Eine Brücke für Joachim
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Eine Brücke für Joachim - Angelika Kutsch
Saga
I
Der Zug rumpelte über die Weichen. Es war September. Regen zerfloß an den schmutzigen Scheiben und verwischte das Bild, das, obwohl der Zug fuhr, stillzustehen schien. Wenn der Regen einmal nachließ, sah man flaches Land, endlose Wiesen, überzogen vom feinen Netzwerk der Gräben, hier und da Gruppen von schwarzweißen Kühen, die sich dicht zusammendrängten.
Agnes drückte den Kopf tiefer in den Mantel und schloß die Augen. Sie war auf dem Weg in den Urlaub, den ersten Urlaub ihres Lebens. Schulferien kannte sie, Osterferien und Herumsitzen bei grauem Vorfrühlingswetter, Sommerferien mit den Eltern in den Bergen und Weihnachtsferien ohne Schnee. Wie hatte sie sich auf den ersten Urlaub vom selbstverdienten Geld gefreut! Urlaub unter südlicher Sonne an einem weißen Sandstrand, noch im Traum hörte man die Meeresbrandung, und wenn man Glück hatte, fand man die Liebe seines Lebens – oder wenigstens eine Sommerliebe.
Lutz berührte sie an der Schulter. »Du bist sicher müde. Schlaf ein bißchen. Ich weck’ dich, wenn wir aussteigen müssen.«
Agnes riß wütend die Augen auf. Natürlich war sie müde – beinahe wäre sie eingeschlafen. Wer wurde nicht schläfrig im Bummelzug! Wie schön wäre es, jetzt allein im Zug zu sein, ohne Lutz jedenfalls, südwärts in einem schnellen, gut gefederten, lautlosen Zug.
Und da saß sie im Abteil eines Lokalzuges mitten unter lärmenden Schulkindern. Statt nach Süden fuhr der Zug nach Norden, und ihr Ziel war alles andere als großartig. Es war nicht einmal ein richtiger Urlaub, eine Verlegenheitslösung nur, weil die anderen im Augenblick nichts mehr mit ihr anzufangen wußten. In so einem Fall war es immer gut, einen fortzuschicken. Die anderen meinten offenbar, räumlicher Abstand schaffe auch Abstand zu Ereignissen. Man löste doch keine Probleme, indem man wegfuhr! Die Erinnerung ließ sich nicht einfach auf einer Reise abschütteln. Sie fuhr mit, erneuerte sich mit den Bildausschnitten, die das Zugfenster vorbeitrug. Manchmal lief die Landstraße neben den Schienen her, sie war blank vom Regen und leer, die Bäume am Straßenrand sahen aus, als ob sie bis zum Bauch im Wasser ständen. Immer wieder sprang ihr so ein Baum ins Auge, starr und unverrückbar, so wie er damals plötzlich scharf umrissen aus dem Regen vor ihnen aufgestanden war.
Agnes bewegte sich unruhig, wie um die Erinnerung zu verscheuchen.
»Kannst du doch nicht schlafen?« fragte Lutz teilnehmend. »Vielleicht hast du Hunger. Ich wette, du hast heute morgen vor Aufregung nicht gefrühstückt. Hier, iß eine Banane!«
Agnes wandte den Kopf ab. »Ich mag nicht«, brummte sie. Außerdem hatte sie heute morgen unter der Aufsicht der Mutter gefrühstückt, von Aufregung keine Spur. Aber sie war es leid, sich zu verteidigen, richtigzustellen. Für Lutz und alle anderen war sie noch krank, verletzt, zwar nicht mehr sichtbar an einem Körperteil, aber irgendwo tief drinnen. Man sah es nicht. Man mußte ihre wunden Punkte raten. Man versuchte, mit Rücksicht und Zartgefühl zu helfen.
Fehlte nur noch, daß Lutz ihr gleich ein Kissen in den Rücken steckte, weil sie blaß war und keine Banane essen wollte, ausgerechnet ihr Bruder Lutz, der ihr sonst alle Schokolade, Apfelsinen, saure Gurken, eben alles, was er mochte, ohne Hemmungen vor der Nase wegaß. Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. Aber Lutz hatte sich schon wieder in seinen Kriminalroman vertieft. Warum fand er außer peinlich teilnahmsvollen Fragen kein Gesprächsthema? Gespräch? Ach was, reden, kichern wollte sie, ihn in die Seite boxen und wiedergeboxt werden, um zu beweisen, daß sie die alte Agnes war.
»Möchtest du die Banane wirklich nicht?« fragte er, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Wir sind nämlich gleich da.« Blind tastete er neben sich, das Buch auf den Knien balancierend, schälte er die Banane und aß sie allein auf. Er mußte sich beeilen, schon tauchten die Vororte der Stadt auf.
