Gusti zwischen Hüh und Hott
By Lise Gast
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Gusti zwischen Hüh und Hott - Lise Gast
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1
Ich stand auf dem Kopf und zählte halblaut vor mich hin. Dreiundsechzig, vierundsechzig, fünfundsechzig ... Wenn ich bis hundert kommen sollte, lief die Sache gut aus. Den Kopf hatte ich auf ein Kissen und die Hände auf den Fußboden gestützt und hielt die Beine gestreckt nach oben. Meine Füße beschrieben kleine schwankende Kreise in der Luft. Einundachtzig, zweiundachtzig, drei ... Ruhe, Ruhe. Wenn ich so weit gekommen war, kam ich auch noch bis hundert. Es war lediglich eine Frage des Durchhaltens.
Das hatten wir unzählige Male von Mutter gehört. Es gibt Standardausdrücke bei Mutter, die man, auch wenn man nach außen hin tut, als lächle man darüber, längst akzeptiert und übernommen hat. Nicht nur ich, sondern wir alle. Dazu gehört die Frage des Durchhaltens.
Einundneunzig, zweiund ... Nicht ins Wackeln kommen! Mutter hat schließlich einiges durchhalten müssen im Leben, es ist im Grunde nicht fair, sich über sie lustig zu machen. Wir tun es eigentlich auch nicht, sondern stellen uns nur so, weil es dazugehört. Mutter ist eine solche – nun, Persönlichkeit, in deren Schatten alle ihr Nahestehenden dahinwelken, um es einmal poetisch auszudrücken. Im Grund welkt niemand von uns, wir sind allesamt stramm und bodenständig – wie unsere Mutter.
Hundert! Runter die Beine, hoch den Kopf! Ich richtete mich auf, blies die Luft ab und fuhr mir durch die leicht zerdrückten Dauerwellen. Wenn man so lange auf dem Kopf steht, wie man braucht, um bis hundert zu zählen, soll das Gehirn unwahrscheinlich gut durchblutet und fähig sein, die schwierigsten geistigen Arbeiten zu leisten. Und heute brauchte ich mein Gehirn.
Ich wartete also nicht, bis der heilsame Blutandrang im Kopf wieder verebbte, sondern setzte mich, wie ich war, barfuß im Schlafanzug an den Tisch, spreizte die nackten Zehen und tauchte den Kugelschreiber rief in ein imaginäres Tintenfaß.
Es galt, den Abschiedsbrief an Holger zu schreiben. Holger Nielson, mein Verlobter – ich wußte von ihm nichts anderes, als daß er Schwede, rotblond, Student der Zeitungswissenschaft und achtundzwanzig Jahre alt war. Gesehen hatte ich ihn nie, auch kein Bild.
Diese etwas mysteriöse Verlobung, aus der dieser Brief mich befreien sollte, hatte ihren Ursprung in einem Artikel über Rohkost, den ich eines Tages an eine Zeitschrift geschickt und den Holger gelesen hatte. Eigentlich war er von mir nur übersetzt worden, um mein gelehrtes, perfektes Englisch anzuwenden. Ich bin schließlich alles andere als eine Rohköstlerin und verachte keineswegs ein kerniges Eisbein oder eine Scheibe köstlichen Schinkens. Holger aber las, fühlte eine bestürzende Ähnlichkeit der Seelen und schrieb umgehend in diesem Sinn sehr ausführlich und von Anfang bis Ende Schwedisch, in einer Sprache also, die ich nicht beherrsche. Neugierig geworden, ging ich zu einer Übersetzerin, und dieser Schritt lenkte mich in einen neuen Lebensabschnitt hinein, wie das manchmal so geht.
Diese Übersetzerin ist in Rußland aufgewachsen und hat so viel erlebt, daß man damit mühelos drei Leben ausfüllen könnte. Meine schriftliche Verlobung nahm sie ungefragt für eine wirkliche. Jetzt aber wollte Holger kommen, und wenn er eines Tages wirklich hier auftauchte, würde ich ihn womöglich, nur um die Prinzessin, die ich Mami nannte, nicht zu enttäuschen, auch noch heiraten.
Dies mußte verhindert werden. Ich kenne mich und mein in mancher Hinsicht schwaches Herz, deshalb war es an der Zeit, einen glaubhaften und erfolgreichen Abschiedsbrief zu verfassen. Darum hatte ich so lange auf dem Kopf gestanden, nun sollte mein Gehirn zeigen, was an diesem Rezept stimmt. Irgend etwas Glaubhaftes mußte mir einfallen, weswegen die Verlobung sich in Luft auflöste. Auf keinen, auf gar keinen Fall durfte Holger herkommen. Und daß dies drohte, hatte ich genau im Gefühl.
