Die zehnte Göttin des Gesangs
Von Carina Burman
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Die zehnte Göttin des Gesangs - Carina Burman
Saga
Prolog im Himmel
Von der Heiligen Dreifaltigkeit schlug es acht, und der Dom folgte mit schweren Glockenschlägen nach. Es war Abend im Viertel der Seligen, die Stadt lag ruhig und still. Die Forscher hatten die Seminarräume im Rigorosum verlassen und die Studenten den Punsch in den Lokalen noch nicht bestellt. Die Fensterscheiben des Gustavianums klirrten unter den Glockenschlägen. In weißen, weichen Schnee gebettet, wölbte sich die Erde, Schnee, der die Stadt, die Kirche und die Universität umhüllte wie Flickenteppiche eine Umzugsfuhre. Die Gärten der Wissenschaften schliefen still im Novemberdunkel, voller Gewißheit, daß der Frühling sie eines Tages wieder zum Leben erweckt. In den Gewächshäusern aber herrschte noch tropischer Sommer, dort war es warm und die Luft war feucht. Wie schwarze Schatten zeichneten sich die Zwillingstürme vor dem sternklaren Himmel ab.
Gleich neben dem Dom lag das »Gästis«, wo an diesem Novemberabend die Schwedische Literaturgesellschaft ihren Jahreskongreß abhielt. Heute gingen die Studenten der Literatur nicht zum Verband Verdandi oder zur Landeskorporation, und die Erörterung der politischen Folgen des Großen Streiks mußte warten, bis der Kongreß vorüber war. Dunkle Rücken strafften sich auf den Stühlen, Blicke richteten sich auf den Referenten, obgleich das eine oder andere Ohr dem Thema »Fruchtbarkeitsgöttinnen im Gilgamesch-Epos« jetzt, gegen Ende des Vortrags, wohl verschlossen blieb. Georg Schlippenbach, Professor und Rektor der Universität, faltete die Hände über dem Bauch und lächelte dem Redner am Pult wohlwollend zu. Schlippenbach, der große Mann der Literaturforschung, die Literaturgesellschaft und die Blüte des Fachs waren sein Werk, groß und wunderbar. Haar und Bart lagen in Locken um sein Gesicht, die Pomade glänzte im Gaslicht und umgab ihn mit fast himmlischem Leuchten.
»Je weiter wir zurückschauen, desto zahlreicher und einflußreicher waren die Göttinnen. Ohne Zweifel spiegelt die Veränderung im sumerischen Pantheon eine soziale Entwicklung wider, die eine Abschwächung des weiblichen Elements in jener Gesellschaft zur Folge hatte. Gewiß gab es bei den Sumerern das Matriarchat – wie bei anderen asiatischen Völkern auch –, und dazu gehörte eine freiere Stellung der Frau. Die Erniedrigung der Ischtar im Gilgamesch-Epos weist auf den Übergang zur modernen patriarchalischen Gesellschaft hin.«
Der Referent streckte den Rücken und legte sein Manuskript zusammen. Der Vortrag war beendet. Professor Schlippenbach erhob sich von seinem Stuhl und begab sich zum Podium. »Es ist mir eine Ehre, im Namen der Schwedischen Literaturgesellschaft Dank aussprechen zu dürfen ...«
Jemand im Publikum begann zu tuscheln. Ein anderer rutschte auf dem Stuhl hin und her, man spürte ... War es Unruhe? Nein, Erwartung lag in der Luft.
»Und wie gewohnt beendet die Gesellschaft ihren Jahreskongreß mit einem Diner im Speisesaal des Stadthotels.«
Man erhob sich von den Stühlen, streckte die Beine und ließ dem Geplauder freien Lauf. Der Vortrag wurde gründlich ausgewertet. Stimmen erklangen, die ihn für bahnbrechend hielten, andere meinten, er hätte nur längst Bekanntes aufgewärmt. Einer erklärte sogar, Fruchtbarkeitsgöttinnen seien kein passendes Thema für die Literaturgesellschaft. Schließlich formierte sich die Prozession: Allen voran schritt Schlippenbach mit der Würde des Rektors, dann folgten die Dozenten und sein Hof, darauf die Professoren anderer Fachrichtungen. Adolf Noréen von den Nordischen Sprachen und der Historiker Edén, Mitglied der zweiten Kammer, hier mit Sam Wide von der klassischen Altertumswissenschaft. Bygdén von der Universitätsbibliothek und natürlich Dozent Leander von der Assyriologie schlossen sich an, beide tief versunken im hochgeistigen Gespräch mit dem Referenten. Zuletzt kamen all die anderen: Dozenten benachbarter Fachrichtungen, Bibliotheksgehilfen, Lizentiaten, Magister und Kandidaten. Es herrschte ein Gewimmel an Physiognomien – nur in einem ähnelten sie einander: Ihre Gesichter erstrahlten in dem Licht, das Menschen umgibt, wenn ein reichgedecktes Büfett ihrer wartet.
Und das Büfett des Hotels türmte sich auf dem Tisch gleich einer Stadt. Da gab es die Behausungen der Emsigen, die Eigenheimsiedlungen: Glasmeister- und Delikateßhering, Hering mit Butter und Ei, Heringssalat und Hering à la russe. Ein Grau in allen Nuancen, Fischerhütten an der Küste Bohusläns gleich, vollendet, mit einem Stich ins Dunkelrote hier und da. Obendrein eine Strömlingskasserolle, Strömling gebraten, Strömling in weißer Soße und eingelegt, Bücklingssalat und fritierte Anschovis. Auf einem Felsvorsprung darüber ein Lusthaus in Schwarz und Weiß: eine hochstielige Schale mit russischem Kaviar, kleingehackten Zwiebeln und saurer Sahne. Indes war die Menge nicht groß, und ein Volkspark, tiefer gelegen, breitete norrländischen Maränenrogen aus, versehen mit gleichem Zubehör.
Dem Volkspark gegenüber hatte die Bürgerschaft ihre Heimstatt. Gediegene Gebäude verschiedener Größe, doch alle von gleicher Dignität: Hackfischtimbale mit Hummer und verlorenem Ei, gebeizter Lachs und Lachs in Mayonnaise, Fisch in Aspik und Aspik mit Schalentieren, Eiern und Erbsen. Man mußte innehalten und diese Bauten betrachten: so wohlgeordnet, so hübsch, in Rosa und Grün, wie es honetten Bürgervillen ansteht. Dort grünt sogar ein kleiner Garten, Petersilie schmückt die Timbale und Dill das Aspik.