Agnes sah aus dem Fenster. Vor ihnen tat sich die rußgeschwärzte Bahnhofshalle auf. Die Reise war immer noch nicht zu Ende. Der letzte, unangenehmste Teil stand noch bevor, die Busfahrt, die Landstraßen – die Bäume an der Straße. »Ich werde nie wieder in ein Auto steigen«, hatte sie oft gesagt.
Anfangs hatten die anderen rücksichtsvoll geschwiegen, später gelächelt, und als es kürzlich um den Reiseplan ging, hatten sie widersprochen.
»Natürlich kannst du, man ist heutzutage aufs Auto angewiesen.«
Sie waren in der Überzahl, Mutter, Vater und Lutz, und sie hatten entschieden, daß es durchaus zumutbar sei, einmal in der Woche von ihrem »Kurort« mit dem Bus zur Krankengymnastin in die nächste Stadt zu fahren.
Der Zug hielt mit einem Ruck. Lutz warf seinen Kriminalroman ins Gepäcknetz und holte Agnes’ Koffer herunter. Er half ihr beim Aussteigen. Er trieb sie nicht zur Eile an; er wußte, daß sie noch Schwierigkeiten hatte. Sicher war das wieder ein Ausdruck seines verborgenen Feingefühls, als er sagte: »Ich gehe schon vor und kaufe dir einen Stadtplan. Wir treffen uns vor der Bahnhofshalle.«
Die erste Übung in Selbständigkeit, dachte Agnes ironisch. Üben, üben, üben hatte der Arzt zu ihr gesagt – offenbar nicht nur zu ihr, sondern auch zu den anderen. Sie hatten in der letzten Zeit so oft versucht, sie zu neuer Selbständigkeit zu erziehen, daß Agnes auf dem besten Wege war, an ihre Unselbständigkeit zu glauben.
Anfangs hatten sie jeden ihrer Schritte bewacht, gleichsam mit ausgestreckten Händen. Es war so weit gewesen, daß sie beim kleinsten Handgriff nach der Mutter rief, lange Zeit traute sie sich nicht allein vor die Haustür, weil sie fürchtete hinzufallen, sich lächerlich zu machen. Genau genommen war es ein Glück, daß sie endlich von zu Hause wegkam, mochte ihr Urlaubsziel auch noch so spießig sein. Betont gelassen schlenderte sie durch die Bahnhofshalle, in der sich die abgestandene Luft vergangener Sonnentage mit dem Geruch nach regennassen Kleidern mischte. Von ferne sah sie Lutz mit zurückgelegtem Kopf vor dem Fahrplan der abfahrenden Züge stehen. Sie hatte sein Zartgefühl offenbar doch überschätzt. Den Stadtplan hatte er nur vorgeschützt, weil er sich genierte einzugestehen, daß er so schnell wie möglich zurück wollte.
Niemand beachtete sie, weder ihren neuen Hosenanzug, den sie eigens für die Reise bekommen hatte und auf den sie sehr stolz war, noch ihren etwas schleppenden Gang. Ein junger Mann ging vor ihr hinaus und fand nichts dabei, ihr die Tür vor der Nase zufallen zu lassen. Am Fußgängerüberweg hielt erst das dritte Auto.
Als sie mitten auf der Fahrbahn war, hörte sie Lutz hinter sich rufen. Sie setzte ihren Weg fort und drehte sich erst auf der anderen Straßenseite um. Glaubte er, sie könne nicht einmal allein über die Straße gehen?
Drüben stand er und fuchtelte mit dem Stadtplan, den er offenbar doch noch besorgt hatte. Die ganze Probe war umsonst gewesen. Er winkte sie zurück. Links, links zeigte sein Arm, dort hielt der Bus.
»Ich hab’ dir doch gesagt: vor der Halle«, maulte er. »Darf man dich denn keine Minute aus den Augen lassen?«
Er half ihr beim Einsteigen, und ehe er die Fahrscheine löste, sorgte er dafür, daß sie einen Sitzplatz bekam. Das war die Art, mit der man sie zur Selbständigkeit erziehen wollte! Agnes ließ es über sich ergehen. Noch drei, höchstens vier Stunden, dann fuhr Lutz zurück. Dann fing ihr Urlaub an, die große Freiheit. Dann konnte sie sich auf die Probe stellen, vier Wochen lang, vielleicht sogar fünf. Das hing davon ab, wie es ihr gefiel, und ob es dem Vater gelang, sich im Oktober von seiner Arbeit freizumachen. Dann würden er und die Mutter herkommen, um Agnes abzuholen, und vielleicht würden sie ein paar Tage bleiben. Herbsttage an der See – darunter stellten sie sich etwas sehr Schönes vor.
