Mädchenwohnheim
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Mädchenwohnheim - Marie Louise Fischer
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1
Der Bus rollte die Leopoldstraße hinunter. Noch war der Frühsommerhimmel über München hell, aber schon flammten in Schwabing die verlockenden Leuchtschriften über den Eingängen der Nachtlokale auf: der Bars, der Diskotheken, der Theater, Drugstores und Tanzetablissements.
In Gitte, die auf der hinteren Plattform des Busses stand und hinausblickte, erweckten sie eine prickelnde, schmerzhafte Sehnsucht. Sie wollte nicht einfach ausgehen, nicht mit irgendjemandem; das hätte sie jeden Abend haben können, aber das hätte ihr keinen Spaß gemacht, ohne den Mann, den sie liebte. Doch der lebte viele hunderte Kilometer weit entfernt. Das Herz zog sich ihr zusammen, wenn sie an sein liebes Gesicht dachte. Peter! - Lautlos formten ihre Lippen seinen Namen, und doch kam es ihr selber vor wie ein Schrei. »Na, was ist?« fragte der junge Mann neben ihr, Andreas Kramer, Lehrling im medizinisch-biologischen Institut wie sie selber. »Kommst du nun mit?«
»Nein!« entgegnete sie. »Wie oft soll ich es dir noch sagen, bis du es endlich kapierst!«
»Mensch, was bist du bloß für eine Flasche! Wenn man dich so ansieht, kann man sich gar nicht vorstellen, was für eine Flasche du bist!«
Sie nahm es ihm nicht übel, denn sie verstand seinen Ärger. »Mach dir nichts draus, Andy, du findest schon ’ne andere. Ich bin sowieso zu alt für dich.«
»Na hör mal. Ich bin achtzehn!«
»Eben. Ich auch.«
Der Bus hielt.
Gitte drängte zum Ausgang. »Tschau, Andy. Bis morgen.«
Sie sprang ab, überquerte die Fahrbahn und bog in die Ainmillerstraße, ein großes, schlankes Mädchen in einem beigen Ledermantel und hochhackigen, schmalen Stiefeln. Die rote Schirmmütze, die sie sich schief auf den Kopf gesetzt hatte, gab ihr etwas Keckes; sie wirkte sehr hübsch mit der reinen Haut, den grauen, von langen, schwarz getuschten Wimpern umgebenen Augen.
Während sie die Straße hinaufeilte, freute sie sich schon auf einen gemütlichen Abend mit ihrer Zimmerkameradin. In der rechten Hand trug sie eine Plastiktüte mit einer Flasche Diätwein - Diät wegen der schlanken Linie -, den sie sich und ihrer Freundin gönnen wollte.
Schon von weitem sah sie das hell erleuchtete Portal des Mädchenwohnheims, eines modernen Gebäudes, dessen Fassade mit rötlichen Kunststeinen verkleidet war.
Die Eingangstür war offen. Gitte stieß sie auf. Im Aufenthaltsraum sah sie Jungen und Mädchen vor dem Fernseher sitzen. Sie wandte sich nach links, wo hinter einem meist offenen Schiebefenster die jeweilige diensthabende Aufsicht saß. Heute war es Fräulein Zöllner, eine gelernte Jugendfürsorgerin.
Sie war jung, freundlich und allgemein beliebt.
»’n Abend, Gitte«, grüßte sie, »schweren Tag gehabt?«
»Lässt sich ertragen.«
»Dein Essen steht im Ofen.«
»Danke, Fräulein Zöllner. Habe ich Post?«
Fräulein Zöllner ließ den Blick über die Postfächer gleiten. »Leider nein«, sagte sie, »oder doch: ein Paket für dich!«
Gitte wurde zwischen zwei ganz und gar verschiedenen Gefühlen hin und her gerissen: Enttäuschung darüber, dass Peter nicht geschrieben hatte, und Freude über das Paket, das bestimmt von zu Hause kam. Sie ging um die Ecke herum und trat in die Wachstube, in der es einen Schreibtisch und verschiedene Stühle gab.
Das Paket stand in der Ecke seitlich unter dem Schiebefenster. Gitte hob es hoch. Es war schwer.
»Dann esse ich heute Abend lieber nichts«, erklärte sie lächelnd, »meine Mutter hat bestimmt was Gutes eingepackt, und doppelte Rationen kann ich mir nicht leisten.«
»Aber du bist doch so schlank, Gitte!«
»Weil ich aufpasse.« Sie wandte sich zur Tür.
