Die Wale im Tanganjikasee
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Book preview
Die Wale im Tanganjikasee - Lennart Hagerfors
www.egmont.com
Sansibar
den 15. Januar 1871
Heute morgen ist mir etwas widerfahren, was vielleicht mein Leben verändern wird. Oder ist alles womöglich nur Einbildung, eine Ausgeburt meines verkaterten Hirns.
Ich erwachte von einer harten, metallischen Stimme in der Gasse vor dem kleinen Haus, das ich seit einigen Monaten gemietet habe. Wie ein scharfes Messer durchschnitt die Stimme Rufe und Gelächter der Vorübergehenden, übertönte sogar das Keifen der Nachbarn und das Geschrei ihrer Kinder.
«Mister Shaw! Sind Sie da?»
Gestützt auf meinen Ellenbogen richtete ich mich zu einer halb liegenden Haltung auf. Meinen pochenden, schmerzenden Kopf beschlich eine unangenehme Vorahnung kommender Unverschämtheiten von irgendeinem Handlanger des englischen Konsulats. Zum Zeitvertreib pflegten sie weniger bedeutende Landsleute auf der Insel zu schikanieren. Doch als der Ruf sich wiederholte, unterschied ich einen neutralen, kalten und deutlichen Ton in der Stimme, der eher auffordemd als herablassend war.
Mit dem rechten Ellenbogen stieß ich die Negerin an, die ich gleich nach meiner Ankunft hier in Sansibar gekauft hatte, und bedeutete ihr mit einer Geste, sich in die Küche zu verziehen. Sie wickelte sich einen schlabberigen, schmutzigen Stoffetzen um die Hüften und schlurfte auf nackten Füßen hinaus, einen säuerlichen Duft von Schweiß, Geschlecht und ranzigem Öl hinterlassend.
Sobald ich mich aufsetzte, brach mir der Schweiß aus. Es war offenbar schon spät am Vormittag, und vor dem einzigen Fenster des kleinen grauen Zimmers blitzten und flimmerten die Sonnenreflexe so stark, daß ich die Augen schließen mußte. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern sah ich eine Reihe von Sonnen vorbeirollen, die ihr Licht nadelspitz in den empfindlichsten Teil meines Gehirns bohrten. Als ich die Augen wieder öffnete, konnte ich die wohlbekannten Gegenstände im Zimmer nur mit Mühe erkennen: den Holztisch und die beiden Stühle, meinen Koffer und mein Akkordeon, die Kalebassen mit Palmwein und die Whiskyflaschen, die übelriechenden Bündel der Frau mit ich weiß nicht was …
«Mister Shaw! Sind Sie zu Hause?»
Für einen Augenblick hatte ich die Stimme vergessen. Es berührte mich unangenehm, daß sie sich wieder in Erinnerung brachte.
Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und ein furchtbares, blendend weißes Licht fiel ins Zimmer. Bevor ich die Hand schützend vor die Augen halten konnte, gewahrte ich eine Silhouette in dem hereinflutenden Lichtstrom. Ich stand auf und wankte ins Dunkel neben der Tür.
«Mister Shaw?»
«Das bin ich», krächzte ich mit einer Stimme, die noch nicht vom nächtlichen Schleim befreit war.
Umflutet von Licht stand vor mir ein etwa dreißigjähriger Mann. Er war kleingewachsen. Sein Gesicht hatte außerordentlich mürrische, düstere Züge. Um den Mund hatte er scharfe Falten, die Backenknochen traten hervor, die Stirn war hoch und breit. Der Körper war klein, aber kompakt, wie aus einem Guß. Es war kein schöner Mann.
Zuerst schien er Schwierigkeiten zu haben, in der Dunkelheit des Zimmers etwas zu erkennen. Dann wandte er sich mir zu, und für einen kurzen Augenblick begegnete ich dem Blick seiner blaugrauen Augen, bevor dieser langsam an meinem Körper nach unten wanderte. Irgend etwas im Schritt fesselte seine Aufmerksamkeit, und ich war gezwungen, den Nacken zu beugen, um nachzusehen, was es war. Durch den Schlitz der Unterhosen – sonst hatte ich nichts an – zeigte mein Glied mit einer komischen Geste schräg nach hinten aufs Bett, als wolle es dorthin zurück. Unter seinem Blick, der keinen Moment zur Seite wich, mußte ich meine halbe Erektion in die Unterhose zurückstopfen. Es kam mir in den Sinn, daß ich mich schon lange nicht mehr geniert hatte.
