Himbeerdrops und Dynamit
By Maj Bylock
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Himbeerdrops und Dynamit - Maj Bylock
spüren.
Das Gebiß in den Preiselbeeren
Ich hatte viele Geheimnisse vor meiner Mutter. Die meisten fand sie schnell heraus, also mußte ich ganz schön vorsichtig sein.
Im Augenblick war mein größtes Geheimnis der Zahn. Eigentlich war es eher ein Loch. Von dem Zahn war nur eine Hülle mit scharfen Kanten übrig. Unglaublich, daß etwas, das fast nicht mehr vorhanden war, so weh tun konnte. Und wenn es gerade nicht weh tat, blieben alle möglichen Essensreste in dem tiefen Loch hängen. Meine Zunge war andauernd damit beschäftigt, Kuchenkrümel, Fleisch und Pfannkuchenreste rauszupulen. Ich steckte die Zungenspitze rein und saugte, bis es schmatz machte.
Auf Sahnebonbons, Kaugummi und Himbeerdrops verzichtete ich schon seit Wochen. Und dennoch war es ein Sahnebonbon, das mich zu Fall brachte.
Papa hatte Alpen-Sahnebonbons gekauft und bot mir eines davon an. Die Alpenbonbons schmeckten unbeschreiblich lecker. Es gab drei verschiedene Sorten: Vanille, Lakritze und Himbeer. Auf dem Einwickelpapier saß ein Junge mit einem Tirolerhut auf dem Kopf. Der Junge hieß Alpen-Olle. Ich starrte das Bonbon in Papas Hand an. Alpen-Olle lächelte mir freundlich zu. Ich konnte nicht widerstehen. Bald lag das süße Sahnebonbon auf meiner Zunge.
Sahnebonbons verteilen sich unglaublich schnell im Mund, daher war mein Genuß ziemlich kurz. Innerhalb von drei Sekunden hatte das Bonbon das Loch in meinem Zahn gefunden.
Zuerst glaubte Papa, mit dem Bonbon sei irgendwas nicht in Ordnung. Doch dann begriff er, daß ich diejenige war, die nicht in Ordnung war. Bisher hatte ich noch nie ein Bonbon im Mund und gleichzeitig Tränen in den Augen gehabt. Ich mußte den Mund aufsperren, und kurz darauf hatte er natürlich alles Mama verraten.
Mama rief sofort den Zahnarzt an. Der Zahnarzt wohnte in der Stadt. Weil der Zahn so sehr schmerzte, sollte ich gleich am nächsten Tag kommen.
Es gab drei Dinge, die ich mehr als alles andere auf der Welt fürchtete: den Zahnarzt, den Krieg und Back-August, der kleine Mädchen jagte. Der Krieg war noch in weiter Ferne, und vor Back-August konnte ich davonrennen. Mit dem Zahnarzt war es nicht so einfach. Ich sah ein, daß ich keine Wahl hatte. Nicht einmal Großvater konnte mich trösten.
Es wurde vereinbart, daß Mama und ich mit dem Zug in die Stadt fahren sollten. Sonst war eine Reise in die Stadt ein Fest. Jetzt lag ich hinterm Sofa und betete, daß der liebe Gott es mir ersparen möge. Könnte er die Sache mit dem Zahn denn nicht irgendwie anders regeln? Ich band einen Faden um den Zahn und versuchte, Gott beim Rausziehen zu helfen. Aber offensichtlich war Gott der Ansicht, daß dies die Aufgabe des Zahnarztes sei. Der elende Zahn saß nämlich fest wie ein Felsen.
Ich riß den Faden ab und krabbelte wieder hinters Sofa. Dort lag ich oft, wenn mir das Leben schwer erschien. Und so wurde es hinterm Sofa nie besonders staubig.
Im Laufe des letzten Jahres war ich tüchtig gewachsen, daher schauten meine Füße hinterm Sofa hervor. Als die Uhr in der Küche acht geschlagen hatte, sagte Mama zu meinen Beinen, es sei an der Zeit, ins Bett zu gehen.
»Unser Zug fährt morgen früh schon um sieben«, fügte sie hinzu.
Als ob ich das nicht gewußt hätte!
Eigentlich hätte ich am nächsten Tag Klavierstunde gehabt. Mama mußte anrufen und absagen. Wenigstens ein kleiner Lichtblick!
»Wie schade«, sagte die Klavierlehrerin. »Aber wenn ihr in die Stadt fahrt, könnt ihr vielleicht einen Topf Preiselbeerkompott für meine Schwester mitnehmen?«
In der Nacht bekam Mama Fieber und Halsschmerzen. Vielleicht hatte der liebe Gott meine Gebete doch noch erhört? Aber Großvater wußte nicht, worum ich gebetet hatte. Hilfsbereit bot er an, mit mir in die Stadt zu fahren.
Bald standen wir auf dem Bahnhof und warteten auf den Zug. Zwischen uns stand der Preiselbeertopf. Der Topf hatte keinen Deckel, bloß ein Stückchen Papier lag über dem Kompott.
Hinter mir hörte ich das Quietschen von Post-Olssons gelbem Karren. Er kam zu uns und wollte einen Schwatz halten, aber ich war noch saurer als das Kompott. Mit dem Tod im Herzen hörte ich den Zug heranschnaufen.