Umrunden wir die Stadt, begegnet uns ein sonnengelbweißes Gewimmel: Ei mit Croutons, Ei Chantilly, Ei mit scharfer Soße und vier Sorten Omelett.
Fabriken gibt es nicht, sie liegen gewiß in der Küchenregion. Doch die Oberschicht thront in Wohlleben hier: Pasteten aus Fisch und Fleisch, Kalbssülze – da freut sich der Professor – und Preßkopf. Doch o weh, dort hat sich ein Wolf im Schafpelz versteckt! Eine Karottentimbale! Gott sei Dank, da sind die kleinen Frikadellen, der farcierte Sellerie und Prinzwürstchen – die Wohnstätten tüchtiger Emporkömmlinge; die Domäne der Siedlungshäuser haben sie verdientermaßen hinter sich.
Neben kaltem Aufschnitt, Schinken, Truthahn, Pökelfleisch, stehen Oliven, schmelzend weich im Fleisch wie die Mädchen der Siebenundvierzig. Doch jetzt runzelt Gran gewiß die Stirn über den Vergleich. Man hat Moral in diesen Kreisen. Wir müssen eilen, um den Professor nicht zu erzürnen. Und nun geht es wahrhaftig rasch: Käse aus Frankreich und Västergötland, der eine weich wie eine Liebkosung, der andere streng wie das Eheleben, aber beide unvermeidlich, kaum zu übergehen. Dann bleiben nur noch die Desserts, meist Schlagsahne, scheint es, die Königin-Viktoria-Torte, irgendein Soufflé und – herrjemine! – Tütchen mit Engelsspeise, in Zucker gestellt. Ist das hier ein Kinderfest?
Gott, nein! Wir vergessen ja das Wichtigste. Denn diese Stadt hat eine Kathedrale. Sie thront mittendrin wie der Dom hier zu Uppsala. Schön und glänzend, so nahe, wie man auf Erden dem Himmelreich nur kommen kann: die Branntweinmarketenderei mit ihren sieben Hähnen: dem Klaren, Kümmel, Wodka, Genever, Grenadier, Pomeranz und Finnischem Wasser. Um sie herum schart sich die Literaturgesellschaft und bezeugt ihre Achtung. Vor der bauchigen Fassade erscheint Professor Schlippenbach, den Teller bereits gefüllt, ist er uns doch Schritt für Schritt um das Büfett gefolgt. Ein eher kleiner Mann, der Breite nach desto gewaltiger – indes beträgt sein Gewicht, so heißt es, nunmehr bloße 104 Kilogramm statt der 107 vom letzten Sommer. Eine zwiefache Uhrenkette schmückt seinen Bauch, dem Etikett einer Cognacflasche ähnlich; die Krawatte zieren gelbe und rote Punkte.
Und sieh da, neben ihm die vier Dozenten: Anton Ludvig Huund, ein hochgewachsener Mann, den Haarkranz zu kleinen Hörnern pomadisiert, doch sonst mehr einem Watvogel ähnlich. Fridtjuv Wallin, eine blonde Locke in die Stirn gezogen, in der Größe ihm fast ebenbürtig. Der dritte, Balle Bondeson, von eher pyknischer Figur, den rostroten Schnurrbart gezwirbelt. Und schließlich Gran ... ganz anders als die drei. Dieser Person haftet etwas Flüchtiges an, sie gleicht einer Zikade, die immer fliegt, fliegt und fliegend springt, allzeit eifrig, allzeit von neuen Aufgaben gefesselt. Zuweilen scheint sie in die Wolken entschwunden. Doch da ist ja auch dieses andere bei Gran, bei Dozentin Elisabet Gran, fünfundzwanzig Jahre alt und einzige Frau unter den Dozenten der Fakultät. Dort steht sie, Hering und Lachs auf dem Teller und einen doppelten Grenadier in der Hand; sie hat graublaue Augen und eine goldgefaßte Brille wie jeder beliebige Dozent, Haare wie Kupferdraht und trägt ein langes schwarzes Kleid. Dem Äußeren nach käme wohl keiner auf eine Academica.
Endlich nimmt der Professor Platz, sein Hof um ihn herum: die Dozenten, der Professor für klassische Sprachen und der Dozent der Assyriologie, Edén, Noréen und Bygdén, und dann das gesamte Seminarium, tripp, trapp, trull. Für all jene, die den Jahreskongreß der Literaturgesellschaft abgesessen haben, ist jetzt der Gipfel der Freude erreicht. Unter dem Besteck des Professors liegt der Hering bereit: glänzend und weich wie Grauwerk, Gespons des ersten Glases. Dort die Strömlingsdubletten, wie ein Ganzfranzband mit grünem Schnitt – sie nimmt man wohl zum zweiten. Ad tertium, quartum, quintum, sextum und septimum passen rosa Bücklingssalat, goldroter Maränenrogen, gesprenkelte Hackfischpastetchen in Rot, Grün und Weiß, schwabbelnde Kalbssülze und dann natürlich die warmen Häppchen.
Die Decke des Speisesaals ist rosafarben wie die Sülze, geschmückt mit Blumen und Nymphlein im Geschmack der Zeit, und der Krambambuli und sein Bruder müssen wohl schier aufgespart werden als Trunk zum Käse. Man leistet gute Arbeit beim Jahreskongreß der Literaturgesellschaft. Das Büfett ist ein Füllhorn, wie es sich kaum erträumen läßt, es biegt sich unter den Leckerbissen, und kaum ist eine Platte geplündert, trippelt schon ein Servierfräulein herbei mit einer neuen, ebenso schönen, ebenso beladenen. Sieh an – hier kommen die Kalbskoteletts – Schlippenbach ißt, und der Schweiß rinnt. Das Messer gleitet wollüstig durch gebeizten Lachs und verharrt, mitten im Schnitt. Träumerisch starrt der Professor zum Büfett. »Es lockt dich ... es lockt dich, all das gute Essen.«
Dann fährt er mit dem Kauen fort. Er verspeist sieben Lachse und zehn Kapaune, fünfzehn Ferkel, zehn Gänse und nochmals zehn. Dazu ein Fäßchen Heringe und zwei Kübel scharfe Soße, zwanzig Pasteten und zwölf Pfund Kaviar. Obendrein fünf gebratene Eier und fünf pochierte, fünf aus dem Topf und fünf aus der Pfanne, fünf in Kohl gekocht und fünf in Glut geröstet. Dann nimmt er einen Bierkrug in die rechte Hand und einen in die linke, um zu sehen, welcher am besten mundet. Und beide nennt er seinen Göttertrank.
