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Ich liebe dich
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Ich liebe dich

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Der Autor zeichnet ein lebendiges, romanhaft erzähltes Lebensbild des großen norwegischen Komponisten Edvard Grieg (1843–1907), in dessen Mittelpunkt seine Liebe zu Nina Hagerup steht. Da er in Norwegen nicht ausreichend musikalische Anregungen fand, zog der Komponist nach Kopenhagen. Ihn lockte das rege kulturelle Leben in der dänischen Hauptstadt. In Dänemark lernte Grieg auch seine große Liebe kennen, die Sängerin Nina Hagerup, die er 1867 heiratete. Sie ermunterte ihn, Lieder zu schreiben, und eine seiner schönsten Melodien hat er ihr gewidmet: "Ich liebe dich", die Vertonung eines Verses von Christian Andersen, einem seiner engsten Freunde.-
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateJul 10, 2015
ISBN9788711445518
Ich liebe dich

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    Ich liebe dich - Paul Oskar Höcker

    Saga

    Edvard zählte knapp sechs Jahre, als seine Eltern das schmalfrontige Holzhaus in der Stadt Bergen, wo alle ihre Kinder zur Welt gekommen waren, verließen, um nach Landas hinauszuziehen. Vater Grieg wollte seinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr im kaufmännischen Geschäft verleben, sondern im Ruhestand. „Landas ist ein hübsches Bergnestchen, bloß ein paar tausend Meter von hier entfernt. Dort droben habt ihr größere Freiheit, mehr Bewegungsraum, vor allem bessere Luft als hier in der engstraßigen Hafenstadt, die heute ja schon an die dreißigtausend Einwohner zählt und immer so schrecklich nach Teer und Fischen riecht." Ein andermal meinte er: das verflixte Jahr 1848 habe mit den politischen Unruhen auch allerlei widerliche Handelswirren nach Norwegen hereingeschleppt, also müsse man sich freuen, nun endlich sein Leben in vollem Frieden genießen zu können.

    Die grundgütige Art, die seinem Vater eigen war, wenn er bei den Hauptmahlzeiten das Wort führte, gewann ihm stets die Herzen der ganzen großen Familienrunde. Freilich wußte Edvard nicht, wozu er die größere Bewegungsfreiheit in Landas gebrauchen sollte. In Bergen hatte man doch ganz ungestört mit allen Nachbarstindern in der engen Gasse spielen können, und dort, wo sie ein wenig zu Tal führte, konnte man, sobald Schnee lag, auf den kleinen Holzschlittchen um die Wette hinabrutschen, denn von der Hafenstraße mit dem Polterverkehr der Lastfuhrwerke hinter den dampfenden Zugpferden blieb man ja weit genug entfernt.

    Nach den aufregenden Umzugstagen und dem Lärm der hämmernden und sägenden Handwerker, nach den ersten Besuchen der neugierigen Verwandten und Bekannten, die kleine Geschenke für Küche und Keller sowie allerlei Spielzeug für die fünf Köpfe zählende Kinderschar mitbrachten und in ihren leichten Wägelchen dann wieder flink nach Bergen zurückkehrten, gab es manche Stunde, in der Edvard hier draußen kein lebendes Wesen zu sehen bekam. Er sollte auf der Wiese hinter dem Hause spielen. Aber allein machte das wenig Spaß. Die drei älteren Geschwister — Maren, John und Ingeborg — befanden sich in Bergen in der Schule. Der Schulweg war für sie jetzt erheblich weiter als bisher, doch Vater Grieg hielt diese täglichen Märsche aus Gesundheitsrücksichten für besonders erfreulich. Die kleine Elisabeth war noch ein Baby, mit dem ein Junge, der nun auch bald schulpflichtig wurde, nichts anfangen konnte. Manchmal empfand er also die Einsamkeit hier in Landas recht bedrückend, wenigstens auf der Spielwiese, die er durchaus nicht verlassen sollte. Wagte er sich um die Scheune herum, in der die großen Holzvorräte für den Winter aufgestapelt waren, dann änderte sich freilich das stille, feierliche, fast beängstigend starre Bild ganz seltsam — dann sah und hörte er plötzlich die lustigen Wasserstrahlen, die spritzend und schäumend die braungrauen Felsen über vielgezackte Stufen herabkamen und in den dunklen, tiefen Fjordkessel stürzten.

