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Don Juans Erlösung
Don Juans Erlösung
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Ebook360 pages5 hours

Don Juans Erlösung

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About this ebook

Es ist die bewegende Geschichte zweier Freunde, des Gutsbesitzers Werner von Berkow und des erfolgreichen Theaterdichters Rolf Uckermann, die sich als gestandene Männer in der Residenzstadt kennenlernen und vom ersten Moment verstehen. Und es ist die Geschichte der Frauen, die diese beiden Männer lieben und die an ihnen zerbrechen. Erst im letzten Moment erkennen die Freunde, dass ihr eigenes Lebenskonzept nicht dafür geeignet ist, die Frauen glücklich zu machen. Sigrid von Berkow wagt es am Ende und verlässt mit ihrem gemeinsamen Sohn für immer das Gut Alt-Stürckau. Bei Rolf Uckermann ist es sein unstetes Wesen, das lange Zeit in seiner Beziehung zu den Frauen die wirkliche Katastrophe zu verhindern weiß. Erst als Uckermann allen Beziehungen beraubt dasteht, löst sich bei ihm die künstlerische Hemmschwelle, die sich aufgebaut hatte: Jetzt kann er sich an die große Tragödie aller Liebenden heranwagen, den Don Juan.
LanguageDeutsch
PublisherSAGA Egmont
Release dateMar 30, 2017
ISBN9788711487754
Don Juans Erlösung

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    Don Juans Erlösung - Artur Brausewetter

    www.egmont.com.

    Professor Münchhausen nahm den Zettel, den die hagere Schwester mit den strohblonden Haaren ihm reichte: „Werner von Berkow; Stand: Rittergutsbesitzer; Wohnort: Alt-Stürckau; Alter: 35 Jahre."

    „Schicken Sie den Herrn zu Doktor Wurmb, zur Voruntersuchung!"

    „Herr von Berkow wünscht den Herrn Professor persönlich. Er wird warten."

    Die Schwester begab sich in das Empfangszimmer zurück. Es war streng quadratisch, die hellgraue Tapete kalt und kahl wie der ganze Raum, an den Wänden einige Bilder, die nichts sagten, auf dem einzigen Tisch in der Mitte ein Stapel abgegriffener Zeitschriften. Ein alter Herr, schlecht rasiert und mit vergrämtem Gesicht, blätterte nervös in einem Heft; eine blühende Frau liess keinen Blick von einem eingefallenen Manne, der, ungeduldig und unwirsch, weil man ihn noch immer warten liess, bald auf den Arzt, bald auf seine Frau schimpfte. Die andern sahen stumpf vor sich hin.

    Eine Dame, mit Augen, die viel geweint hatten, trat mit einem Knaben von frühwelkem Gesichtsausdruck aus dem Sprechzimmer. Die Schwester winkte dem alten Herrn. Ihr Schritt, ihr Öffnen und Schliessen der schweren Doppeltür geschah ohne Geräusch, wie ein Schatten ging sie durch das Zimmer. Endlich sagte sie mit ihrer dünnen Stimme: „Herr von Berkow!" Der erhob sich, trat in das ernste, lichterfüllte Zimmer des Arztes.

    Er war mittelgross, jugendlich und sehnig. Seine Nase war stark und kühn, sein Auge von verschlossener Traurigkeit. Das gebräunte Gesicht wies auf den Landmann.

    Die Gedanken des Professors weilten noch bei einer eben entlassenen Patientin. Jetzt nahm er den Anmeldezettel, der auf dem Schreibtisch lag. „Herr von Berkow? Landwirt — und krank?"

    „Landwirt und krank."

    „Wo fehlt’s?"

    „Das zu erfahren, suche ich Sie auf."

    „Aber irgendeinen Anhalt müssen Sie mir doch geben."

    „Ich komme zu Ihnen, weil ich meine, eine seelische Depression, wie sie mich heimsucht, müsse ihren Grund in einer Störung des Nervensystems oder des Organismus haben. Ein andrer ist nicht denkbar. Meine Vorfahren waren gesund, meine Verhältnisse sind die besten, ich habe keine materiellen Sorgen."

    „Hm! ... Lassen Sie einmal sehen ... So, ich danke ... Nun bitte: tief atmen ... Ich sehe, Sie haben bereits Übung ... haben sich gewiss schon oft untersuchen lassen."

    „Ich kann es nicht leugnen."

    „Hat einer meiner Kollegen etwas Nennenswertes gefunden?"

    „Nein."

    „Und nun einen Augenblick den Atem anhalten!"