»Ich bin euer Abt, meine Erzengel!« ruft Schlippenbach in einem Augenblick voller Ekstase, als alle vor ihrem Hauptgericht sitzen. Der Braten liegt herrlich dampfend auf den Tellern, nur Dozentin Gran ißt anspruchslos Seezunge à la Portugaise. Sie ist schließlich, trotz allem, eine Weibsperson, und übrigens bezahlt ja die Gesellschaft.
Grün eingelegt häufen sich die Tomaten in den Salatieren, die Soße dampft dick in der Sauciere, und das Gelee bebt wie der Busen des Servierfräuleins. Alle essen – nicht länger aus Hunger, sondern aus Lust und Vergnügen, in himmlischer Schwelgerei. Da stoppt Schlippenbach seine Gabel: »Wenn ich nun sterbe!«
Sein Gesicht erbleicht. Die Erzengel hören auf zu essen, und Dozent Bondeson richtet sich halb auf. Ein Windstoß fährt durch den Speisesaal. Einen Augenblick wird es kalt, und auf Dozentin Grans Armen zeigt sich Gänsehaut. Kann diese Welt jemals untergehen?
Doch rasch ist der Augenblick der Vergänglichkeit vorüber, und die kalten Windstöße ziehen sich zurück in die Gegenden hinter dem Mond, wo sie hingehören. Das Gesicht des Professors erglüht aufs neue. Glänzend und rot blickt er über den Tisch, über die Salatieren und Schüsseln, Platten und Saucieren. Im Speisesaal ist es warm, die Stimmung liebevoll. Die weißen Tischtücher sind von Soße und Gelee befleckt, doch alle sind sich so schrecklich wohlgesonnen: Schlippenbach und seine Dozenten, der Dozent der Assyriologie, der Referent und sogar die Kandidaten. Schlippenbach löst die Serviette unter dem Kragen, wischt sich den Bart und ruft: »Nehmt jetzt von den Leckereien, meine Engel!«
Er gibt selbst das Maß vor mit zwölf Trüffeln, Walnußsplittern in Schokolade und obenauf einer getrockneten Feige.
»Vergeßt nicht, auch Obst zu nehmen, das ist gesund! Schaut euren Professor an!«
Mit dem Dessertteller in der Hand begibt sich die Gesellschaft in die Caféabteilung. Professor Schlippenbach ordert Kaffee und eine Punschkirche für fünf Mann, denn die Finanzen der Gesellschaft sind gut und ihre Mitglieder frohgemut.
»Dozentin Gran«, sagt der Professor, als der Punsch vor ihnen steht. »Wie lange ist es her, daß Sie promoviert haben?«
Sechs Monate sind vergangen, seit sie ihre Doktorarbeit »Gotische Elemente in der Jugenddichtung Carl Gustaf Leopolds« vorlegte. Die gute Note, ein Stipendium und ein paar Kollegs hatten die letzten Monate für ihren Lebensunterhalt gesorgt. Der Professor beantwortet sich selbst die Frage: »Ein halbes Jahr wohl? Und sehnen Sie sich nicht nach neuen Aufgaben? Wie ein Pferd, das an den Zügeln reißt? Na was?«
Selbst habe der Professor, so sagt man, ein Werk über jeden Punkt der schwedischen Literatur geschrieben, oft in fünf oder sieben Bänden. Jedes Forschungsobjekt packt er mit gleicher Energie an, macht sich rasch mit dem Stoff vertraut und konzipiert das nächste Buch, noch auf der Chaiselongue liegend und eine Zigarre paffend. Seine eigene Büchersammlung ist so groß, daß er nur zur Carolina, der Universitätsbibliothek, geht, um Handschriften zu studieren. Auch auf diesem Gebiet ist er eine Koryphäe.
Dozentin Gran faltet die Serviette zusammen und sagt: »Oh, doch.« Dann zögert sie, schiebt die Brille ein Stück auf der Nase hoch und blickt in ihr Punschglas.
»Es ist nur so schwierig, genug Zeit für Archivbesuche zu finden, wenn man Unterricht hat.«
»Archivbesuche!« ruft Schlippenbach aus. »Wollten Sie also weiter in den Handschriften forschen?«
»Ich hatte vor, ins 17. Jahrhundert zurückzugehen und die Bildsprache der Gelegenheitsgedichte zu studieren.«
»Hm. Dozentin Gran, damit ist für Sie nichts zu gewinnen. Das Erforschen der Handschriften mag für uns Alte angehen, doch bei euch Jungen zählen andere Dinge in der Wissenschaft – nehmen Sie nur Huund und seine psychophrenologischen Studien!«
»Das Archivmaterial ist dennoch die Basis allen Wissens!« ruft die Dozentin und versucht entschlossen dreinzuschauen.
»Die Zeit hat diese Art Forschung hinter sich gelassen. Alles, was getan werden konnte, ist bereits getan – ja, das meiste habe ich selbst getan. Die Zeit des Sammelns ist vorüber. Jetzt ist die Epoche der Theorien angebrochen. Meine liebe Dozentin, ich habe sie früher schon erlebt, diese philosophierenden Seelen, versunken in Kontemplation. Ihr Jungen sollt keine Vorräte mehr in den Speisekammern des Geistes sammeln, zur Errichtung neuer literarischer Büfetts. Welche Zeiten vor uns liegen! Früher, da gab es noch Dinge zu entdecken. Archiv für Archiv habe ich durchforstet ...«
»Nein«, sagt die Dozentin und schüttelt den Kopf. »So schlecht ist es nicht bestellt!«
Schlippenbach schenkt erneut Punsch in die Gläser ein. Seine Wangen sind rosig, die Augen munter, und die Stimme klingt polternd.