    Das im Sonnenschein glitzernde Spiel der Fälle klang fröhlich lockend, und Edvard versuchte manchmal mitzusingen, vielleicht ähnlich, wie seine Mutter sang, wenn sie allein für sich am Flügel übte oder wenn Gäste im großen Musikzimmer saßen und sie ihnen eine Arie vortrug.

    Die wöchentlichen Musikgesellschaften, die die Gattin des englischen Konsuls Grieg in Bergen veranstaltet hatte, fanden nun auch in Landas statt. An manchen Sonntagen fuhren drei, vier oder mehr Einspänner mit musikalischen Gästen hier vor. Frau Gesine entstammte dem angesehenen Hause Hagerup in Kristiania und hatte vor ihrer Heirat eine gründliche Ausbildung in Gesang, Klavierspiel und Theorie erfahren bei dem berühmten Professor Methfessel in Hamburg-Altona.

    Einmal hörte Frau Grieg, während sie im Haushalt noch mit Einräumen beschäftigt war, das Stimmchen ihres Jüngsten in vielen kleinen hellen und hohen Singtönen von der Wasserfallseite her. Ihr war’s, als ob er die Koloraturen nachahmen wollte, die sie für die nächste Hausmusik probte. Sie lachte darüber. Doch unversehens ging der kleine Sänger dann in die Hornweise über, die der Hirt immer blies, wenn er inmitten seiner läutenden Kuhherde über die Wiese daherzog. Sie lehnte sich aus dem Fenster. Der Kleine saß am Fjordrand, also auf verbotenem Gebiet. Um ihn nicht zu erschrecken, fragte sie ihn in möglichst zutraulichem Ton, was er denn da sänge.

    „Wie das hüpft, Mutter, nicht?" gab er zurück und zeigte, in seinem kindlichen Gesang fortfahrend, zu den Fällen hinüber.

    Nun erkannte sie, daß er bemüht war, den Rhythmus des Plätscherns wiederzugeben. Nach der Schneeschmelze war es immer besonders stark. „Und hinterher — das sollte wohl das Kuhhorn sein?" fragte sie.

    Er nickte. „Aber heute bläst er doch ganz anders, Mutter. Nicht? Es ist viel lustiger als sonst."

    Sie war überrascht, daß er den Wechsel der Tonart heraushörte. „Ja, Edvard, es ist heute nicht der alte Schäfer, der immer das große Horn bläst. Es ist sein Junge, der mit dem kleinen Horn, und das klingt höher. Kannst dir die paar Töne mal hernach auf dem Klavier zusammensuchen. Willst du? Aber wasch dir zuvor die Finger."

    Edvard empfand die Erlaubnis, die Klaviertasten zu berühren, als große Auszeichnung. Die älteren Geschwister hatten schon richtigen Unterricht bei der Mutter. Er sei noch nicht reif dafür, hieß es. Maren, John und Ingeborg neckten ihn oft, indem sie wiederholten, was die Eltern einmal den Besuchern anvertraut hatten: Der Kleine sei doch in allem ein bißchen zurückgeblieben, er habe ja erst mit achtzehn Monaten laufen gelernt und sprechen erst als Zweijähriger.

    Mit seinem kleinen Zeigefinger durfte Edvard nun die Hornweise, die er dem Hirten nachzusingen versucht hatte, auf den Tasten wiedergeben. Seine Mutter war erstaunt, daß er nach zwei Fehlschlägen den richtigen Anfangston, den er also im Ohr behalten hatte, festhielt und dann mühelos die folgenden Töne anreihte.

    Nach ein paar Wiederholungen brachte er auch den Rhythmus fehlerfrei heraus. Er war stolz und glücklich, als seine Mutter ihn lobte.