«Entschuldigung.»
«Keine Ursache.»
Er selbst stand gerade aufgerichtet da, die zur Faust geballte Linke in die Hüfte gestemmt. In der Rechten hielt er eine kurze Gerte. Den Tropenhelm nahm er nicht ab. Seine Kleidung war einfach, aber von guter Qualität: geschmeidige Lederstiefel, eine Jacke aus feiner Baumwolle und eine derbe Khakihose.
Nachdem er mich gemustert hatte, wandte er sich der Einrichtung des Zimmers zu, horchte beim Geklapper aus der Küche auf und warf meiner Sklavin einen nüchternen Blick zu, als sie neugierig hinter dem Vorhang hervorspähte, der die beiden Zimmer trennte. Als ich sie mit einer Geste wegscheuchte, löste sich meine Lähmung, und ich rückte ihm einen Stuhl hin.
«Womit kann ich dienen?»
Zuerst schien er meine Frage nicht gehört zu haben, sondern verharrte in seinem versteinerten Nachdenken. Dann streckte er sich, faßte mich ins Auge und begann zu sprechen. Kein einziges Mal schaute er weg, kein einziges Mal blinzelte er. Das breite, kräftige Gesicht war unbeweglich, bis auf den hängenden Schnurrbart, der auf eine nahezu obszöne Weise auf und ab hüpfte.
«Mein Name ist Stanley. Henry Morton Stanley. Journalist bei der amerikanischen Zeitung New York Herald, beauftragt von ihrem Chef James Gordon Bennet junior, eine Expedition ins Innere Afrikas zu unternehmen. Ich biete Ihnen den Posten des dritten Mannes an, Sie werden der dritte Europäer bei der Expedition sein, die planmäßig in einigen Wochen von Sansibar aus starten wird. Sie bekommen einen Sold von 300 Dollar pro Jahr, haben einen Diener zur Verfügung und die Möglichkeit, auf einem eigens für Sie angeschafften Esel zu reiten. Dafür verlange ich von Ihnen, daß Sie die Verantwortung für das Boot übernehmen, das ich zum Tanganjikasee mitzunehmen beabsichtige, daß Sie Träger und Soldaten beaufsichtigen und daß Sie pflichtschuldigst jeden Auftrag ausführen, den ich Ihnen gebe. Kurz gesagt – ich verlange, daß Sie dieser Expedition Ihr Leben weihen.»
Es war, als wäre jemand vom Mond gekommen und hätte mich um meine Dienste gebeten. New York Herald? Karawane ins Innere Afrikas? Von Übelkeit überwältigt, mußte ich mich auf den Stuhl setzen, den ich ihm hingestellt hatte. Mein Lehen als Seemann und der Aufenthalt hier auf Sansibar waren zugleich so reich und so arm an Ereignissen, wie ich es gerade noch verkraften konnte. Ein Boot zum Tanganjikasee tragen? Wo liegt dieser See überhaupt?
Stanley spazierte um mich herum und versuchte dabei, meine Aufgaben bei der Expedition, ihre Organisation und Ausrüstung usw. näher zu beschreiben. Ich hörte nicht zu. Seine Stimme kam aus weiter Ferne, während die ganze übrige Welt sich um den kleinen Punkt herum zu konzentrieren schien, dem mein Katzenjammer entsprang. Wie kam es, daß dieses gewaltige Projekt plötzlich zusammengepreßt worden war, um sich durch das Nadelöhr meines Katzenjammers zu zwängen, meines von Überdruß erfüllten, ausgehöhlten Bewußtseins?
Und dann dieser eigentümliche Mann, der vor Energie zu bersten schien und daherredete, als habe man ihm die Zukunft ins Kreuz hineinoperiert.
«Wer hat Ihnen meinen Namen genannt?»fragte ich müde.
«Das englische Konsulat. Dort sagte man mir, Sie seien ein armer Schlucker, faul, aber nicht unbegabt, und Sie würden bald gänzlich versacken, wenn nichts Entscheidendes in Ihrem Leben passiere. Jetzt ist es passiert. Ich habe beschlossen, Sie mitzunehmen.»
«Warum?»