    Eifrig beklopfte der Professor die Brust- und Rückenwände des entblössten, schöngebauten Körpers, setzte sein Hörrohr an, lauschte mit angespannter Aufmerksamkeit.

    „Nichts. Alles in bester Ordnung. Ich kann so wenig finden wie meine Kollegen."

    „Es tut mir leid."

    „Das tut Ihnen leid? Danken sollten Sie Ihrem Herrgott, dass Sie gesund sind."

    Da sah ihn Werner von Berkow mit den grossen, ernsten Augen an: „Ich verstehe Sie sehr wohl, Herr Professor, verstehe auch Ihren Vorwurf. Und doch — wenn Sie mir heute gesagt hätten: Ihr Herz ist nicht in Ordnung, oder: Ihr Nervensystem ist ernstlich gestört — ich hätte einen Anhalt für mein Befinden gehabt, hätte versuchen können, meiner Erkrankung durch passende Bäder oder Brunnen auf den Leib zu rücken, hätte wieder hoffen und aufatmen können. Und wenn nicht — nun, ich hätte auch das getragen, vielleicht gar nicht schwer."

    Ein Blick erwachender Anteilnahme glitt durch die dicken Brillengläser, die Münchhausens kluge Augen deckten. Was der blühend kräftige Mann da sagte, klang echt und männlich.

    „Aber sehen Sie, fuhr jener fort, „so ein Leben, das eigentlich doch kein Leben ist, überdunkelt von einer unbegreiflichen Traurigkeit, gehemmt im besten Wirken durch ein Etwas, das keine Wirklichkeit und doch immer da ist — Er brach ab.

    Der Professor wies ihm einen Stuhl und setzte sich zu ihm. „Erlauben Sie mir jetzt einige Fragen, die dem Nervenarzt oft mehr Aufschluss geben als seine Instrumente und Untersuchungen. Zuerst: Nimmt Sie Ihre Tätigkeit sehr in Anspruch? Ist Ihre Wirtschaft in guter Verfassung?"

    Ein Lächeln spielte um Werners Lippen. „Wenn Sie Zeit hätten, mich einmal auf meinem Gute zu besuchen, würden Sie mir vielleicht ein Recht zugestehen, auf diese Frage mit einem Ja zu antworten. Ich betätige mich auf manchem Gebiete, habe ausser rationeller Bodenwirtschaft Brennerei und eine Pferdezucht, die meine Nachbarn für vorbildlich halten, trage mich auch mit einem neuen Projekt der Koppelberieselung."

    „Sie sind unverheiratet?"

    „Ja."

    „Haben Sie einmal ein schweres Schicksal durchmachen müssen?"

    „Nichts, als was jedem Menschen zuerteilt ist ... nichts Besonderes."

    „Vielleicht eine unglückliche Neigung?"

    Werner lächelte. „Ich nahm es einmal sehr ernst mit der Liebe zu einer Cousine, ich war damals noch jung."

    Der Professor merkte, dass er sich nicht weiter mitteilen wollte. „Ich kann Ihnen nur ein Rezept verschreiben, von dem ich mir etwas verspreche: Sie müssen heiraten. Die Einsamkeit erscheint mir der Hauptgrund Ihrer Leiden."

    „Sie ist schwer zu ertragen, ich muss es zugeben. Aber was Ihr Rezept betrifft: ich fürchte, ich werde keinen Gebrauch von ihm machen."

    „Weshalb nicht?"

    „Weil ich Idealist bin. Ich würde die Frau nicht finden, die meinen Wünschen, meiner Sehnsucht entspräche."

    „Man kann gegen die Ehe alles mögliche ins Feld führen, lieber Herr von Berkow, von der Idee aus, wie Sie sagen. Aber sie hat einen Wirklichkeitswert: sie ist gesund."

    „Ich habe keine Neigung für solch ein Experiment."

    „Ein um so besserer Ehemann würden Sie werden. Und dann: Lebt Ihre Mutter noch?"

    „Ja."

    „Wie stehen Sie zu ihr?"

    „Gleichgültig."

    „Wem geben Sie die Schuld?"

    „Ich habe mir längst abgewöhnt, in solchen Fällen nach Schuld und Nichtschuld zu fragen."

    „Aber woher dann diese unnatürliche Gleichgültigkeit?"

    „Ich war schon als Kind anders als meine Geschwister: in mich gekehrt, still. Mein Vater starb früh."

    „Woran starb Ihr Vater?"

    „An einer typhösen Erkrankung."

    „Bitte, weiter."

    „Die Verwandten meiner Mutter, die auf unsere Erziehung wesentlichen Einfluss übten, liebten mich nicht. Meine Mutter wandte sich immer mehr von mir ab."