    John, der bereits drei Jahre in die Schule ging und als Klavierschüler seiner Mutter bisher die größten Fortschritte der Geschwister gemacht hatte, fand es übertrieben, daß Edvard jetzt schon Unterricht bekommen sollte. „Bloß weil er die paar Kuhhorntöne behalten hat! Er hört hier draußen ja sonst den ganzen Tag nichts anderes!"

    Aber für Edvard begann nun eine glückselige Zeit: seine Mutter brachte ihm und seinen Kinderfingern die Kunst bei, Tonleitern zu spielen. Am herrlichsten war es für ihn, wenn sie nach dem Unterricht wieder im Haushalt tätig war und er eine Weile allein vor dem Flügel sitzenblieb. Er hatte herausgebracht, daß man zwei Tasten gleichzeitig anschlagen konnte. Das erschloß ihm einen unermeßlichen Weltraum. Soviel Ruhe und Schönheit sprach zu ihm aus dem Instrument. Seine Mutter meinte lachend: nun habe er die große Terz entdeckt. Und den Dreiklang genoß er hernach wie eine Vollendung. Doch dann nahm er noch die rechte Hand hinzu und baute weiter. Es kam die Septime, die None. Weiter reichten seine Finger nicht. Dieser Zusammenklang von mehreren Stimmen begleitete ihn nun ins Bett, in die Träume. Er hörte nicht mehr die Flüstergespräche und das halbversteckte Lachen der Geschwister, wenn sie sich morgens für den Schulweg zurechtmachten. Und war er allein draußen im Freien, dann wuchs ihm das Klangbild von Tag zu Tag gewaltiger an. Tief unten vom Fjord her hörte er die Baßquint, fast dieselbe, wie sie die Musikanten spielten, wenn in der Schenke Tanz war, oder wie sie ein Teil der Burschen brummte, wenn Volkslieder gesungen wurden. Und aus der silbrigen Höhe der obersten Fälle sprudelten dazu lachende, lustige, wirbelnde Weisen. Je weiter er in den Tonleitern kam, desto mehr reizte es ihn, solche Vorbilder aus seiner Umwelt auf dem Klavier wiederzugeben. Auch Tanzweisen, die der Schäfer auf der Fiedel spielte. Da war die eine, die ihn nicht losließ, wenn er die C-dur-Tonleiter übte. In der Mitte machte sie plötzlich einen Sprung aufwärts über Fis ...

    „Pfui, Edvard! rief die Mutter mit schallender Stimme aus dem Waschkeller herauf, wo sie dem Mädchen half. „Fis ist falsch! Du mußt F greifen!

    Da schrak er aus seinen Träumereien auf und übte gehorsam weiter. Aber viele der seltsamen Wendungen in den Liedern und Tänzen, die er draußen gelegentlich hörte, verließen ihn nicht mehr. Bevor er noch die Buchstaben kannte, wußte er die Noten aufzuschreiben, wenigstens die Folge von ein paar Tönen, die er hörte. Das konnte selbst John nicht so aus dem Gedächtnis heraus, und er nahm es dem Kleinen fast ein wenig übel. Manchmal stellte John ihn auf die Probe, spielte auf dem Cello, das er jetzt bekommen hatte, eine Melodie, und Edvard mußte sie nach dem Gehör im Notensystem unterbringen. Das Gelächter war übertrieben groß, wenn der Kleine sich einmal irrte; seine seltsame Begabung brachte ihm zunächst nur Verdruß ein. In der Schule hütete er sich also, etwas von seinem inneren Leben zu verraten. Ein guter Schüler war er ja durchaus nicht. Seine Klassengenossen liebten nur die lauten Spiele. Besonders geschätzt waren die Jungen, die am meisten schreien konnten. Edvard war zart, etwas blaß, wollte auch in der Sommersonne nicht so recht verbrennen. Mit seinem dünnen blonden Haar, den blauen, großen, verträumten Augen, den feinen Händen, der schmalen Gestalt stach er gegen die andern ab. Er sei wie ein Mädchen, hieß es manchmal. Das galt als starke Herabsetzung.

