Einheiten sollen erst die Feinde vertreiben und dann die eingeschlossenen Freunde über eine große Luftbrücke mit Lebensmitteln versorgen.

    Eine Militärübung, die den Berlinern aus der Blockadezeit 1948/49 nur allzu bekannt vorkommt.

    Damals wollte die Regierung der Sowjetunion mit einem Federstrich das Potsdamer Viermächte-Abkommen über Berlin aufkündigen. Ganz Berlin sollte ihrer Besatzungszone einverleibt werden. Die Westalliierten – Amerikaner, Briten und Franzosen – widersetzten sich. Daraufhin blockierten die Sowjets die Zufahrtswege, die alle durch ihre Besatzungszone in die frühere deutsche Hauptstadt führen. Die Amerikaner richteten zur Versorgung der eingeschlossenen Bevölkerung eine Luftbrücke ein. Mit Lebensmitteln beladene Transportmaschinen – von den Berlinern „Rosinenbomber" genannt – landeten Stunde um Stunde auf dem Flugplatz Tempelhof. Ein Jahr lang. Bis die erfolglos gewordene Blockade Westberlins aufgegeben wurde.

    Jetzt, zwölf Jahre später, drohen die Sowjets wieder. Aber diesmal ist Berlin besser auf eine Blockade vorbereitet. Seit Monaten schon rollen – unbemerkt von der Bevölkerung – Tausende von Kühlwagen und Kohlewaggons über Straßen und Schienen aus Westdeutschland in den Westsektor der geteilten Stadt. In neuerrichteten Lagerhäusern stapeln sich steifgefrorene Schweinehäften und Rinderteile bis unter die Decken. Butter und Margarine, Zucker und Mehl, Kaffee und Trockenkartoffeln lagern versteckt und gegen Diebstahl gesichert in stillgelegten alten Fabrikhallen. Jeder der 2,2 Millionen Westberliner – so hat der Senat in einer Studie errechnet – könnte ein Jahr lang mit täglich 2900 Kalorien ausreichend ernährt werden. Die Kohlehalden reichen aus, um die Stadt mit Heizmaterial, Gas und Strom zu versorgen. Medikamente im Wert von mehreren Millionen Mark liegen bereit. Es ist so viel Zement gehortet, daß Berlins Bauarbeiter zehn Monate lang arbeiten könnten. Sogar eine Million Paar Schuhe wurde mit Steuergeldern eingekauft, damit die Berliner im Ernstfall keine kalten Füße bekommen.

    Der Ernstfall droht den Berlinern seit drei Jahren – aber noch nie war die Gefahr so groß wie in diesem August. „Der Geruch von Blut und Eisen hängt wieder über Europa, schreibt das Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel: „Krieg um Berlin scheint möglich."

    Seit dem 27. November 1958 treibt die politische Entwicklung um Berlin scheinbar unaufhaltsam auf einen militärischen Konflikt der beiden Supermächte Sowjetunion und USA zu, seit der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow den drei Westmächten ein Berlin-Ultimatum gestellt hat. Anders als 1948 will die Sowjetunion die drei Westsektoren der Stadt nicht unter eigene Kontrolle bringen. Diesmal droht Chruschtschow damit, die Berlin-Verantwortung auf den sozialistischen deutschen Staat zu übertragen, der im Oktober 1949 unter sowjetischer Schirmherrschaft als „Deutsche Demokratische Republik" gegründet worden ist.

    Chruschtschows Forderung: Innerhalb von sechs Monaten, bis zum 27. Mai 1960, sollen die Westmächte aus Berlin abziehen, soll Westberlin in eine „entmilitarisierte freie Stadt" umgewandelt sein. Für den Fall, daß sich die Westmächte einer solchen Regelung widersetzen, kündigt der Moskauer Machthaber den Abschluß eines separaten Friedensvertrags mit der DDR an. Die Folge: Die DDR würde die alleinige Kontrolle aller Zugangswege nach Westberlin erhalten, zu Lande, zu Wasser und auch in der Luft. Das bedeutet zwangsläufig, daß das Recht ungehinderten Durchgangsverkehrs alliierter Truppen nach Berlin erlischt. Und das heißt auch, daß der gesamte Zivilverkehr von und nach Westberlin und zwischen dem Ost- und dem Westteil Berlins von der DDR überwacht wird.