    „Und Sie?"

    „Damals litt ich sehr darunter. Jetzt habe ich es überwunden."

    „Machten Sie nie den Versuch, ihr näherzukommen?"

    „Doch. Als ich nach dem hinterlassenen Willen meines Vaters das Familiengut übernahm."

    „So haben Sie nie einen Menschen gefunden, dem Sie Zuneigung entgegenbrachten?"

    „Nie."

    Der Professor erhob sich. „Ich danke Ihnen. Ich kenne jetzt einigermassen den Herd Ihrer Leiden."

    „Aber eine Heilung —?"

    Er zuckte die Achseln. „Sie sind ein einsichtiger Mann, lieber Herr von Berkow. Was soll ich Ihnen geheimnisvolle Sprüchlein hersagen oder Sie in Bäder schicken? Und wenn Sie auf den Mond gingen, es wäre Ihnen nichts nütze. Ich kann Ihnen nur meinen Rat wiederholen: heiraten Sie. Warum sollte ein Mann wie Sie die Frau nicht finden, die seiner Eigenarr entspräche? Und bis dies geschehen, Arbeit und Zerstreuung! Das erste haben Sie, aber vielleicht fehlt es am zweiten."

    „Ich gehe viel auf Reisen. Bin ich zu Hause, so klebe ich an der Scholle."

    „Besuchen Sie kein Theater oder Konzert?"

    „Hier nie."

    „Sie sollten es tun. Unser Hoftheater ist jetzt gut, ich sah gestern eine Aufführung des ‚Oberon‘."

    „Ich habe für die Oper wenig Sinn. In meiner Jugend interessierte mich das ernstere Schauspiel."

    „So pflegen Sie das! Ich hörte einige meiner Patienten ein neues Stück rühmen, dessen Verfasser ein noch wenig bekannter Mann ist. Uckermann nennt er sich, ein Deckname, wie man mir sagte —"

    Die Schwester brachte einen neuen Meldezettel. Er brach ab und entliess Werner, der ihn stark als Mensch, als Patient gar nicht interessierte.

    *


    „Kommt denn der Stürckauer nicht? fragte der lange Stechern seinen Nachbarn, Dietz von Hayne, als sie sich am Stammtisch der alten Weinstube von Brest am Langen Markt zum Frühschoppen niederliessen. „Ich sah seinen neuen Wagen doch auf der Strasse.

    „Ich habe ihn selber gesehen. Er verschwand im Hause des Nervenonkels, bei dem er jetzt wohl seine letzte Zuflucht nimmt."

    „Weshalb seine letzte?"

    „Weil er die Reihe der andern Ärzte durch ist."

    „Na, der kann ihn doch auch nicht gesünder machen, als er ist. — Guten Tag, Berkow, ich sag’s ja immer, man braucht einen nur redlich durch die Zähne zu ziehen, gleich ist er da. Wären natürlich lieber allein, hilft nicht, Sie müssen an unsern Tisch, wir haben Sie selten genug. Oder hat Ihnen der Professor schlechte Gesellschaft verboten? Odi profanum vulgus et arceo — ich hasse die profanen Junker und halte sie mir vom Leibe."

    Der Stammtisch füllte sich. Einige Herren von der Regierung kamen, ältere und jüngere Offiziere, mehrere Künstler und ein Teil des Landadels, der sich heute zu einer wirtschaftlichen Besprechung in der Residenz versammelt hatte. Aus seiner Mitte bekam Berkow noch manches neckende Wort zu hören. Aber selbst in der scherzenden Art, mit der sie ihm begegneten, lag eine gewisse Vorsicht; niemand ging über die Grenze, die ihm gegenüber geboten erschien.

    „Warum haben Sie Ihren Vetter nicht mitgebracht, den Kosswitz? fragte Oberst Bensing den dicken Rittmeister Fang, den besten Kunden der Brestschen Weinstube, „er hat immer die Tasche voll kleiner pikanter Theatergeschichten, ich höre sie für mein Leben gern.

    „Wer an der Schmiede sitzt, hat leicht zu erzählen", sagte Dietz von Hayne.

    „Er kommt nicht gern ohne seinen hohen Chef, bemerkte Fang, nachdem er mit Hilfe von Fritz, seinem Leibkellner, die richtige Wahl des Weines getroffen, „und dem haben sie den Appetit zum Frühstück verdorben.

    „Was hat er wieder schlucken müssen?"