    Wenigstens wollte er sich, als die schlechte Witterung einsetzte, nicht auf dem weiten Schulmarsch von den älteren Weggenoffen hänseln lassen, mit denen zusammen er oft den unbarmherzigen Regenstürmen ausgesetzt war. Lieber ging er allein. Unterwegs hörte er dann aus Wind und Wetter wieder neue eigenartige Weisen, die seine Gedanken lange beherrschten.

    Zuspätkommende durften die Klasse erst zur zweiten Unterrichtsstunde betreten. Der kleine Grieg saß also öfters wartend auf dem Hof, froh, eine Stunde schwänzen zu können, besonders wenn seine Hausarbeit ihn dafür nicht genügend vorbereitet hatte. Und da der Lehrer ihn zuweilen seiner im Regen klatschnaß gewordenen Kleider halber heimschickte, ließ er einmal die Schleusen des Himmels sich auch öffnen, als über der Stadt Bergen die wolkenlos blaue Glocke hing. Die Traufe einer Regentonne hatte ihm geholfen, das Wunder zu vollbringen. Die Fälschung wurde mit einer Tracht Prügel geahndet.

    Edvard fand danach kaum Anschluß. Niemand mochte ihn recht leiden. Auch die Geschwister hielten einen gewissen Abstand von ihm. Vermutlich deshalb, weil die Mutter ihn für musikalisch besonders begabt hielt. „Er hat das absolute Tonbewußtsein!" stellte sie mit Staunen und voller Stolz fest. Und nun durfte er sie zuweilen auch schon zu ihrem Gesang begleiten.

    In der Sonntags-Hausmusik führte Frau Grieg nach den Klavierauszügen, die sie seit ihrer Hamburger Studienzeit besaß, ganze Opern auf oder doch die Hauptsätze der Chöre und Arien. Die Mitwirkenden fügten sich willig der musikalischen Leitung der Frau Konsul, obgleich die mehrstimmigen Chöre dem Gesangsquartett nicht geringe Schwierigkeiten bereiteten. Man übte nicht nur ältere italienische Opern ein, die den Spielplan des für den ganzen Norden maßgebenden Kopenhagener Theaters beherrschten, sondern auch neuere deutsche Werke, so vor allem den „Freischütz". Frau Grieg sang die Agathe, eine ihrer Gesangsschülerinnen das Ännchen, den Max ein jüngerer Zollbeamter aus Bergen, den Kaspar ein Reeder, der einen vielbestaunten Baß besaß. Die Ouvertüre wurde vierhändig gespielt. Vater Grieg hatte in Bergen noch manchmal die untere Partie innegehabt, aber seine Finger waren jetzt doch zu unbeholfen geworden, und so mußte er ersetzt werden, denn Frau Grieg ließ keine Schludrigkeit durchgehen. Ihre Kinder schienen ihr technisch noch nicht weit genug. John hatte für das Klavier gar keine Zuneigung mehr, seitdem er Cellostunden in Bergen bekam.

    In einer Ecke saß — auf dem Fußboden, damit er nicht auffiel — Edvard und hörte andächtig zu. Besonders wenn Mozart gespielt wurde, ging ihm das Herz auf. Zum Glück beachtete ihn niemand, denn oft hatte er glühende Backen, und zuweilen kamen ihm vor Glück die Tränen.

    Einmal wagte er sich selbst an eine Komposition. Er war wohl zwölf Jahre alt. Aber während dieser verträumten Zeit galt er in der Klasse als der schlechteste Schüler und wurde viel gehänselt, ja verhöhnt. „Namenverdreher hieß er in der Geschichts- und Geographiestunde. Der Lehrer rief ihn schon gar nicht mehr auf. Als sie einmal im Lesebuch auf das lateinische Wort Requiem stießen, galt die Frage danach der ganzen Klasse, und nun meldete sich Edvard Grieg. „Das Requiem ist von Mozart! sagte er; er hatte leuchtende Augen in der Erinnerung an die letzte häusliche Sonntagsmusik mit der Wiedergabe der Hauptstücke dieses Wunderwerks. Stürmisches Gelächter setzte ein. Es kam gar nicht dazu, daß er noch ein Wort hinzufügen konnte. Belustigt lachte auch der Lehrer. Und nun wurde Edvard den Spottnamen „Der kleine Mozart" nicht wieder los.