    Der amerikanische Präsident Eisenhower, der französische Staatspräsident de Gaulle und der britische Premierminister Macmillan konsultieren die Bundesregierung und lehnen die Forderungen der Sowjets kategorisch ab. Die deutschen Politiker fürchten, daß Berlin ohne westlichen Militärschutz keine freie, sondern eine „vogelfreie" Stadt sein würde, die sowjetischen und deutschen Kommunisten wehrlos ausgeliefert wäre.

    Hintergrund des sowjetischen Ultimatums ist der gewaltige Exodus aus der DDR. Seit die deutsche Teilung 1949 vollzogen wurde, sind Jahr für Jahr mehr als 200 000 Menschen, insgesamt bereits 2,6 Millionen, aus dem sozialistischen Ostdeutschland in das kapitalistische Westdeutschland abgewandert. Von neun DDR-Bürgern ist einer in den Westen geflüchtet. Die meisten der Flüchtlinge nahmen den kürzesten und leichtesten Weg – über die offene Sektorengrenze von Ost- nach Westberlin.

    Dem „Ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden" laufen die Arbeiter und Bauern weg. Aber auch hochqualifizierte Fachkräfte. Aus den Chemie-Kombinaten gehen Forscher zu Hoechst oder Bayer Leverkusen. Ingenieure aus Eisenhüttenwerken und Bergbaubetrieben ziehen ins Ruhrgebiet. Ärzte und Apotheker machen im Westen Praxen und Geschäfte auf. Professoren und Lehrer flüchten vor dem kommunistischen Dogmatismus, dem sie sich unterwerfen müssen. Denn im Wirtschaftswunderland Westdeutschland wird den ehemaligen DDR-Bürgern nicht nur Wohlstand, sondern obendrein noch Demokratie geboten; ein parlamentarisches Parteiensystem, Meinungsfreiheit, die Möglichkeit zu reisen, wohin man will.

    Noch ein weiteres Problem plagt die DDR-Volkswirtschaft: Während allein in Ostberlin 45 000 Arbeitskräfte fehlen, fahren 53 000 Ostberliner Tag für Tag zur Arbeit nach Westberlin. Die sogenannten „Grenzgänger" beziehen die Hälfte ihres Lohns in harter D-Mark. Die können sie entweder zum Kurs von 1:4 gegen Ostmark eintauschen oder sich damit in Westberlin Lebensmittel und Luxusgüter kaufen, von denen DDR-Arbeiter nur träumen.

    Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre werden die Folgen des großen Exodus für die Deutsche Demokratische Republik dramatisch. Wegen fehlender Arbeitskräfte müssen Teile der Ernte auf den Feldern bleiben. Volkseigene Industriebetriebe können Liefertermine nicht mehr einhalten. Exportaufträge gehen verloren. In Landkreisen und Kleinstädten ist die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet.

    Durch die offene Grenze nach Westberlin – durch Flüchtlinge und Grenzgänger – entsteht der DDR-Volkswirtschaft Jahr für Jahr ein Schaden von 3,2 Milliarden Mark. Noch größer ist der Schaden für das Ansehen des Kommunismus in der Welt, besonders in den ideologisch noch nicht festgelegten Entwicklungsländern. Und das beunruhigt die großen Brüder der DDR im Moskauer Kreml mindestens ebensosehr wie die Wirtschaftsprobleme des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Deswegen stellt Chruschtschow sein Berlin-Ultimatum. Deswegen soll die DDR durch eine Kontrolle der Zufahrtswege die Möglichkeit bekommen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen.

    Die Westalliierten wollen die sowjetische Drohung gegen die Viermächte-Stadt Berlin zunächst auf dem Verhandlungswege vom Tisch bekommen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower lädt Nikita Chruschtschow zu Gesprächen in die Vereinigten Staaten ein. Chruschtschow nimmt an. Er beginnt seine USA-Reise mit einem aggressivem Auftritt vor den Vereinten Nationen in New York, bei dem er mit einem Schuh auf das Rednerpodium schlägt, um seine Beschimpfungen der westlichen Imperialisten und Kriegshetzer wirkungsvoll zu unterstreichen.