    „Bittere Hofpillen, Herr Oberst. Für ihn war der Rücktritt des Herzogs kein Glück — nee, wahrhaftig nicht. Er hat Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, den neuen Herrschaften was Besonderes zu bieten; ‚Oberon‘ in einer Ausstattung, wie sie Berlin und Wiesbaden nicht leisten, Ballette, die dem Grossmogul Bewunderung abnötigen würden. Eine neue Auffahrt ist gebaut, weil die hohen Herrschaften keiner Berührung mit dem Publikum ausgesetzt sein wollen, ihr Foyer ist mit Geschmack — haben Sie es sich schon angesehen, Herr Oberst? Ich sage Ihnen mit auserlesenem Geschmack — hergestellt, und aller Mühe Lohn? Die Herrschaften haben sich eine Aufführung von ‚Oberon‘ angesehen, und die nicht einmal bis zu Ende!"

    „Das liegt aber nicht am Prinzen, meine Herren, warf ein pensionierter Geheimer Hofrat ein, der immer noch über alles, was bei Hofe vorging, gut unterrichtet scheinen wollte. „Seine Hoheit haben den Intendanten in die Loge rufen lassen und ihm viel Angenehmes gesagt, ja befohlen, die Oper an einem bestimmten Tage noch einmal anzusetzen. Aber die Prinzessin, für deren verwöhnten Geschmack alles geschehen, hat keine Silbe gesagt. Und als die befohlene Wiederholung stattfand, erschien der Prinz allein.

    „Das wird dem armen Brunkow das Herz gebrochen haben. Er hat keinen Schimmer von der Kunst, aber er ist ein leidlicher Dekorateur und ein guter Kerl, er tut mir leid."

    „Und mit seinem neuen Ballett, das Tausende gekostet, hat er noch weniger Glück gehabt. Die hohen Herrschaften erschienen, er empfing sie und verhiess siegessicher Grosses. Nach dem ersten Akt befahl die Prinzessin ihren Wagen."

    Das Gespräch war laut und lärmend geworden. Eine Schnitzeljagd bildete den Inhalt, die Namen von Pferden, Hunden und Reitern schwirrten über die Tafel. Die Kellner liefen mit erhitzten Köpfen hin und her, die geleerten Flaschen gegen neue auszutauschen.

    „Sagen Sie mal — finden Sie das nun sehr nett?"

    Herr Hendewerk, der Abteilungsdirektor für Kunst und Wissenschaft im Unterrichtsministerium, bog seinen kahlen Kopf, auf dem eine kleine Insel silbergrauer Haare schimmerte, zu dem Berkows, der nach Art schwermütiger Weltverneiner ein Feinschmecker und gerade damit beschäftigt war, eine feiste Hummerschere mit kunstgeübter Hand aus ihrer Schale zu lösen.

    „Was denn?"

    „Nun, das von der Erbprinzessin."

    Berkow schien seiner Hummerschere mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen als der Erbprinzessin. Aber das hielt den kleinen Ministerialdirektor nicht ab, seinen Faden weiterzuspinnen, immer in der leisen, wichtigen Sprechweise, die er von seinem Arbeitszimmer mit an den Stammtisch brachte. „Einige Rücksicht sollte man doch nehmen. Unser Hoftheater leistet das Mögliche, unsre Symphoniekonzerte sind in der Welt berühmt. Brecher tritt in den nächsten Monaten seine Kunstreise durch die grössten Städte Deutschlands an. Und mit dem machen sie es nicht anders; er gibt gestern einen Beethovenabend, die hohen Herrschaften lassen sich zu acht Uhr ansagen, der Beginn war bereits um halb acht Uhr festgesetzt. Brecher bittet das Publikum, sich bis acht Uhr gedulden zu wollen —"

    „Warum tat er das?"

    „Er glaubte, als Hofkapellmeister solche Rücksicht üben zu müssen. Wer aber um acht Uhr nicht erscheint, sind die hohen Herrschaften."

    Berkow bearbeitete augenblicklich die weniger ergiebigen Teile seines Hummers; der kleine Ministerialdirektor konnte ungestört weitersprechen. „Und die Geschichte von der Toskati kennen Sie doch auch? Nicht? Dann wissen Sie wenigstens, dass sie eine unsrer grössten Sängerinnen ist. Brecher hat sie mit viel Aufwand von Mühe und Geld zu einem Konzert bei uns gewonnen. Als die Toskati ihre erste grosse Arie beendet, erscheint ein Kammerherr und überbringt ihr den Wunsch des Erbprinzen, am nächsten Tage im Schlosse zu singen. Die Toskati gerät in die grösste Verlegenheit, jeder Tag ihrer Reise ist besetzt, aber sie will nicht absagen und bewegt ihren Impresario zu einer Verschiebung, die mit Hilfe eines unbesetzten Sonntags im letzten Augenblick gelingt. Als sie aufs Schloss kommt, wird sie vom Prinzen empfangen, er hört voller Aufmerksamkeit ihren Liedern zu, überreicht ihr eigenhändig ein Platinarmband. Die Prinzessin aber lässt sich den ganzen Abend über nicht sehen. Und als der Prinz sie schliesslich ruft, gibt sie zur Antwort, sie höre das alles ebensogut von ihrem Zimmer aus. Na, was sagen Sie?"