«Ich kann Sie gebrauchen. Folgen Sie mir!»
In diesem Moment kam meine Negerin mit zwei Bechern Palmwein aus der Küche geschlichen, die sie schweigend auf den Tisch stellte. Nach einem kleinen Knicks ging sie rückwärts hinaus, mit vorgebeugtem Oberkörper, so daß ihre runden Brüste hin- und herschaukelten. Stanley trat einen Schritt vor, packte sie am Arm und zog sie in die Mitte des Zimmers zurück.
«Gehört sie Ihnen?»
Als ich nickte, begann er sie zu mustern und abzutasten wie ein Wissenschaftler, der zum erstenmal ein seltenes Säugetier untersucht. Er drückte an ihrem Kopf herum, kniff sie mit steif ausgestreckten Armen in Brüste und Hinterbacken. Sie blieb regungslos stehen, witternd gleichsam, bereit, beim ersten Anzeichen einer drohenden Gefahr zu flüchten.
Als er zufrieden schien, stieß er ein kurzes, schrilles Gelächter aus und gab ihr einen kleinen Schubs in Richtung Küche, in der sie rasch verschwand. Er wischte sich die Hände an einem Taschentuch ab und nahm wieder seine Wanderung um mich und den Tisch herum auf. Schließlich blieb er vor den Flaschen stehen.
«Trinken Sie?»
«Manchmal.»
Seltsamerweise schien ihm das zu gefallen.
«Von jetzt an müssen Sie Ihre Gelüste zügeln.»
Nie und nimmer habe ich Sehnsucht nach strapaziösen Abenteuern gehabt und schon gar nicht davon geträumt, das Innere Afrikas zu erforschen. Ich bin durch und durch bequem und liebe die einfachen Genüsse, ohne deshalb ein Wüstling zu sein. Harter Arbeit bin ich stets aus dem Weg gegangen. Hin und wieder habe ich mich wohl gefühlt mit einer einfachen Tätigkeit an Bord eines stabilen Schiffes, an Tagen, wenn das Meer still ist und die Himmelskuppel sich hoch und friedlich wölbt. Im Hafen gehe ich den üblichen Vergnügungen nach, hure und saufe wie alle anderen auch. Glücklich bin ich eigentlich nur die wenigen Male, wenn ich genug Ruhe habe, um auf meinem Akkordeon zu spielen.
Irgend etwas blockierte mich. Es war, als steckte ich in einem Engpaß fest und eine gewaltige Flutwelle rollte auf mich zu. Ich fühlte mich wie ein kleiner Pfropfen auf einer unermeßlichen Energie. Jemand hatte mich dazu auserwählt, vielleicht durch einen Zufall, als Leiter an etwas teilzunehmen, dessen Tragweite ich keineswegs überblicken konnte. Zugleich aber ließ mich das Angebot eigentümlich kalt. Es war, als sei es nicht an mich gerichtet. Es traf mich nur zufällig.
«Welches Ziel hat die Expedition?»
«Ein Entdeckungsreisender weiß nie im voraus, was entdeckt werden soll. Wüßte er das, brauchte er nicht zu reisen, nicht wahr?»
Unterhalb meines Kinnbartes sah ich Schweißtropfen über die dicken Fettwülste an meinem Bauch sikkern und sich in den Falten verteilen. Hin und wieder blieben Tropfen in den Brusthaaren hängen, wo sie ein wenig schaukelten, bevor sie weiterrollten und schließlich den Rand meiner grauen Unterhosen durchfeuchteten. Meine Hand lag sonderbar leblos auf dem Tisch, und meine nackten Füße auf dem gestampften Lehmboden schienen jemand anderem zu gehören.
Stanleys Stiefel blieben genau vor mir stehen. Er rief einen Namen, worauf ein schwarzer Diener ins Zimmer gerannt kam und ihm ein Papier und einen Stift überreichte. Er legte beides selbst vor mich auf den Tisch und tippte mit dem Finger ganz unten aufs Papier. Ohne zu lesen, was darauf stand, schrieb ich meinen Namen auf den fetten feuchten Fleck, den sein Finger hinterlassen hatte.
«So. Von nun an unterstehen Sie meinem Befehl.»
«Was wollen wir im Inneren Afrikas?»fragte ich nochmals.