    Nach diesem stürmischen Auftakt jedoch verlaufen die Gespräche mit Eisenhower überraschend friedlich, ja freundschaftlich. Beim Abschluß des Staatsbesuches in Camp David präsentieren sich die beiden mächtigsten Männer der Welt der staunenden Öffentlichkeit als gütige Großväter. Sie einigen sich, daß über Berlin erst bei einem Viermächte-Gipfeltreffen im Mai 1960 in Paris verhandelt werden soll. – Doch zehn Tage vor der Konferenz wird ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ U 2 über dem Gebiet der Sowjetunion abgeschossen. Empört über die (angebliche) Hinterlist des amerikanischen Präsidenten läßt Chruschtschow das Pariser Treffen platzen. Er verschiebt die „Lösung des Berlin-Problems" bis nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen.

    Eisenhower kandidiert 1960 nicht mehr. Sein Vizepräsident Richard M. Nixon verliert die Wahl völlig überraschend und ganz knapp gegen einen erst 43 Jahre alten katholischen, gutaussehenden Außenseiter: Am 20. Januar 1961 wird John F. Kennedy als 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Schon kurz nach seinem Amtsantritt sagt der jüngste Präsident in der Geschichte der USA: „Die Welt muß wissen, daß wir für die Freiheit Berlins kämpfen werden, denn wir kämpfen damit für die Freiheit von New York und Paris. Doch kurz darauf erlebt der dynamische junge Mann im Weißen Haus eine schwere Niederlage. Eine von der US-Regierung unterstützte, vom Geheimdienst CIA vorbereitete und von Exilkubanern ausgeführte Invasion des von Fidel Castro regierten kommunistischen Kuba scheitert kläglich. Das „Desaster in der Schweinebucht wird vor allem Kennedy angelastet.

    Chruschtschow glaubt, mit dem unerfahrenen jungen Mann leichtes Spiel zu haben. Er lädt Kennedy zu einem Gipfelgespräch über eine Lösung des Berlin-Problems nach Wien ein. Kennedy, der dringend einen außenpolitischen Erfolg braucht, nimmt an. Doch das Treffen der beiden ungleichen Regierungschefs endet unversöhnlich. Chruschtschow wiederholt seine alten Forderungen und droht mit Krieg. Kennedy berichtet Vertrauten, er sei „erschüttert darüber, wie leichtfertig der sowjetische Regierungschef mit dem Gedanken eines Atomkrieges umgeht". Vom Abschlußessen, das am Abend des 16. Juni 1961 in der Botschaft der Sowjetunion in Wien stattfindet, wird folgender Dialog überliefert:

    Chruschtschow zu Kennedy: „Krieg oder Frieden, das liegt nun in Ihrer Hand. – Wenn Sie eine Division nach Berlin schicken, schicke ich zwei! – Kennedy: „Sie wollen Veränderungen erzwingen, nicht ich. – Chruschtschow: „Der Friedensvertrag mit der DDR mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen wird bis zum Dezember dieses Jahres unterzeichnet. – Kennedy: „Wenn das so ist, dann wird es ein kalter Winter.

    Von Chruschtschows Unnachgiebigkeit und von seinen Drohungen geschockt, läßt Kennedy nach seiner Rückkehr in Washington eine neue Analyse des militärischen Kräfteverhältnisses um Berlin, in beiden Teilen Deutschlands und zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion anfertigen. Das Ergebnis ist erschreckend: Unter Eisenhower hatte die Strategie der atomaren Abschreckung und damit die nukleare Aufrüstung in den USA absoluten Vorrang vor dem Ausbau der konventionellen Nachrüstung gehabt. Nun sind die USA und ihre westlichen Alliierten im Gegensatz zur Sowjetunion nicht ausreichend auf einen regional begrenzten, konventionellen

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