    Berkow schob den Teller fort, tauchte die Fingerspitzen in eine Wasserschale und trocknete sie sorgfältig ab. „Dass, wenn ich Brecher wäre, ich nicht bis acht Uhr gewartet hätte. Und wäre ich die Toskati, so hätte ich eine festgesetzte Reise einmal nicht abgesagt, um in einem prinzlichen Schloss zu singen, hätte zum zweiten aber meinen Wagen sofort vorfahren lassen, wenn man mich nicht so behandelte, wie es meiner Kunst zukommt."

    „Das hätten Sie tun können in Ihrer unabhängigen Stellung."

    „Nein, das sollte jeder Mensch von einigermassen anständiger Gesinnung tun. Warum werfen sich die Leute so weg? Es geschieht Ihnen schon recht. Ein Fürst zu sein und kein Menschenverächter, muss ein Kunststück sein; ich würde sie alle verachten."

    „Das tun Sie ja schon sowieso", rief der lange Stechern von der andern Seite des Tisches herüber.

    „Wahrhaftig, sie zu lieben ist nicht leicht."

    Das Gespräch schwieg. Ein neuer Gast war in die Weinstube getreten: ein Mann vielleicht in der Mitte der Dreissiger. Unter der wohlgeformten Stirn beseelte, halb feurige, halb nachdenkliche Augen, die Nase leicht gebogen, der Mund herb.

    Fritz war dienstbeflissen hinzugestürzt, hatte dem Fremden den Mantel abgenommen und einen Tisch für ihn freigemacht. Die Stammtischrunde, die durch den kleinen Zwischenfall für einen Augenblick aus dem gewohnten Gleise gekommen war, nahm die unterbrochene Unterhaltung um so lebhafter auf. Der lange Stechern gab bei der vorgeschrittenen Stimmung einen seiner schlimmen Witze zum besten. Eine dröhnende Lachsalve antwortete ihm. Durch den lauten Beifall aufgemuntert, rüstete er sich zu einem zweiten. Der Fremde zuckte bei dem Lärm zusammen, sah sich einen Augenblick wie hilflos um, stand auf, nahm seinen Mantel und verliess die Weinstube, diesmal ohne zu grüssen, wie er es beim Eintritt getan hatte.

    „Zum Teufel, wer war der wunderliche Kerl? fragte Stechern, ärgerlich, um seinen zweiten Witz gekommen zu sein, für den jetzt nicht die rechte Stimmung war. „Tat ja, als wär’ er in des Teufels Küche geraten!

    „Faust in Auerbachs Keller: ‚Mir widersteht das tolle Zauberwesen — Versprichst du mir, ich soll genesen — In diesem Wust von Raserei?‘" zitierte ein Geheimrat von dem Schlage derer, die jedermann erzählen, dass der Faust ständig auf ihrem Nachttisch liegt.

    „Heda, Fritz, wer war der Herr, der uns eben die kurze Aufwartung machte?"

    „Kennen die Herren den nicht? Herr Doktor Uckermann, der Dichter von dem neuen Stück, das sie jeden Abend da drüben spielen."

    „Potztausend, der? rief Oberst Bensing. „Ich sah sein Stück. Wieder solche Offiziersgeschichte, die ich nicht ausstehen kann, besonders wenn sie tragisch verläuft. Dazu noch stark philosophisch angehaucht; solchen Leutnant wie den — na, wie heisst er gerade? richtig, Bernstoffer —, gibt’s ja gar nicht.

    „Warum soll es den nicht geben, Herr Oberst?" warf ein Rittmeister ein.

    „Haben Sie schon so einen kennengelernt? — Na also."

    „Aber alles, was das Stück aus dem Offiziersleben bringt, ist vorzüglich beobachtet, ohne jede Übertreibung oder Karikatur. Wirklich ganz so, wie es ist, auch das Ernste und Tragische."