Der Bus fuhr an, sachte, beruhigend brummend wie ein gutmütiges Tier. Die anderen hatten recht. Busfahren war nicht mit Autofahren zu vergleichen, die vielen Menschen um sie herum, der breite Gang und die unbehinderte Aussicht aus großen Fenstern gaben Agnes ein Gefühl der Sicherheit. Schmutz und Regen verwischten das Bild. Ein spitzer Kirchturm zerrann. Einmal tauchten Schiffsschornsteine über flachen Dächern auf, Kräne schwenkten unsichtbare Lasten über unsichtbaren Arbeitsplätzen.
Die Stadt lag bald hinter ihnen. Das Land war flach und wenig bebaut, so daß man sich fragen konnte, warum die Straße in komplizierten Windungen angelegt war, denen der schwere Bus nur mühsam folgen konnte. Die Pappeln am Straßenrand waren mager und windgebeugt. Agnes versuchte, sie zu übersehen. Sie sah nach vorn und war nun wirklich gespannt auf das Dorf, dessen Namen sie bis vor kurzem noch nie gehört hatte. Ein paar Wochen Ruhe, hatte der Arzt empfohlen, möglichst in einer fremden Umgebung.
Daraufhin hatte die ganze Familie viele Abende über den Atlas gebeugt verbracht; sie waren mit den Fingern an den Bahnlinien entlanggefahren, hatten in hellbraunen Mittelgebirgen verhalten, und Lutz hatte Prospekte aus dem Reisebüro geholt. In ihnen nahmen die grünen und hellbraunen Flecken aus dem Atlas Gestalt an: Pension »Haus Sonnenblick« und »Waldesruh«, leuchtend weiße Fensterfronten, grünüberschattete Waldwege und vor dem Panoramablick eine Ruhebank mit einem älteren Paar von hinten.
Agnes wollte keine Pension mit Waldblick, sie wollte ein Hotel direkt am Strand. Sie wollte alles nachholen, was ihr in diesem Sommer entgangen war. Aber ihr Protest half nichts. Sie sei noch nicht gesund genug, um allein die weite Fahrt in den Süden zu unternehmen – und überhaupt hatten die Eltern etwas gegen ihren »Südentick«, wie sie es nannten.
Sie hatten sich natürlich nicht gestritten. Zum Streiten war Agnes noch zu krank. Man redete ihr gut zu, und wenn Frau Wilkens nicht gewesen wäre, hieß ihr Ziel jetzt vielleicht Malente oder Braunlage.
»Schicken Sie das Mädchen an die See«, hatte sie Agnes’ Eltern geraten. Sie fuhr jeden Sommer »an die See«. Das war stark übertrieben, denn ihr Urlaubsort lag weit entfernt vom offenen Meer an der Wesermündung. Das sah man mit bloßem Auge auf der Landkarte. Die Vorteile, die sie aufzählte, leuchteten ein: Die Luft war gut, die Zeit war günstig, die Preise noch günstiger. Die arme, alleinstehende Frau Brodersen würde sich über die Extra-Einnahme außerhalb der Saison freuen, und Agnes wäre in guter Obhut. Zwei nette Mädchen waren sozusagen im Preis inbegriffen.
Das alles besprachen sie über Agnes’ Kopf hinweg, und an einem stillen Abend schrieb der Vater einen Brief. Agnes konnte sich ausmalen, was alles darin stand: Meine Tochter hat Schweres hinter sich, seien Sie rücksichtsvoll, haben Sie Nachsicht mit ihren Launen –
Lutz, der in Bremen studierte, wurde zum Reisebegleiter ernannt. Heute morgen hatte er sie am Bremer Bahnhof erwartet, um sie bei Frau Brodersen abzuliefern. Nun saß er neben ihr, hatte schlechte Laune wegen des verlorenen freien Tages und wagte nicht, seine schlechte Laune zu zeigen. Er sah nicht aus dem Fenster. Offenbar machte er sich überhaupt nichts aus der rauhen Landschaft des Nordens, die er ihr vor gar nicht langer Zeit selber schmackhaft zu machen versucht hatte. Er konnte nicht einmal auf Frau Brodersens Tochter neugierig sein, weil sie Lenchen oder Leni hieß – das war nach Frau Wilkens’ Aussagen nicht einwandfrei zu klären. Frau Wilkens war begeistert von ihr, für Lutz Grund genug, mißtrauisch zu sein.
Agnes hatte auch kein besonderes Interesse an einer Bekanntschaft mit diesem Mädchen. Ihr genügte es zu wissen, daß man sie nicht wieder in eine Klinik oder in ein Sanatorium stecken wollte. Sie haßte alle Häuser, die sie ans Krankenhaus erinnerten, vierkantige Klötze mit langen, blanken Fensterreihen, und dahinter blanke Korridore,