    Das Schlimmste kam aber noch. Sein Banknachbar hatte entdeckt, daß er immer ein Notenbuch in seinem Schulranzen mir sich führte; auf dem Heimweg zog er manchmal auch Notenpapier aus der Jackentasche und kritzelte, wenn er sich allein glaubte, mit dem Bleistift darauf herum. Das verriet der Kamerad dem Lehrer, als Edvard dafür ausgezankt wurde, daß er sein englisches Wörterbuch vergessen hatte.

    Es half dem verschüchterten, jetzt fast verzweifelten Jungen nichts — er mußte seinen geheimen Schatz dem Lehrer ausliefern. Der las der Klasse mit komisch übertriebenem Pathos das Titelblatt vor: „Variationen über eine deutsche Melodie für das Klavier von Edvard Grieg, opus I. Der Erfolg war durchschlagend. Alles lachte und johlte. Der Lärm wurde so groß, daß der Leiter der Nachbarklasse hereinkam. „Ja — merkwürdig, sagte Edvards Klassenlehrer voller Spott zu dem Kollegen. „Mein schlechtester Schüler komponiert heimlich auf seinen Schulwegen! Alle Schüler standen nun in den Bänken, froh über die außerordentliche Unterbrechung. Sie erhofften noch irgendein besonderes Gaudium. Doch der Leiter der Nachbarklasse kannte den kleinen Sünder aus der Singstunde, in der er der beste war, da er jede Stimme vom Blatt singen konnte. Voller Aufmerksamkeit überblickte er nun die sorgfältig beschriebenen Notenseiten. Die beiden Herren hatten dabei eine kurze, halblaut geführte Unterhaltung. Als der Nachbarlehrer die Schulstube verließ, nahmen alle Schüler etwas enttäuscht ihre Plätze wieder ein. Der Ordinarius schien seines Spaßes an der Sache nicht mehr ganz so sicher wie zuvor. Er wollte sich indessen vor den Jungen keine Blöße geben, denn die Disziplin schien ihm dadurch gefährdet. Er ging also auf den ihm unsympathischen Komponisten zu, packte ihn an den Haaren, schüttelte ihn tüchtig hin und her und warf dann das Notenbuch knallend aufs Pult. „Das blöde Zeug da kannst du künftig zu Hause lassen, Edvard Grieg, verstehst du, Wörterbuch mitbringen, das ist wichtiger! — Ruhe jetzt in der Klasse!

    So richtig ließ sich indes die Ruhe in der Klasse nicht mehr herstellen. Doch läutete es gerade. Auf dem Schulhof, in der Gasse, auf dem Heimweg wurde das abenteuerliche Vorkommnis dann noch vielfach in allen Gruppen erörtert.

    Auch der Artillerieleutnant, der gegenüber der Schule wohnte und dessen Klavierspiel man im Sommer manchmal in der Mittagsstunde durchs offene Fenster hörte, erfuhr die Geschichte. Er zog den verängstigten Jungen in den Flur seines Hauses und sprach mit ihm. Hernach spielte er das Thema aus dem Notenbuch, und Edvard mußte, als er sich endlich wieder beruhigt hatte, ein paar Variationen vortragen.

    „Gut! sagte der junge Offizier darauf. „Warum haben die darüber gelacht?

    Edvard schluckte. „Sie spotten, weil ich wohl einmal berühmt werden wolle; ich weiß aber doch selbst, was mir dazu alles fehlt."

    Nun nickte der Leutnant. „Ja, siehst du, dann müßten sie eigentlich ebenso toll über mich lachen. Denn auch ich bin noch Anfänger und will einmal General werden."