    „Ist kein Wunder. Der Mann soll eine Reihe von Jahren Offizier gewesen sein, sagte Dietz, „bei einem Kavallerieregiment da irgendwo im Osten.

    „Sie irren, meine Herren, warf der Hofrat dazwischen, „er ist von der Zunft, er war Zeitungsschreiber in irgendeiner kleinen Stadt. Bis er seinen Genius entdeckte und Dichter wurde.

    „Das eine schliesst das andere nicht aus. Ein Kamerad, mit dem ich gut befreundet war, ist heute einer der bekanntesten und bissigsten Theaterkritiker in Berlin."

    „Kavallerieoffizier — Zeitungsreporter — Stückeschreiber, die Frage ist nur, ob man solchen Sprung freiwillig macht, nur aus Liebe zur Kunst", meinte der kleine Ministerialdirektor.

    „Nee, aber aus einer andern Liebe! rief Fang, der nach eifriger Unterredung mit Fritz zu einer neuen Sorte übergegangen war. „Eine Frau steckt dahinter, wie immer in solchen Sachen. Eine Dame aus unsrer nächsten Nachbarschaft auf dem Lande, Herr Oberst kennen sie auch.

    „So lassen Sie doch den elenden Klatsch, meine Herren, sagte Berkow, in dem das Gespräch mit dem Arzt auflebte, sowie der Name Uckermann gefallen war. „Was spielt man heute abend? Fritz, reichen Sie mir doch mal den Theaterzettel!

    Und er las: „Jenseit der Heerstrasse. Ein tragisches Spiel in vier Vorgängen von Rolf Uckermann."

    „Jenseit der Heerstrasse! höhnte der lange Stechern mit seiner glucksenden Stimme. „Na, Berkow, das wäre doch was für Sie! Da können Sie gleich mitspielen. Würden Ihre Rolle schon machen.

    *


    In dem sein abgestimmten Raume eines kleinen Interimtheaters, das, dicht neben dem grossen Hoftheater gelegen, der Darstellung moderner Stücke diente, sah Werner das neue Stück von Rolf Uckermann. Es war schon oft aufgeführt und schien seinen Reiz verloren zu haben; zudem gab man auf der grossen Hofbühne nebenan eine Wagneroper, die alles angezogen hatte. Hier war es so leer, wie Werner es eigentlich noch nie in einem Theater gesehen hatte.

    Aber weder dies noch das matte Spiel der Darsteller, die der gähnenden Öde nicht Herr werden konnten, hemmte den tiefen Eindruck, den er von dieser Tragödie empfing. Es schien ihm gar kein Theaterstück, sondern ein Etwas, das, unmittelbar aus dem Leben herausgeschnitten, zugleich über das Leben wies. Wie der Schrei einer Sehnsucht erschien es ihm nach dem, was einmal war und dann verloren ging in der Habsucht und Enge der Tage, nach dem Ursprünglichen, das irrende Menschen mit der Inbrunst ihrer Seele suchten und nicht mehr fanden.

    So löste dies wunderbare Spiel in seinem Herzen manches aus, was dumpf in ihm gärte und nach Ausdruck verlangte. Als er auf seinem Wagen sass und durch die klare Sternnacht seinem Gute zufuhr, da wusste er, dass ihn dieser Abend klarer und reicher gemacht hatte.

    *


    Ermüdet kam Rolf Uckermann von der Leseprobe seines neuen Stückes am späten Nachmittag nach Hause. Nur einer erwartete ihn dort: sein Teckel. Der stürzte ihm durch die kaum geöffnete Tür entgegen, sprang in wilden Freudentänzen bald um ihn herum, bald an ihm empor, legte sich dann auf den Rücken, wälzte und streckte sich mit den wunderlichsten Mätzchen und Mienen auf dem Boden und ruhte nicht, bis sein Herr gleichfalls auf der Erde hockte, mit einem geübten Griffe seiner Rechten die kalte Hundeschnauze fest umspannte und mit der andern Hand das braune glatte Fell seines Lieblings kraute und liebkoste. „Alter" hatte er ihn getauft. Nicht etwa weil Männe ein alter Hund, sondern weil er sein alter ego — sein andres Ich — war.

    Nun stand er auf, legte den Ulster ab und trat in sein Arbeitszimmer.