»Ich gehe jede Wette ein, daß Sie, Dozentin Gran, nichts Neues in den Archiven finden. Bei allem, was Sie brauchen, bekommen Sie Hilfe: Stipendium für die erforderliche Zeit, Unterricht nur minimal, die Unkosten der Reisen für Sie selbst und Ihre Mitstreiter.«
Also führte Professor Georg Schlippenbach Dozentin Gran auf einen Berg; es war, als geleitete er sie hinauf in den nördlichen Turm des Schlosses, und im Wind am Schloßhang flatterten die Frackschöße wie schwarze Flügel hinter seinem Rücken. Oben angelangt, zeigte ihr der Professor alle Herrlichkeiten der Welt: Dort breitete sich die Stadt aus, mit Dom, Universität und Gustavianum; dort lagen prächtige Gebäude, Häuser und Hütten, und dann die Äcker hinaus bis nach Gamla Uppsala mit den uralten Königsgräbern. Nach allen Seiten konnte sie Ausschau halten: das ganze schwedische Land lag vor ihr, mit Bergen, Wäldern und Seen. Sie meinte, weidende Pferde zu sehen und ein schnaufendes Automobil, und die Luft war so klar wie die Prismen der Gaskronleuchter. Weit entfernt erblickte sie auch anderes: Fachwerkhäuser, ein Schloß aus Holz und eine Kirche auf einer Anhöhe; eine kleine Stadt inmitten einer großen, umgeben von einer Mauer; eine Silhouette mit Palästen und rosa Kais – und dann meinte sie dort unten in der Ferne Fackeln oder Signalfeuer zu sehen, doch gewiß hatte sie nur zu tief in das Licht der Kronleuchter geblickt. Nichtsdestotrotz war all das so schön, daß sie es mehr als gern besitzen wollte. Die ganze Welt wurde ihr angetragen, ja, der Himmel dazu, mit Sonne, Mond und all den schönen Sternen.
»Darf ich selbst wählen?«
Schlippenbach nickte väterlich.
»Dann will ich die Briefe der Sophia Elisabeth Brenner haben. Niemand interessiert sich für die Brenner, obgleich sie besser ist als jeder andere schwedische Dichter um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Nur Stümper haben ihre Schriften herausgegeben, und die Briefe ... Einen einzigen Brief gibt es meines Erachtens gedruckt, in einer gelehrten Zeitschrift des 18. Jahrhunderts!«
Elisabet Gran redete sich in Hitze: In den Briefen sei die ganze Persönlichkeit eines Autors sowie seine Zeit auf einem einzigen Blatt Papier gespeichert, von den höchsten Gedanken über das literarische Schaffen bis zu ganz alltäglichen wie: »Weißt du, wo man um diese Zeit getrocknete Zwetschgen erhält?« Diese Forschungsaufgabe sei nicht nur gewichtig, sondern angenehm obendrein, und die Dozentin schloß, indem sie betonte, die Brenner sei nicht einfach eine simple Schriftstellerin, sondern etwas ganz anderes, Großes.
»Bei dem Weibsbild ist mehr zu holen, als der Herr Professor glauben! Als ich das erste Mal auf ihre Gedichte stieß, da ...«
Elisabet Gran unterbrach sich, denn plötzlich überschattete eine Wolke die olympische Stirn Schlippenbachs.
Dann verschwand sie wieder, und er nickte ihr mit einem kleinen Lächeln billigend zu.
»Topp«, sagte Elisabet Gran. »Der Brenner werde ich Herr, dessen können Sie sicher sein. Ich spüre schon den Archivgeruch.«
»Aber, Dozentin Gran, wenn es Ihnen mißlingt ...« Er hob sein Punschglas zu einem Prosit, und sie ließ ihr Glas an seinem klingen. Da lachte Professor Schlippenbach: »Dann haben Sie wohl Ihre Seele verscherzt!«
»Aufgrund der wissenschaftlichen Schande!« stimmte sie zu.
»Sie schafft es«, ließ sich Dozent Bondeson vernehmen. »Sie forscht wie ein ganzer Mann, obgleich sie aussieht wie ein kesses Bienchen!«
»Geht die Sache zum Teufel, kannst du noch immer Studienrätin werden, an einem Landgymnasium für Mädchen«, sagte Huund aufmunternd.
»Oder heiraten«, ergänzte Wallin.
Die Dozentin spürte Wärme, nicht nur die des Lichts und all der Körper, sondern auch die geistige, die der Professor ausstrahlte. Rasch waren die Dozenten Huund und Bondeson überredet, im Duett zu singen. Ihre Stimmen klangen nicht übel. Dozent Bondeson war im übrigen der Sohn von Opernsänger Balle Bondeson, doch mißbilligte er auf das bestimmteste, Jung-Balle genannt zu werden.
»Es lebe das nächtliche ›Schylla‹!« trompetete Balle Bondeson jetzt.
»Dort herrscht ein zünftiges Treiben!« stimmte A. L. Huund ein. Im »Gästis«, vor langer Zeit in »Schyllas« Nachbarschaft gelegen, war das Treiben auch nicht von schlechten Eltern. Mag sein, der Abend war schon vorgeschritten, und etliche Gäste waren bereits verschwunden. Die Tapfersten aber harrten aus. Schlippenbach steckte sich eine Zigarre an, und die Studenten scharten sich enger um ihre Lehrer, um an deren Weisheit teilzuhaben. Und so erörterte man die Literatur und rühmte den Referenten ob seiner Ansichten zu den Fruchtbarkeitsgöttinnen der Sumerer. Als es von Dom und Heiliger Dreifaltigkeit Mitternacht schlug, gähnte Dozent Huund.
»Na, Jungs, was haltet ihr davon zu gehen?« fragte er. »Es wird langsam Zeit für die Siebenundvierzig und einige caelestis horis.«
Der Vorschlag traf auf das beifällige Gemurmel der Herren – Hunger und Durst waren gestillt, Zigarren und Zigaretten aufgeraucht. Die Nymphen in der Siebenundvierzig lockten mit anderen Genüssen, der ewigen Liebe Wonnen.
»Kommen der Herr Professor mit?« fragte Huund.