Er antwortete nicht, sondern drehte sich um und ging mit festen Schritten durch die lichtüberflutete Tür hinaus. Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als auch schon die Frau in der Küche in Weinen und Klagen ausbrach.
Erst da merkte ich, wie durstig ich war. In zwei Zügen leerte ich die beiden Becher mit Palmwein.
Sansibar
den 1. Februar 1871
Nach dem Kalender sind zwei Wochen vergangen, seit Stanley mich angestellt hat. Sie waren so ereignisreich, daß ich jegliches Zeitgefühl verloren habe. Vielleicht waren es zwei Jahre, seit wir uns in meiner Hütte begegnet sind, die Erfahrungen zweier Jahre scheinen zwischen damals und jetzt zu liegen. Die Eigenbewegung der Zeit dagegen gleicht einem Sturmwind: zwei Wochen sind in einem Zeitraum davongewirbelt, der zwei Tagen entspricht.
Es ist, als fänden die Gedanken in diesen beiden Wochen keinen rechten Halt. Nicht einen Augenblick lang habe ich mich wirklich anwesend gefühlt. Mein Körper war von einem Fieber der Gesundheit durchglüht. Ich befand mich in einem Abstand, war beiseite gestellt. Von wem?
Zwei Jahre, zwei Wochen, zwei Tage? Was spielt das für eine Rolle? Ich bin bei Stanley, und zusammen haben wir unsere Expedition ausgerüstet.
Nichts hat uns hindern können. Hier gibt es kaum einen einzigen Basar oder Markt, kaum ein neu eingelaufenes Schiff, kaum einen Kaufmann und kaum ein Warenlager, die wir nicht besucht haben. Stanley ist unermüdlich. Selbst die verkommensten Negerviertel haben wir auf der Jagd nach Ausrüstung für unsere Expedition durchkämmt. Der Gestank nach Exkrementen, gärenden Müllkippen, Fisch in allen nur erdenklichen Stadien der Fäulnis, Rauch von Feuern und der abgestandene Geruch köchelnder Gerichte, all das drängte sich uns in den engen Gassen auf. Schmutzige, mit Schwären bedeckte Kinder, mit aufgetriebenen Bäuchen und geschwollenem Nabel, kamen aus den baufälligen Hütten gerannt und bettelten uns aufdringlich an. Stanley hielt sie sich mit seiner Gerte vom Leib, ich mit Knien und Armen. Unsere Waden waren vom Gehen im lockeren Sand wie abgestorben, und der Schweiß rann in Strömen (zumindest bei mir, Stanleys Haut war anscheinend zu trocken zum Schwitzen). Noch nie habe ich soviel Wasser getrunken – Wasser!
Kaum weniger mühselig war es in den Arabervierteln, ganz zu schweigen von dem Bezirk, in dem die mohammedanischen Inder wohnen. Dort, in den gewundenen Gassen mit weißgekalkten Häusern, Portalen und Alkoven, mit in den Torwegen postierten Sklaven und, weiter drinnen, schweigsamen Haremsfrauen und Sklavinnen, die in den Innenhöfen herumschlichen, wo sich die Baumwollstoffe zu riesigen Bergen türmten, das Elfenbein wie Holz gestapelt war, Kisten und Körbe mit Werkzeug, Draht und Glasperlen aufeinandergestellt waren, dort schwitzte ich aus anderen Gründen. Der unergründliche, geduldige und überlegene Blick des Orientalen, seine Fähigkeit, dem Europäer ein Gefühl der Unsicherheit und Ungeduld zu geben, als habe er selbst ihm irgendein Wissen voraus, all das berührte mich unangenehm. Sie bewegten sich mit kühler Würde, im vollen Bewußtsein der tiefen Quellen sinnlicher Genüsse, die ihnen in Form von Macht und Ehre, Speisen und Frauen durch ihren Reichtum zur Verfügung stehen. Sie sind allesamt falsch, jedoch beneidenswert.
Sogar Stanley wurde im Umgang mit ihnen steif und nervös. Als Preis und Qualität der Waren erörtert wurden, traten seine Kinnbacken hervor, und die Knöchel der Hand, mit der er die kurze Reitgerte umklammerte, wurden weiß. Es sah aus, als würde er gleich explodieren. Hin und wieder zeigten seine Blässe und ein kurzer Hustenanfall, daß die Explosion nach innen losgegangen war. Verdammte Araber!
Manchmal