Ich schrieb also. Dear Holger, it is very, very – ja, was denn nun? Immer kam mir nur „What a pity in den Sinn. Was aber hieß „bedauerlich
in genauer Übersetzung? Nicht traurig oder schrecklich oder schlimm – bedauerlich sollte es heißen. Ich war nun schon so lange in England, daß ich anfing, englisch zu träumen – sollte ich da nicht den haargenau treffenden Ausdruck finden?
Herübergekommen bin ich, weil ich es satt hatte, ewig gegängelt zu werden. Mutter kann es nicht lassen, zu regieren. Ich bin die dritte von sechs Geschwistern, drei Töchtern und drei Söhnen, und studierte in Göttingen, als sie mir eines Tages eröffnete, ich würde von nun an zu Hause wohnen, das sei billiger. Sie habe eine tägliche Fahrgelegenheit gefunden, die nichts koste – wahrscheinlich einen Milchwagen, bei dem ich auf den Kannen sitzen sollte, so jedenfalls vermutete ich. Da gab es bei mir einen Kurzschluß, wie er sich ab und zu einmal einstellte.
„Wer Sprachen studiert, muß im Ausland gewesen sein", sagte ich und entzog mich Mutters Bannkreis. Für ein Jahr, wie ich sagte. Und dachte. Diese Kanalüberquerung hatte noch andere Gründe. Davon später. Alles paßte gut zusammen, und aus dem einen Jahr wurden mehrere.
„Dear Holger, it is very, very ...", also wenn es mir englisch nicht einfiel, vielleicht schwedisch. Ich angelte nach dem Wörterbuch, das Holger mir einmal geschickt hatte; es lag quer auf den anderen Büchern, leicht zu finden, und schlug es auf. Bedacht, bedächtig, be ... Bedauerlich, da stand es. Beklaglich, na also!
Ich lachte. Das Wort war mir sofort sympathisch. Ich schrieb es also in den englischen Text hinein, betrachtete es verliebt, überlegte, ob man es nicht mit rotem statt mit schwarzem Stift hätte hinsetzen sollen, nahm einen neuen Briefbogen. Dear Holger, it is ...
Das Telefon. Es läutete oft in diesem sonst eigentlich ziemlich zähfließenden Haushalt, und ich meinte, es würde sich schon jemand finden, der abhob. Mich würde es sicher nichts angehen.
Das aber erwies sich als Irrtum.
„Miß Börggreef, sie kann meinen Namen, wir heißen Burggraf, natürlich nicht aussprechen, denn sie ist Engländerin. Sie bemüht sich auch nicht. „Come along ...
Es klang wie immer, wenn sie mich rief, so daß ich sofort kam, nur um den Ruf nicht ein zweites Mal ertragen zu müssen. Sie gehört zum Stamm der Perlhühner, ihre Stimme erregt erst Mitleid und dann Raserei. Auf meiner ersten Station in England, einer Farm – ich verließ sie sehr bald wieder –, hatten wir Perlhühner. Sie kreischten ohne Grund, aber nervenzerreißend. Seitdem hasse ich Perlhühner.
Ich kam also along, widerwillig zwar, aber ich kam. Und mit einem Male hatte ich mein Leben um achtzig Grad gedreht.
Evelyn war am Telefon, Evelyn, die älteste von uns.
„Du mußt unbedingt kommen, ich heirate diese Woche, hörte ich. Evelyns Redeweise gleicht einem Maschinengewehr, das der Bedienende auf „noch schneller
gestellt hat, falls es so etwas bei Maschinengewehren gibt. Sie spricht nicht, sie schnurrt, sie rasselt, sie prasselt – unbremsbar, ununterbrechbar. „Freitag Standesamt, Samstag richtige Hochzeit. Es ist ja wohl selbstverständlich, daß alle kommen, höchste Alarmstufe, sozusagen Notdurft." Sie meinte Notstand. Evelyn hat die unablegbare Eigenschaft, Sprichwörter, Redensarten oder Fremdwörter grundsätzlich nur verdreht, vertauscht und falsch anzuwenden. Ohne diese Eigenschaften wäre sie einfach nicht sie selbst.
„Sebastian kommt aus Holland, er ist dort in einer deutschen Familie, verdient sich etwas fürs Semester durch Babysitten oder Heimfahren Betrunkener oder so ähnlich, es kann auch sein, daß er Betrunkene beaufsichtigt und Babys heimfährt. Er kommt am Donnerstag, Lindi ist schon hier. Die anderen – ja, zugesagt haben sie alle. Schenken brauchst du nichts, wir sagen euch hier alles, was wir brauchen. Mutter hat das Lokal schon ausgesucht, weil es zu Hause doch etwas eng würde, die alte ‚Sonne‘, aber neue Inhaber. Dort muß man den Wein vom Wirt trinken, Mutter hatte schon welchen gekauft, um ihn mitzubringen, weil das viel billiger ist. Auf zwölf Flaschen bekommt man eine dreizehnte drauf, also umsonst und sozusagen freiwillig, und das hat Mutter verlockt. Nun müssen wir aber den Wein des Lokals trinken, es ist dieselbe Marke, Zeller schwarzer Krötenbrunnen oder so ähnlich, aber was im Laden zweifünfundachtzig kostet, kostet dort neun Mark. Da hat Mutter gesagt, weil Vater doch nicht mehr lebt und die große Rede nicht halten kann, wird sie es tun und gleich mit einflechten, daß nicht so viel Wein getrunken wird, weil er so teuer ist, aber ..."