»Nja ... hm! Ich folge euch ein Stück des Wegs. Ein Nachtspaziergang tut gut nach all dem Qualm!« Dann unterbrach er sich. Dozentin Gran trank ihr Punschglas leer. Man erhob sich und verließ das Gasthaus.
»Jemand muß die Dozentin begleiten!« fuhr der Professor fort und sah in die Runde. Sein Blick fiel auf einen großen jungen Mann, der wohl Studienanfänger war. »Kandidat Månson!« Der blickte zu Boden und scharrte mit der Schuhspitze einen Berg Schnee zusammen. Der Schnee war weich und ließ sich zu einer Pyramide fügen. Månson trug dünne Lederschuhe ohne Galoschen, und seine Hosenbeine waren schmal und frischgebügelt. »Kandidat, Sie sind viel zu jung, um zu Weibsbildern zu gehen. Begleiten Sie Dozentin Gran heim!«
Kandidat Månson hob den Blick von seinem Schuh und schaute Elisabet Gran an. Eine Locke seines schwarzen Haares lugte unter der Studentenmütze, der dunklen für den Winter, hervor. Höflich bat er um Erlaubnis, sie heimbegleiten zu dürfen, und ebenso höflich nahm sie dankend an. Der Professor entbot eine gute Nacht, und die Gesellschaft zog zum östlichen Ufer des Flusses. Vom »Gillet« unten waren Lärm und Gelächter anderer Herren zu hören, die vermutlich dasselbe Ziel hatten. Auf der Straße zurück blieb das ungleiche Paar.
»Nun, Herr Kandidat«, sagte Dozentin Gran. »Ich will Sie nicht hindern. Folgen Sie nur den anderen!«
»Nein, nein! Im übrigen ... nicht einmal den Punsch zum Kaffee könnte ich mir dort leisten.«
Er bot ihr den Arm, und sie spazierten die Sankt-Eriks-Gasse hinunter. Die Dozentin summte den »Nächtlichen Marsch«, das Schlußcouplet ihrer Kollegen im »Gästis«. Kaum hatten sie die Pumpe erreicht, begannen die Punschnebel sich zu lichten. Der Novemberhimmel war dunkel und klar, und die Dozentin erschauerte vor Kälte oder Schönheit. Der Kandidat hielt stützend ihren Arm.
»Dort oben«, sagte er und sah zum Himmel auf, »ist alles so unendlich weit. Obgleich ich weiß, daß dem nicht so ist, möchte ich doch glauben, daß über die Erde ein riesiges Tuch gespannt ist und daß das Licht von außen durch winzig kleine Mottenlöcher hereindringt.«
»Oder«, sagte die Dozentin, »vielleicht stimmt auch, was das Mittelalter dachte, jeder Planet ist an einer Sphäre aufgehängt, alle bewegen sich und werden von einem intelligenten Wesen gesteuert, einem hohen, schönen Engel.«
Der Lärm vom »Gästis« war verstummt. Vom Dom ertönte ein dumpfer Schlag. Dann herrschte wieder Stille. Sie standen gegenüber von Ofvandahls Konditorei und schauten zum Himmel empor, ebenso still wie die Sterne.
»Frau Dozentin, hören Sie den Gesang?«
Vielleicht war da ein Ton in weiter Ferne, eine schöne Melodie ... sie hörte aufmerksam hin, um das Singen zu vernehmen. »Das ist die Harmonie der Sphären. Das wundervolle Knirschen, wenn die Sphären, die Sterne tragen, sich bewegen.«
Die Dozentin lächelte. Sie sah vom Himmel hinunter auf den Kandidaten, und dann ließ sie ihn los und ging weiter. Der Kandidat holte sie ein und griff nach ihrem Arm, doch sie schüttelte ihn ab und hielt sich von ihm fern. Er lief mit ausholenden Schritten, und die Dozentin mußte eilen, um bei dem Tempo mitzuhalten. Dann bogen sie in die Skolgata ein.
Vom Gasthof bis zur Götgata brauchte man nur kurze Zeit. Doch es schien kälter geworden zu sein, und der Schnee, der sich eben noch zur Pyramide schieben ließ, knirschte jetzt unter den Füßen. Elisabet Gran spürte, wie der Frost ihre Wangen kühlte und sie zugleich erglühen ließ.
»Sie frieren gewiß, Kandidat Månson.«
»Nein, es ist nicht schlimm.«
Da war nun die Götgata und das Holzhaus, in dem sie wohnte. Es war niedrig und alt, und der Professor pflegte besorgt zu fragen, ob das Viertel denn für sie geeignet sei. Doch in dem Haus lagen zwei nette Zimmer, eins für die Arbeit und eins, um auszuruhen, vollgestellt mit ihren Büchern und Möbeln. Ein eigenes Heim, also Sicherheit.
»Hier wohne ich. Adieu, Herr Kandidat.«
Sie blieb am Torweg stehen und blickte zum Kandidaten auf. Nur seine Augen waren im Halbdunkel zu erkennen, schwarz im hellen Gesicht. Sie reichte ihm die Hand.
»Psst!« wehrte er ab. »Hören Sie!«
Und da schien ihr wieder, als höre sie den Laut, der vielleicht die Harmonie der Sphären barg, doch ebensogut ein Säuseln in den eigenen Ohren sein konnte.
Der Kandidat hielt ihre Hand und drückte sie, und die Dozentin spürte erneut die Kälte. Månson roch angenehm nach Parfüm, vielleicht ein wenig zu stark für einen Nordeuropäer. Sie sagten adieu und gute Nacht, und der Kandidat harrte aus, bis die Dozentin in ihrer Wohnung angekommen war und er sah, daß im zweiten Stockwerk das Licht anging. Da machte er kehrt und ging denselben Weg zurück, denn schließlich wohnte er gleich neben dem »Gästis«.
Dozentin Elisabet Gran öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die schwarze Gestalt, die zur Skolgata abbog, bemerkte sie kaum, denn sie wandte den Blick nach oben. Unendlich weit erstreckte sich der Himmel über ihr, derselbe Himmel, der sich einst über Sophia Elisabeth Brenner wölbte. Die Sternbilder waren dieselben, älter, doch unverändert. Der Mond leuchtete, kalt und keusch wie eine Sichel. Die Nachtkälte drang ins Zimmer, und die Dozentin schloß das Fenster. Über den Dächern glitzerten noch immer die Sterne.