    Dem grossen Mittelfenster zu stand der gewaltige, mit Büchern und Schriftstücken übersäte Schreibtisch, über ihm, das ganze Zimmer beherrschend, ein Gipsabdruck von Goethes Weimarer Büste, rechts in der Ecke auf schwarzer Säule eine Bronze von Shakespeare. Die Wände entlang liefen Bücherregale von schwerer, dunkelgebeizter Eiche, alle gefüllt mit Werken aus der Philosophie, Geschichte und Literaturwissenschaft; und wo diese Regale an den Wänden Platz liessen, hingen Bilder: ein fein ausgeführter Kopf Friedrich Nietzsches, neben ihm Beethoven. Anfangs verblüffte die Zusammenstellung, dann sah man auf den Gesichtern beider den ganz ähnlichen Ausdruck: das Ahnungsdunkle des zum Leid geborenen Genies, die Schatten der anbrechenden Nacht. Nicht weit von ihnen das gebietende Haupt Henrik Ibsens, darüber Guido Renis Christus mit der Dornenkrone — eine seltsame Anordnung in dem scheinbar chaotischen Nebeneinander. Aber immer ein innerer Zusammenhang erkennbar oder wenigstens zu ahnen.

    Rolf hatte die eingegangene Post durchgesehen, es war nur ein Brief, den er erwartete. Der fehlte, die andern lohnten das Öffnen nicht.

    Es war inzwischen Zeit geworden, sich umzukleiden, denn er war zum Abend eingeladen. Sein Kopf war dumpf, sein Verlangen nach frischer Luft unbezwinglich. Deshalb machte er den weiten Weg zu Fuss.

    Endlich war er vor dem vornehmen Hause im neuen, stillen Villenviertel angelangt, dessen Erdgeschoss Wanda Ellenburger bewohnte, die erste Tragödin des Residenztheaters, die einzige, die der Hof in seine Kreise zog und die das Publikum vergötterte.

    Sowie sie eintrat, merkte er, dass sie verstimmt war.

    „Man sieht, dass Sie verwöhnt werden. Ich erwarte Sie seit einer Stunde."

    „Ich bitte um Entschuldigung, ich kam zu Fuss. Die lange Probe hat mich mitgenommen, ich musste einige Bewegung haben."

    „Um auf dem weiten Gange sich ungestört in Ihre Arbeit zu vergrübeln."

    „Auch das."

    „Ich wusste es. Und das gerade ist es, worüber ich mit Ihnen sprechen wollte, ich habe genug darüber nachgedacht. Sie ahnen gar nicht, wieviel ich mich mit Ihnen beschäftige. Sie haben eine Bühnengabe, wie ich sie selten gesehen, es war mir klar von der ersten Stunde an, in der ich einen Einblick in Ihr Schaffen erhielt. Aber wenn Sie erreichen wollen, wozu Sie das Zeug haben: einer der ersten Dramatiker Deutschlands zu werden — lassen Sie, ich übertreibe nicht, ich weiss, was ich sage —, dann müssen Sie mit Ihrer unseligen Veranlagung brechen."

    „Es wird mir schwer werden."

    „Hilft nichts, Sie müssen eben. Sie sind zu sehr Grübler, das ist Ballast für den, der Theaterstücke schreiben will. Christiani, unser Spielleiter, sagte es mir heute erst nach der Probe, und der Intendant selber —"

    „Ich bitte Sie, was versteht der vom Schaffen eines Dichters?"

    „Er ist ein gewiegter Theatermann, und er hat vollkommen recht wie auch Christiani. Es ist zuviel Ballast der Gedanken in Ihrem neuen Drama; gerade auch in meiner Rolle. Ich kann das unmöglich alles bringen, was Sie da schreiben."

    „Aber wenn ich darauf bestände?"

    Sie massen sich mit einem schnellen Blick. Die Ellenburger war den Widerspruch nicht gewohnt.

    „Ich werde keinesfalls auf alle die Striche eingehen, die Christiani haben will. Eher —"

    „Ziehe ich mein Stück zurück — sieh, sieh, der poeta, laureatus. Aber wenn man es gut mit ihm meint und ihn gern so recht berühmt haben möchte, wie er es verdient — in dieser Beziehung sind wir Frauen nun einmal eitel —, nicht wahr, dann lässt er mit sich reden?"

    Sie lenkte ein, er fühlte es. Ihr dunkles, tiefes Auge ruhte mit weichem Glanz auf seinem Antlitz.

    Das Mädchen meldete, dass angerichtet wäre.

    Sie waren nur zu zweien, aber es war alles auf das festlichste bereitet. Auf dem Tisch Kerzenlicht in antiken Kandelabern, duftende, dunkelrote Rosen, Altmeissner Geschirr, die Gläser gleichfalls alt und von wundervollem Schliff. Statt des Tees, zu dem sie ihn gebeten, ein auserlesenes Essen: Kaviar, Forellen, Geflügel, köstliche Weine.