„Wen ...", setzte ich an, wurde aber sofort wieder von Evelyns Sprachlawine niedergewalzt.
„Und essen soll man dort sehr gut. Ich glaube ja, daß Essen bei einer Hochzeit zweitrangig ist, wenigstens für die Beteiligten, ich meine für die Leidtragenden ..."
„Wen ...", versuchte ich, bereits schwächer im Ton.
„... aber den anderen schmeckte es bei Hochzeiten immer besonders, Henkersmahlzeiten sind ..."
„Wen ..."
„Sprechzeit vorbei, du mußt das einsehen und dich kurz fassen, es wird mir zu teuer. Wir holen dich ab, ruf an, wenn du da bist. Also bis spätestens Donnerstag ..." Klick. Eingehängt. Da stand ich also.
Heute war Montag. Die Woche fing gut an. Ich legte auf, atemlos, erschöpft. Dabei hatte ich das ganze Telefongespräch über nichts gesagt als dreimal „wen". Wen Evelyn denn nun eigentlich heiratete, hätte ich immerhin gern gewußt. Ich war mit meiner Frage nicht durchgekommen.
Gleichgültig – ich mußte wegfahren, ich hatte einen Grund. Holger kennt meine Heimatadresse nicht. Wenn ich also hier ohne Hinterlassung einer solchen verblühte, war ich außer Gefahr. Hurra! Hurra und Horridoh!
„Ich fahre! Ich fahre! Missis Saylor, ich muß at home, nach Hause! Sie können mir nachweinen! Holger, what a pity, my sister ist marrying, sie heiratet ..."
Nach Hause gab ich keine genaue Nachricht. Sie würden schon merken, wenn ich da war. Lindi hat mir später geschildert, wie es vor der Hochzeit bei uns zuging.
Mutter, die Burgfrau, von uns auch, wenn wir uns über sie ärgern, mitunter das Schloßgespenst genannt – die Herrin also saß in ihrem Wohnzimmer vor dem alten Sekretär und regierte. Wenn man mir sagt, ich sähe ihr ähnlich, so bin ich darüber nicht restlos entzückt, begreiflicherweise. Nicht restlos, zum Teil also doch. Denn obwohl die Herrin in ihren Kurven ausladender ist, als das tyrannische Schönheitsideal unserer Zeit es verlangt, wirkt sie trotzdem noch immer so, daß alle anwesenden Männer aufmerksam werden, sie also nicht übersehen. Pompös, ja königlich in ihrer Haltung, thronte sie vor ihrem Sekretär, sich ihrer Autorität bewußt. Jeder junge Mensch fliegt auf wie der Vogel vom Telefondraht, wenn sie sich erhebt, um den Raum zu verlassen, und alle Türen öffnen sich vor ihr, durch die sie dann rauscht wie durch eigens für sie gebaute Triumphbögen. Ihre Stimme, von Befehlen, Tadeln und Anweisungen leicht angeraucht, hat im Timbre etwas nachgelassen, so daß mancher Telefonpartner, der das erstemal mit ihr spricht, am anderen Ende der Leitung schüchtern bittet: „Ich hätte eigentlich mit Frau Burggraf sprechen wollen."
„Ein angenehm versoffenes Organ", nennt Albrecht die Stimme unserer Mutter. Indes: Sie säuft nicht. Sie raucht, aber vom Trinken hält sie nichts, was sie auch auf uns Kinder überträgt. Wir durften von jeher freiwillig auf Alkohol verzichten, da unsere Mutter es tut. Es gab einmal eine Zeit des schlichten Prunks, der relativen Wahrheit und des freiwilligen Zwangs. Letzteren hat die Burgfrau beibehalten.
„Lindi!"
Sogleich näherten sich eilende Schritte. Frau Burggrafs Kinder parieren wie gut abgerichtete Jagdhunde.
Lindi ist Nummer zwei, die zweite Enttäuschung in punkto Stammhalter. Sie schlägt nach irgendeinem verschollenen Urahn, ist groß, größer als wir anderen Schwestern und Mutter, weißblond – vielleicht nicht von Natur aus. Wozu aber gibt es Haaraufheller? Die Industrie will auch leben – und außerordentlich begabt.
Das sind wir anderen nicht, wir halten uns in bezug auf Geistesgaben im schlichten Durchschnitt. Lindi hat