Neun Kreise
Journal einer Forschungsarbeit
Sophia Elisabeth Brenner, geborene Weber, Schriftstellerin, geb. 29. Apr. 1659 in Stockholm, verst. daselbst am 14. Sept. 1730. Betrieb für eine Frauensperson ungewöhnliche Sprachstudien und dichtete in lateinisch, italienisch, französisch und deutsch. Ihre Verse sind von außergewöhnlicher Korrektheit und Leichtflüssigkeit, ihre Sprache ist über die Maßen gewählt, und sie kann als eine derjenigen betrachtet werden, die das Programm der Sternhielmschen Schule – die unbearbeitete Muttersprache in ein gefügiges Werkzeug des Gedankens zu verwandeln – am besten verwirklicht haben. Auch wurde sie im eigenen Vaterland wie außerhalb mit Ruhm überhäuft und bald als »zweite Sappho«, bald als »zehnte Sangesgöttin« gepriesen. Teils beruhte ihre große Popularität gewiß auf dem Faktum, daß sie als erste Frau Schwedens öffentlich der Dichtkunst huldigte. Doch ihre an Alltagsreflexionen reichen, gewöhnlich in Alexandrinern abgefaßten Gedichte sind bei aller Trockenheit und allem Pomp geprägt von der Frömmigkeit und Zuversicht des karolinischen Zeitalters und verleihen der naiven Denkungsart des Bürgertums jener Zeit Ausdruck. In ihren Brautschriften schlug sie bisweilen einen heitereren Ton an. 1709 veröffentlichte sie ihre Poetischen Verse, vornehmlich bestehend aus Hochzeits-, Gedenk- und Gratulationsschriften (2. Aufl. 1713; der zweite Teil erschien 1732, nach ihrem Tod), und 1727 wurde die Geschichte der allerheiligsten Peinen Unseres Herrn und Erlösers Jesu Christi, in Reimen betrachtet herausgegeben. Das »Prachtweib« B. war eine einzigartig fähige und kraftvolle Frau und rühmte sich in ihren Gedichten, Mutter von fünfzehn Kindern zu sein.
(Aus: Nordisches Familienbuch, 2. Aufl. 1905)
Erster Kreis
24.11.1909
Man sollte die Briefausgabe sorgfältig dokumentieren, nicht nur indem man alles publiziert, was zu finden ist, sondern auch genauestens vermerkt, welche Archive man besucht, welche Briefe man schreibt und welche Gedanken sich während der Arbeit einstellen. Eigentlich wäre wohl eine Phonographenrolle vonnöten, die mit dem Gehirn verbunden ist, doch in Ermangelung solch technischer Errungenschaften muß ich Tagebuch führen.
Tagebuch? Was man schrieb, als man die Mädchenschule besuchte? »Liebes Tagebuch! Oh, ist Leutnant F*** fesch! Heute haben wir ein Übungsdiktat in Deutsch geschrieben, und stell dir vor, ich kriegte eine 1!« Alles sehr intim, sehr wirr und mit Ausrufungszeichen gepfeffert.
Ich entschließe mich daher, ein Journal zu führen, ein Forschungsjournal für mich persönlich und vielleicht ja auch für die Zukunft.
Heute ist der erste Tag meiner Forschungsarbeit. Vor zwei Tagen ging ich mit Schlippenbach die Wette zu den Brenner-Briefen ein, denn ich glaube tatsächlich, es war eine Wette. Die Zeit ist unbegrenzt, die Mittel sind es ebenso. Doch die Aufgabe ist groß – ein zweites Paar Hände wird gebraucht, ein Kopf neben dem meinen, eine Verdoppelung meiner Kenntnisse. Choice! Ich brauche Choice! Ihr Französisch wäre ein Gewinn ... doch hier in meinem Journal kann ich auch gestehen: Es wäre einfach schön, mit Choice zu arbeiten. Das Forschen ist oft eine recht einsame Sache. Mit mir allein könnte es zum Lebenswerk ausarten, und am Ende wäre vielleicht nur noch schwer feststellbar, wo meine Person anfängt und die der Brenner endet. Kurz gesagt: Ich will Gesellschaft haben. Deshalb rief ich gestern bei meiner Freundin an und schlug ihr eine Zusammenarbeit vor. Wir verabredeten uns für heute früh im Badehaus der Schloßquelle.
Die Luft war klar und schneidend kalt an diesem Morgen. Ich lief die Treppe hinunter, sagte der Portiersfrau adieu und legte zunächst denselben Weg zurück wie vorgestern abend, nach dem Jahreskongreß der Literaturgesellschaft: die Skolgata hinauf und die Sysslomansgata hinunter. Bei »Ofvandahls« bog ich ab und durchquerte den Universitätspark in Richtung Dom. Die Bäume waren schwarz und kahl, und der Wind pfiff wie so oft in Uppsala. Schneekörner, scharf wie Diamanten, fuhren durch die Luft und setzten sich in den Wimpern fest.
Kalt war es, schauderhaft kalt. Ich preßte die Hände tiefer in den Muff, als ich auf den Domplatz hinaufkam. Die Türme leuchteten tiefrot. Die Ziegel pflegten je nach Wetter die Farbe zu wechseln, im Winter waren sie von intensiverem Rot, doch wenn es richtig fror, wirkten sie fast eisig. Jetzt hoben sich die dünnen Zementtürmchen effektvoll vor dem Rot ab, eine Art Mittelalter, die sich das Mittelalter so nie gedacht hat. Man stelle sich vor, das Ganze nun auch noch zu beleuchten, die Wasserspeier mit violettem Rampenlicht zu umschmeicheln!
Das Schneetreiben wurde heftiger. Ich eilte rasch zum Badehaus und schlüpfte ins Foyer. Die Luft war warm und feucht wie im Gewächshaus, die Brillengläser beschlugen, und die Sicht war mir ganz und gar geraubt. Ohne Brille war die Welt nicht weniger verschwommen, doch hatte ich wenigstens nicht mehr diesen weißen Nebel vor Augen. Nachdem sich der Pförtner an der Einlaßkarte satt gesehen hatte, lief ich die Treppe hinauf zu den Damenschränken.