    Aus dieser Bekanntschaft entwickelte sich eine seltsame Freundschaft. Mehrmals wirkte der Artillerist dann in den Griegschen Hausmusiken als Klavierspieler mit. Und seinem jungen Schützling Edvard schenkte er ein paar Drucksachen aus seiner Bibliothek: Gedichte, Lieder, Märchen, Sagen. Edvard bedauerte es sehr, als eine Weile später sein Gönner von Bergen verseht wurde. Denn nun begann für ihn wieder die große Einsamkeit. Aber die kurze Freundschaft bedeutete für ihn doch einen bleibenden Gewinn. Die unendliche Welt der norwegischen Volkssagen hatte sich ihm in den paar Geschenkbüchlein erschlossen. Die Texte, die von den Alten und den Jungen im Dorf gesungen wurden, wichen da und dort von der Wiedergabe im Druck ab. Aus der Fassung aber, die jetzt sein Besitz geworden war, ging ihm manche Erklärung bisher unverständlicher Einzelheiten auf. Sogar in der Schule fand er zuweilen damit Gnade. Ein Lehrer, der wegen seiner folkloristischen Liebhaberei bespöttelt wurde, unterhielt sich ganz ernsthaft mit ihm über derlei Dinge. Aber seine Eltern waren über die schlechten Zensuren, die er aus der Schule mitbrachte, jetzt doch schon recht verzweifelt. Im Norwegischen und im Deutschen, im Singen und im Betragen hatte er noch eben genügende Noten, in Französisch und Englisch aber, in Mathematik, Geschichte und Erdkunde prophezeite man ihm den todsicheren Durchfall in der Schlußprüfung. Daß er in der Lateinschule Aufnahme finden werde, schien also ausgeschlossen.

    „Und du solltest doch Pfarrer werden! sagte Vater Grieg zu ihm voller Trauer. „Wolltest es ja selbst! Nicht?

    Der zarte, kleine Blonde hatte eine warme, herzliche Stimme. Wenn er zu Hause ein rührendes Gedicht wiedergab, eine nordische Ballade, oder wenn er eines der Troll-Märchen erzählte, die seine kleine Schwester Elisabeth so gern hörte, dann staunten sie alle über die tiefe Wirkung, die von seinem Vortrag ausging. Warum verstand niemand in der Schule, was in ihm steckte? Warum peinigten sie ihn so, daß er das Beste, das in ihm war, vor jedermann ängstlich verbarg?

    Von gemeinsamen Spaziergängen mit ihm kehrte Vater Grieg oft sehr niedergeschlagen zurück. Er versuchte neuerdings, dem Jungen handelsgeschichtliche Dinge näherzubringen, ein bißchen Zollpolitik, Warenkunde, Ausfuhr- und Einfuhrziffern, Wirklichkeiten aus dem Kaufmannsleben, die mit dem trockenen Schulkram nichts zu tun hatten und die ihm doch von Haus aus „liegen mußten. Aber auch darin schien er ihm nun endgültig zu versagen. „Entweder ist er strohdumm — oder er ist bockbeinig und will einen bloß nicht verstehen! sagte er.

    Frau Gesine schüttelte den Kopf. „Nein, dumm ist er nicht, auch nicht trotzig. Ich glaube, es steckt eben ein Künstler in ihm."

    „Hm, ein Musikant, der schließlich auf die Dörfer zieht und in den Schenken geigt? Der Konsul seufzte. „Mein Gott — wodurch hab’ ich das verdient!

    *


    Es war bald nach Edvards fünfzehntem Geburtstag, im Sommer 1858, daß ein weltberühmt gewordener Sohn Bergens, der Geigenvirtuose Ole Bull, von seiner großen Amerikafahrt zurückkehrte und auf einem kurzen Gewaltritt nach Landas heraufkam. Edvard gewahrte den fremden Reiter als erster. In mächtigen Galoppsätzen nahm Ole Bull die Steigung, prachtvoll saß er im Sattel, wie verwachsen mit seinem Schimmelhengst. Unter der Mütze fiel ihm das strähnige dunkelblonde Haar, in das sich die ersten weißen Fäden mischten, bis auf den Rockkragen. Die Augen des Reiters blitzten. Sein Gesicht war braungebrannt und verwittert, die Nase groß, scharf, ja kühn, doch sein Mund besaß ein junges Lächeln.

    Da und dort im Lande zeigte man Bilder von ihm. Auch in der Apotheke von Bergen, die

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