Am Ende eines jeden Wagens befand sich eine kleine Plattform mit einem Eisengeländer. Großvater öffnete eine der Türen und hob den Preiselbeertopf hinauf. In dem Augenblick, als er den Topf hinstellen wollte, machte der Zug einen Ruck.
»Herrje!« schrie Großvater. Er war von dem Kompott beinahe ertränkt worden.
Post-Olsson stieß ein schwaches Wimmern aus, dann plumpste er zu Boden. Er hatte geglaubt, es sei Blut, und war ohnmächtig geworden.
Auch nachdem der Stationsvorsteher ihn abgewaschen hatte, sah Großvater noch blutverschmiert aus. Doch das war nicht weiter schlimm. Viel schlimmer war, daß sein Gebiß verschwunden war.
Wir krochen auf dem Boden herum und snchten. War das Gebiß etwa unter dem Zug gelandet? Sogar Olsson half uns beim Suchen, nachdem er sich erholt hatte. Doch das Gebiß war und blieb verschwunden.
»Das Leben muß weitergehen und der Zug auch«, sagte der Stationsvorsteher.
Bald darauf saßen wir im Abteil und rollten der Stadt entgegen. Der Topf stand zwischen uns auf dem Boden, er war immerhin noch halbvoll.
Großvater lutschte noch ein paar Kompottreste, die in seinem Schnauzbart hängengeblieben waren. Sonst war alles still. Jeder von uns war tief in Gedanken versunken, aber beide dachten wir an Zähne. Und wenn man keine Zähne hat, ist es gar nicht so einfach, sich zu unterhalten.
Als wir ausstiegen, stand die Schwester meiner Klavierlehrerin auf dem Bahnsteig und wartete auf die Preiselbeeren. Zuerst schaute sie in den Topf, dann sah sie Großvater an.
Wir wußten beide, was sie dachte, daher sagte Großvater: »Ich hab mich ein bißchen beklekkert, als ich vom Kompott genascht habe.«
Dann verbeugte er sich höflich, und ich machte einen Knicks. Mein grünes Kleid wippte, als wir vom Bahnsteig wegspazierten.
Ich vergaß fast, wohin wir unterwegs waren. Aber nur fast! Der Weg zum Haus des Zahnarztes war viel zu kurz. Meine Hand lag wie ein klebriges Stückchen Eis in Großvaters warmer Pranke. Meine Zähne klapperten.
Großvater hielt meine Hand getreulich fest, bis der Zahnarzt ihn bat, beiseite zu treten. Und meine Zähne hörten erst auf zu klappern, als ich den Mund weit aufsperren mußte.
Nadelscharfe Blitze aus silbernem Licht stachen mir in die Augen. Bedrohliches Klirren schnitt mir in die Ohren. Meine Beine wanden sich umeinander, bis die Strümpfe wie Wursthäute an ihnen herabhingen. Mit angehaltenem Atem wartete ich auf das fürchterliche Ereignis.
»So, das wär’s«, sagte der Zahnarzt im selben Augenblick und hielt mir etwas Blutiges hin.
Dann preßte er einen Wattebausch an die Stelle, wo der Zahn gewesen war. Bevor ich überhaupt begriffen hatte, daß alles vorbei war, stand ich schon wieder auf wackeligen Beinen auf dem Boden.
Inzwischen hatte Großvater meinen Platz im Stuhl eingenommen. Da wir schon einmal da waren, konnte er sich gleich ein neues Gebiß anpassen lassen.
Erst als wir auf der Straße standen, wagte ich, meiner großen Freude Lauf zu lassen.
Wir setzten uns ein Weilchen zum Ausruhen in den Park. Dort plätscherte ein Springbrunnen in einem Ententeich. Das Wasser rieselte über eine grüne Statue, die ein kleines Mädchen darstellte. Das Mädchen lächelte. Ich lächelte zurück und dachte, daß das Leben trotz allem doch recht schön sei.
Großvater saß mit geschlossenen Augen still neben mir. Ich wollte ihn nicht stören. Wenn er erst einmal richtig eingenickt wäre, würde er anfangen zu schnarchen und sich selbst wecken.
Still und friedlich zeichnete ich ein Himmel-und-Hölle-Feld in den Kies und suchte mir einen Hüpfstein. Wenn man glücklich war, mußte man einfach hüpfen!
»Schnnnrrrchch!« Großvater stieß ein kurzes Brummen aus und reckte sich. Dann versuchte er so auszusehen, als ob er überhaupt nicht geschlafen hätte. Er stand auf und ging mit mir zum Marktplatz.
Papa hatte gesagt, wir sollten etwas Ordentliches essen. Am Marktplatz gab es eine Gaststätte. Wir standen lange davor und lasen die Speisekarte, die im Fenster lag.
»Schweinebraten mit Kartoffeln und Preiselbeerkompott. Nein, bestimmt nicht«, sagte Großvater.
»Blutwurst mit Soße.« Ich schauderte und sah Großvater an.
Dann überquerten wir den Marktplatz und gingen zu dem allerschönsten Stand der ganzen Stadt, wo eine dicke Frau große Waffeltüten voller Eis verkaufte.
Wir kauften zwei der allergrößten Tüten und schleckten das Eis. Die Waffeltüten bereiteten uns jedoch Schwierigkeiten, kauen konnten wir sie nicht. Also gaben wir sie den Enten im Teich.
Wir hatten es uns gerade im Zug gemütlich gemacht, um nach Hause zu fahren, als jemand heftig ans Fenster klopfte. Draußen