Der Umkleideraum war voller Wasserdampf und unterschied sich mithin nicht viel vom Türkischen Bad. Zwischen den Kabinen im Inneren pflegte es nach Veilchenseife und Eau de quinine zu riechen – hier draußen mehr nach Schwefelseife und Schweiß, denn hierher kamen meist die Armen oder Geizigen und die ganz versessenen Schwimmerinnen. Es ist nicht ganz klar, wozu ich zähle, Choice aber ist eine richtige Gesundheitssportlerin. Eigene Räume habe ich außerdem daheim, und es gefällt mir, beim Haaretrocknen auf der Bank zu sitzen und den Gesprächen um mich herum zu lauschen. Die Menschen erzählen so komische Dinge.
In der Mufftasche lag der Schlüssel zum Schrank. Das Schloß widersetzte sich. Vielleicht war die Feuchtigkeit schuld. So etwas passiert zuweilen, und dann muß der Hausmeister gerufen werden, der das Schloß ölt oder schlimmstenfalls heraussägt und ein neues verkauft. Die Damen im Umkleideraum schätzen so etwas nicht. Jetzt aber drehte sich der Schlüssel im Schloß, und die Tür ließ sich aufstoßen. Der Schrank muffelte wie die Turnsäle der Schulzeit: eine Mischung aus Schweiß, dem Geruch alter Badehauben und Handtücher, ziemlich penetrant. Bald mußte ich die Sachen wohl mit heimnehmen. Dennoch war der Gestank nicht ganz abstoßend – es liegt ein Genuß im Ertragen, im freiwilligen Aufsichnehmen von Leiden.
Ich holte Handtuch und Badehaube aus dem Schrank, stellte das Necessaire daneben und hängte die Kleider hinein. Wo steckte Choice eigentlich? Die Brille in einen Schnürstiefelschaft, die gerollten Strümpfe in den anderen. Es war immer das gleiche Elend, aus dem Korsett zu kommen. Mit Ankleidefrau oder in Reformkleidung ginge das leichter. Nicht einmal die Badewärterinnen, die drinnen im Warmbad mit den Bürsten klapperten, kamen mir zu Hilfe. Jetzt gab die Verschnürung mit einem Seufzer nach. Der Körper, noch immer morgenstarr und müde, protestierte dagegen, ganz ohne Halt auskommen zu müssen. Das Korsett an den Haken und das Hemd hinterher! Nun war ich nackt, steckte die Füße in die Badepantoffeln und zog alle Nadeln aus dem Haar. Ein einfacher Knoten machte sich unter der Badehaube am besten. Wo Choice nur blieb? Fünf Minuten Verspätung, aber natürlich kam sie selten pünktlich. Jetzt die Badehaube auf.
Ich konnte nicht mehr warten. Gänsehaut überzog den ganzen Körper, fing an den Gliedern an und griff auf den Rumpf über. Ich preßte die Schultern zusammen, um mich zu schützen. Es war besonders unangenehm, als die Haut am Hals bis hinunter zwischen die Brüste zu grieseln begann. Jetzt war Schluß. Ich nahm Handtuch und Necessaire und eilte zu den Duschen.
Kaskaden lauwarmen Wassers trommelten auf die Badehaube, und während ich auf einem Bein balancierte, um meinen Fuß sauberzuschrubben, dachte ich über die Wette nach. War es völlig töricht gewesen, sich darauf einzulassen? Nein, es müßte gut gehen. So schwer konnte die Arbeit nicht sein. Man brauchte lediglich gute Mitarbeiter, Energie und detektivische Begabung. Und wer sollte die sonst haben, wenn nicht ich, die ich doch alle Abenteuer von Holmes gelesen hatte. Ich seifte den anderen Fuß ein und dachte an die Brenner – eine dichtende Frau, ständig in anderen Umständen, ein brillanter Kopf, eine Frau neben all den Männern. Einfach weil sie talentiert war, hatte sie als Mädchen Latein gelernt, obgleich sie außer der Frakturschrift keinerlei Buchstaben hätte begreifen müssen. Doch um die Briefe zu finden: nun, dazu mußte ich systematisch vorgehen, in unserer eigenen Universitätsbibliothek, der Carolina, beginnen und dann die Kreise größer ziehen. Man mußte suchen. Ganz einfach beharrlich sein.
Jetzt waren die Füße sauber, doch keine Choice war zu sehen. Ich zog die Pantoffeln an und ging hinunter zum Bekken. Es war leer dort, immer noch still und ruhig. Nicht viele nutzten die morgendlichen Damenzeiten, nur eine einzige Studentin plätscherte im Becken. Haus und Kinder waren natürlich hinderlich, und die Büromiezen hatten wohl auch kaum Zeit.
Langsam stieg ich ins Becken. Natürlich kann ich tauchen, das hatte ich in einem heißen Sommer vor vielleicht fünfzehn Jahren gelernt, ja, noch weit im vorigen Jahrhundert. Damals hatten wir Kinder am Strand gespielt, und einer der Jungen hatte mir das Tauchen beigebracht. Den ganzen Sommer über hatte ich es geübt und sehr gut gemacht, wie ich selbst fand. Vielleicht ließ ich es deshalb heute bleiben, wollte die Kindheitserinnerung nicht durch ein Hineinplumpsen ins Wasser verderben.
Ich bin keine Eliteschwimmerin. Mein Schwimmstil ist energisch, konzentriert und ein klein wenig fahrig wie mein Charakter, und meine Forschungsarbeit auch, wenn ich ehrlich bin. Die müden Morgenmuskeln waren gezwungen, sich zu strecken, dann nachzugeben, strecken, erschlaffen ... in raschem, gleichmäßigem Tempo. Ein entgegenkommendes Mädchen hob winkend die Hand, und ich winkte mitten in der Armbewegung zurück. Es war sicher jemand vom Verein für Studentinnen, doch ihr Gesicht blieb ein weißer Fleck.
Jetzt kam eine dieser ewigen Vorbeischwimmerinnen.
»Trödelsuse«, flüsterte sie, als sie auf gleicher Höhe war und mich zur Seite drängte.