»Moment mal, Gitte!« rief Fräulein Zöllner. »Ich weiß, du hast es jetzt eilig auszupacken, aber setz dich doch einen Moment.«
Gitte krauste die Stirn; sie war schon zwei Jahre im Wohnheim, gleich seit sie von dem heimatlichen Dorf in Norddeutschland nach München gekommen war, und sie wusste aus Erfahrung, dass solche Aussprachen selten etwas Gutes brachten. »Ja …?« sagte sie zögernd. »Ich wüsste nicht, dass ich was angestellt hätte.«
»Du doch nicht. Wie kommst du denn auf so was.« Fräulein Zöllner kramte in einem Stoß Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen. »Es handelt sich um etwas ganz anderes … Fräulein Tyssen hat eine Neue auf euer Zimmer gelegt.«
»Was?« Gitte hätte vor Schreck fast das Paket fallen lassen und legte es rasch auf die Schreibtischkante.
»Das darf doch nicht wahr sein!«
»Du und Lola, ihr wohnt in einem Dreierzimmer, das weißt du doch. Ihr hattet Glück, dass ihr die letzten Monate allein geblieben seid. Aber das konnte doch nicht ewig dauem.«
»Ist denn nirgends anders was frei?«
»Doch. Aber Frau Tyssen meint, dass sie am besten zu euch passt.«
»Wer ist sie denn?«
»Sie heißt Angi, ist fünfzehn Jahre alt und Gymnasiastin.«
Gitte ließ sich auf einen der Stühle sinken. »Ausgerechnet! Uns bleibt aber auch nichts erspart!«
»Seid nett zu ihr, ja? Helft ihr, sich zurechtzufinden.« Gitte erhob sich langsam. »Wo ist sie denn her?«
»Aus München. Häusliche Schwierigkeiten. Das Übliche.«
Gitte nahm ihr Paket. »Da kann man wohl nichts machen.« Sie zog eine Grimasse. »Immer auf uns Kleine.«
Die Neue stand, nur mit Höschen und Strumpfhose bekleidet, vor ihrem Bett und wühlte in ihrem geöffneten Koffer.
»’n Abend, Angi!« grüßte Gitte so herzlich, wie es ihr möglich war. »Willkommen in …« Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen.
Die Neue fuhr herum, kreuzte die Arme über dem nackten Busen und rief: »Kannst du nicht anklopfen!« Sie war ziemlich mollig, hatte ein rundes Gesicht mit einem kräftigen Kinn, und das rötliche, in der Mitte gescheitelte Haar stand ihr weit vom Kopf und wirkte wie eine Löwenmähne.
»Warum sollte ich?« Gitte trug ihr Paket zu dem Tisch mit den drei Stühlen, der dicht am Fenster stand. »Ich wohne ja hier.«
»Du könntest trotzdem …«
»Hör mal, Angi, wenn ich dir einen guten Rat geben darf: fang nicht gleich an zu stänkern. Hier im Heim herrschen bestimmte Gesetze, geschriebene und ungeschriebene, und du tätest gut daran, dich anzupassen, anstatt gleich alles auf den Kopf stellen zu wollen. Im Übrigen brauchst du dich nicht zu genieren. Ich weiß sehr gut, wie ein nacktes Mädchen aussieht.« Sie wies auf das Waschbecken, über dem die Becher mit Lolas und ihrer Zahnbürste standen. »Wir waschen uns ja hier im Zimmer.«
»Gibt es denn kein Bad?«
»Es gibt Bäder. Aber nicht genug, dass wir sie alle zugleich jeden Morgen und jeden Abend benutzen könnten. Also wird’s eingeteilt.« Sie reichte Angi die Hand. »Ich heiße Gitte. Und ich hoffe sehr, dass du dich bei uns wohl fühlen wirst.«
Angi erwiderte Gittes Händedruck, hielt aber den linken Arm immer noch krampfhaft über dem Busen. »Besser als zu Hause wird es hier allemal sein.«
»Das kommt darauf an.« Gitte nahm ihre Mütze ab und schlüpfte aus ihrem Mantel, unter dem sie einen grauen Minirock und einen selbst gestrickten, rotweißen Pullover trug.
»Auf was?« fragte Angi und schlüpfte rasch in einen ihrer Büstenhalter.
»Wie es bei dir zu Hause ist.«
»Grausam.«
Lola stürmte herein; sie trug lange Hosen, einen gelben Pullover mit Schal, ein zierliches Mädchen mit bräunlicher Haut, einem dunklen Lockenkopf und schwarzen, glänzenden Augen. Sie arbeitete als Lehrling bei der Münchner Bankgesellschaft. Jetzt fiel ihr erster Blick auf Angi. »Eine Neue?« rief sie. »Das hat gerade noch gefehlt!«
»Sei lieb zu ihr, Lola!« bat Gitte. »Sie ist ein Spatz, der gerade erst aus dem Nest gefallen ist.«
Lola trat zu ihr. »Grüß dich, Gitte! Warum bist du nicht zum Essen gekommen? Ich habe unten auf dich gewartet!«
»Darum!« Gitte wies auf ihr Paket. »Wir können uns einen gemütlichen Abend machen. Wein habe ich auch mitgebracht.«
»Tut mir leid, Alte. Aber ich habe noch was vor.«
Gitte hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.