    „Es ist eine Geburtstagsfeier. Heute vor einem Jahre sahen wir uns zum erstenmal."

    Die Ellenburger war eine gewandte Wirtin, sie verstand mit Grazie zu plaudern. Dann und wann sprach sie auch von seinem neuen Stück, aber sie betrachtete es jetzt lediglich vom Gesichtspunkt der Darstellerin. Er war nicht bei der Sache. Ihre Worte, die sie ihm beim Empfang gesagt, gingen ihm durch den Kopf. Es lag etwas Wahres in ihnen, er konnte nicht von ihnen los. Sowie sie die Tafel aufgehoben und ihn in ihr kleines Gemach gebeten, zu dem nur die Auserwählten Zutritt hatten, kam er auf sie zurück.

    „Sie haben alles, was der Schöpfer braucht, entgegnete sie, „Gestaltungskraft, Geist, Plastik — aber eins fehlt, dabei bleibe ich: das Theaterblut. Sie stammen nicht von der Zunft wie ich. Wir sind Komödianten seit Jahrhunderten, meine Grossmutter fuhr noch im Wanderkarren, meine Mutter spielte dieselben Rollen wie ich. In Ihrer ganzen Familie war nie ein Dichter, ein Schauspieler oder dergleichen — nicht wahr?

    „Einige meiner älteren Vorfahren waren Geistliche, die späteren Soldaten, Landleute, auch Beamte."

    Das Mädchen brachte den Sekt und die Gläser. „Stelle noch eine Flasche in den Kühler! Dann kannst du schlafen gehen, auch Irma. Ich kleide mich heute allein aus."

    Auf dem Tische brannte eine Lampe; die elektrischen Birnen an der Decke waren nicht eingeschaltet, dämmernd nur war die Helle. Schweigen war zwischen ihnen. Er grübelte immer noch über ihre Worte.

    „Wenn ich an unser erstes Zusammensein denke, da oben in Tilsit! Ich hatte die Jungfrau zu spielen. Überall auf meinen Gastspielen hatte ich sie gegeben; die Zeitungen sangen Hymnen über sie, ich las sie gar nicht mehr, die eine war wie die andre Ich hatte auch Ihre Besprechung nicht gelesen. Aber als ich zur zweiten Gastvorstellung auf die Bühne kam, da merkte ich gleich, dass etwas vorgefallen war: die verlegenen Gesichter der Kollegen, die Andeutungen des Spielleiters. Schliesslich konnte der gute Direktor nicht mehr an sich halten: ‚Sie dürfen sich halt nicht aufregen über das Geschreibsel von dem Uckermann, kein Mensch nimmt ihn ernst, er hätte bei seinen Rekruten bleiben sollen‘ — na, und dann gab er mir die Zeitung. Und während ich mich zur Judith ankleidete, las ich die wundervolle Kritik, in der der Herr Berichterstatter des Tilsiter Anzeigers den Nachweis führte, dass meine Auffassung der Jeanne d’Arc von Anfang bis zu Ende theatralisch und papieren war, dass mir diese meine Hauptpartie ganz und gar nicht lag."

    „Ich halte heute noch aufrecht, was ich damals schrieb."

    Sie runzelte die Stirn. „Lieber Freund, wir wollen diesen Abend darüber nicht streiten, Sie haben genug erreicht, ich spiele die Jungfrau nicht mehr, weder hier noch auf meinen Gastspielen."

    Ihre Demut entwaffnete ihn. „Aber dann kam der nächste Abend: ich sah Ihre Judith."

    „Und sagten mir kein Wort als wir uns nach der Vorstellung im Hause Ihres Chefs, Braunsdorf, trafen."

    „Ich konnte einfach nicht; gerade wenn mein Herz voll ist, wenn nur etwas ganz Neues geworden, ist mir die Sprache versagt. Aber ich schrieb alles, die ganze Nacht schrieb ich unten auf der kalten Geschäftsstube, während Sie oben in Sekt und Austern schwelgten."

    „Mir war es wenig recht, dass Sie gingen. Und als dann Ihre Besprechung der Judith erschien, als Sie mir mit wenig hingeworfenen Strichen Tiefen in dieser Frauenseele erschlossen, die ich bis dahin kaum geahnt — da taten Sie mir unendlich leid in Ihrer untergeordneten Stellung; ich wusste, dass Sie zu etwas anderm berufen waren."

    „Sie haben recht. Ein Frondienst war es schlimmster Art."

    „Warum erwählten Sie ihn? Verzeihen Sie mir — es ist nicht Neugierde, die mich fragen lässt

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