»Was zum ... Choice! Es wurde aber auch Zeit!«
»Wie weit schwimmst du? Einen Kilometer! Bis dann!« antwortete Choice, und bald sah ich nur noch ihre Füße, und die übrigens auch vor allem wegen der Wasserspritzer.
Choice kann wirklich schwimmen. Sie ist groß und schlank, hat dunkles Haar, das ganz natürlich in Locken fällt. Wer ihren Kosenamen erfunden hat – sie besitzt ihn schon seit der Kindheit, und keiner weiß es genau –, traf ins Schwarze. Es mag schon sein, daß sie Gudrun Nordin heißt, doch als Name paßt »die Auserwählte« besser. Ihre Gestalt gleicht einem Ornament der l’art nouveau. Man könnte sie sich porträtiert auf einer Chaiselongue vorstellen, zurückgelehnt, mit einer Schachtel Pralinen in Reichweite und daneben auf dem Tisch einen Band Sonette von Gripenberg. So sieht sie aus. Vom Charakter her ist sie ganz anders. Groß und schlank von Wuchs hat sie natürliche Voraussetzungen, um Sport zu treiben, und die nutzt sie auch. Als Studentin trainierte sie jede nur erdenkliche Leibesübung und war eifriges Mitglied im Lawntennis-Club der Uppsala-Studenten. Heute als Stockholmerin spielt sie Tennis und Bandy mit den Damen im Sportclub der Kronprinzessin Margareta. Am Netz kann sie übrigens auch den geschicktesten Mann schlagen.
Choice ist Fürsprecherin alles Gesunden und Heilsamen – besser gesund als sündig, ist ihr Motto, und über Dekadenz rümpft sie nur die Nase. Mit Trauer betrachtet sie die Degeneriertheit der Zeit, die alle Klassen erfaßt. Wenn sie selbst im Kreis von Freunden zu einem Glas greift, ist das mehr den veralteten Sitten geschuldet als wirklicher Neigung. Trotz allem ist sie schließlich Journalistin und muß sich verhalten, wie die Leserschaft es von ihr erwartet.
Sie ist schön, die Choice, und die Männer bewundern sie. Sicher ziehe auch ich Blicke auf mich, doch neben Choice bemerkt mich keiner. Dennoch ist sie unverheiratet, trotz ihrer dreißig Jahre. Sie wohnt in einer Pension und scheint ihren Familienstand nicht zu bedauern. Liebe verachtet sie. Soweit mir bekannt ist, gab es für sie nur eine Liebe, und die ist vollkommen platonisch: Per Henrik Ling, Vater der schwedischen Gymnastik. Im vollen Ernst verteidigte sie seine dramatische Dichtung vor dem Hohngelächter des Studentinnenvereins, und es ist auch nicht merkwürdig, daß sie die Linggymnastik allen anderen Sportarten vorzieht. ›Die Knie beugt, die Arme streckt‹ ist für sie, was für andere Menschen der Morgenkaffee ist. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß sie aus Prinzip aufgehört hat, Kaffee zu trinken. Neben Choice wirkt jedermann unentschlossen und schwach.
Der Beckenrand kam mir erneut entgegen, ich wendete und stieß mich mit den Fußsohlen von den Kacheln ab. Beim nächsten Schwimmstoß beschloß ich, Choice nichts von der Wette zu sagen. Daß Schlippenbach und ich verschiedene Ansichten zu den Wegen der Literaturforschung hatten, ging nur uns beide etwas an und niemanden sonst. Es genügte, daß Choice vom Sammeln der Briefe wußte.
Als ich aus dem Becken kletterte, tropfend wie eine frisch aus dem Eis gekommene Punschflasche, schoß Choice mit einem letzten raschen Stoß zum Beckenrand vor und stemmte sich nach oben. Sie drückte das Wasser aus einer Haarlocke, die unter der Badehaube hervorlugte, legte den Arm um mich und erklärte, wie schön es sei, mich zu sehen.
»Komm rasch mit ins Dampfbad!«
Das Dampfbad war der höchste Genuß beim Baden – erst Kälte, körperliche Anstrengung und Martyrium, dann Abseifen in der Dusche und Haarwäsche mit Javol-Shampoonpulver. Und schließlich Wärme, anfangs knochentrocken, dann dampfend feucht, bis der ganze Körper sich entspannte und man sich fühlte wie in einem morgenländischen Harem – träge, wollüstig und völlig nackt. Ich legte mich hin und schaute zur Decke auf, die hinter dem Wasserdampf und den Nebeln der Kurzsichtigkeit verschwand. Choice hatte eine Bürste bei sich und bearbeitete sorgfältig ihren ganzen Körper, von den Schultern abwärts.
»Die Brenner ...«, sagte sie. »Viel ist mir nicht über sie in Erinnerung geblieben aus der Zeit, als ich Literaturgeschichte belegte. Natürlich gibt es ein paar Seiten in Schlippenbachs Handbuch, und die sind ja ...«
»Von freundlicher Nachsicht?«
»Hmm. Ist neunmalklug und und weiblichen Geschlechts, aber kann wenigstens Verse schreiben.«
»Im Unterschied zu den meisten karolinischen Poeten, ja!«
»Liebe Lissie«, sagte Choice und begann mit der Bürste die Ferse zu schrubben, »es gibt kaum andere Poeten unter Karl XI. und XII. – und die wenigen, die es gibt, schreiben wirklich miserabel. Nein, ich habe darüber nachgedacht ...«
Sie wechselte zum anderen Bein, stellte den Fuß auf die Pritsche und bürstete die Rückseite des Schenkels.
»Ich habe mich ja vor allem mit dieser Zeit beschäftigt, als ich hier studierte. Erinnerst du dich, was die Burschen im Seminarium zu meinem Aufsatz sagten?« Sie lachte leise und massierte die Kniescheibe mit der Wurzelbürste. »Daß es unpassend für eine Studentin sei, über einen Saufbold wie Runius zu schreiben! Und das, obwohl mein Aufsatz nur eine höchst seriöse Durchsicht seiner Gelegenheitsdichtung war und Schlippenbach ihn mit Laudatur bewertete. Ist doch eine Crux.«
Jetzt war das Schienbein an der Reihe, und es erforderte größere Sorgfalt, da die Bürste keine Kratzer hinterlassen