»Kenne ich ihn?«
»Nicht die Bohne. Eine ganz neue Eroberung. Ein Traumjunge!« Lola stellte das Kofferradio an und tanzte auf dem kleinen Platz zwischen den Betten und Schränken. »Endlich der Richtige.«
»Na dann viel Spaß«, sagte Gitte, »ich gratuliere.«
Lola zog sich in Sekundenschnelle splitternackt aus, räumte Hosen und Pullover in den Schrank, tat Strümpfe und Unterwäsche in den Schmutzbeutel und versuchte dann, Angi wegzuschieben, die gerade vor dem Spiegel stand. Angi dachte nicht daran, ihr den Platz zu räumen. »Ich war zuerst da.«
»Na, wenn schon. Räum’ erst mal auf.«
»Aber ich will mich zurechtmachen!«
»Bitte nach mir, mein Schatz!«
»Ich kann das nicht so schnell, sonst wird es nichts!« protestierte Angi. »Ich muss auch noch die Augenbrauen zupfen, und um neun bin ich verabredet!«
»Nimm den Taschenspiegel!« entgegnete Lola ungerührt; sie langte an Angi vorbei, drehte die Hähne auf und ließ Wasser in das Becken laufen.
Gitte hob den Kuchen, den ihr die Mutter gebacken hatte, aus dem Karton. »Um neun Uhr kannst du nirgendwo mehr hin«, erklärte sie.
Angi fuhr herum.
»Und wieso nicht?«
»Weil du Punkt neun Uhr im Bett liegen musst. Da ist die erste Kontrolle.«
»Nein!« Angi war so fassungslos, dass sie beiseite trat.
»Doch«, feixte Lola und wusch sich mit klatschendem Waschlappen, »wenn du erst fünfzehn bist, ist für dich um Punkt neun Uhr Zapfenstreich!«
»Und du darfst weg?«
»Bis elf! Weil ich siebzehn bin. Und Gitte ist achtzehn und kriegt sogar ’nen eigenen Hausschlüssel. Auch wenn du platzt, Kleine, das sind Tatsachen, mit denen du dich abfinden musst.«
»Aber ich bin verabredet!«
Die beiden anderen Mädchen sagten nichts dazu. Gitte ordnete die frische Wäsche ein, die die Mutter ihr geschickt hatte, und Lola plantschte mit Wasser und Seife. Während sie sich wusch und anzog, summte sie, pfiff und sang die Melodien mit, die Bayern zwei sendete.
Angi kämpfte mit den Tränen.
»Gitte«, bat sie mit erstickter Stimme, »bitte, leih mir deinen Hausschlüssel.«
»Den Zahn«, sagte Lola herzlos, »kannst du dir gleich ziehn. Erstens bekommt sie den Schlüssel nur, wenn sie ihn braucht. Zweitens kämst du auch mit dem Schlüssel gar nicht an der Zöllner vorbei. Und drittens verstößt so was gegen die Hausordnung und kommt überhaupt nicht in Frage!«
»Dich habe ich ja nicht gefragt!« sagte Angi giftig.
»Sei froh, wenn ich dir trotzdem antworte! Nicht mal mir würde Gitte ’nen Hausschlüssel beschaffen, obwohl wir Freundinnen sind, und Recht hat sie, denn wer will schon hier herausfliegen? Ich jedenfalls nicht, und Gitte auch nicht.«
Angi saß, die Hände zwischen den Knien, auf der Bettkante, und die hellen Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Um neun Uhr Schluss … das ist ja mörderisch! Das ist ja noch viel schlimmer als zu Hause!«
»Ja, so kann’s einem gehen!« Lola zog sich eine schwarze, hautenge Jerseyhose an und über den Kopf einen schwarzen, ärmellosen Pulli, in den silberne Fäden und, auf der Schulter, eine silberne Rose eingewebt waren. »Hättest dich eben vorher erkundigen sollen.«
Gitte tat die Neue leid. »Sprich doch mal mit der Zöllner«, schlug sie vor. »Vielleicht gibt sie dir eine Sondererlaubnis.«
»Ausgeschlossen!« erklärte Fräulein Zöllner. »Du bist gerade den ersten Tag bei uns und willst schon Sonderausgang haben? Das ist völlig ausgeschlossen.« »Aber gerade deshalb muss ich doch fort«, beharrte Angi, »weil ich erst heute gekommen bin, und weil mein Freund nicht weiß …«
»Kannst du denn nicht mit ihm telefonieren?«
»Nein.«
Ein großes Mädchen in einem Fuchsfellmantel steckte den Kopf von der Tür her in