Kindheiten: Kurzgeschichten
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Marion Röttgen
Marion Röttgen lebt mit ihrer Familie in Stuttgart. Sie hat in Literaturwissenschaft promoviert, Sprecherziehung und Logopädie studiert und ist Inhaberin des Institut FON für Logopädie und Weiterbildung. Als Professorin für Gesundheitswissenschaft lehrt und forscht sie an der IB-Hochschule.
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Book preview
Kindheiten - Marion Röttgen
Kindheiten
Über das Buch
Über die Autorin
Schimmagolä Schmiselebö
Eine Hupe im Jahre 1902
Der Puppenkopf
Die schönen Mäntel
Der Pompon
Schwarz lackierte Fingernägel und roter Sekt
Der Schrei oder die Kindheit ist zu Ende
Ferien am See
Ulla
Die taubenblaue Tante Matti
Ein Garten für Marion
Das Haus
Max oder der erste große Kummer
Das Kind und der Klavierspieler
Du bist doch schon ein großer Junge
Wo wir uns bilden, da ist unser Vaterland
Impressum
Über das Buch
Mit feiner Ironie erzählt Marion Röttgen von den kleinen und großen Tragödien der Kindheit. Ihre Kurzgeschichten spielen um die Jahrhundertwende, in den fünfziger Jahren und heute. Es sind Skizzen alltäglicher Situationen, die durch ihre Schlichtheit betroffen machen und wohl jeden Leser an Erfahrungen aus der eigenen Kindheit erinnern.
Das Buch ist auch einer Printausgabe erhältlich.
ISBN-13: 978-3939322903
Broschiert: 104 Seiten
Verlag: Opus Magnum, Edition Amici
www.opus-magnum.com
Über die Autorin
Marion Röttgen lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.
Sie hat in Literaturwissenschaft promoviert, Logopädie und Sprecherziehung studiert und lehrt als Professorin an der IB-Hochschule.
Schimmagolä Schmiselebö
Klein-Erna hatte es nicht leicht. Erna Helene Henriette hieß sie nach ihren verstorbenen Tanten, den Schwestern der Mutter, die alle an Tuberkulose gestorben waren. Dass ausgerechnet Erna zum Rufnamen gewählt wurde, obwohl Klein-Erna die proletarische Witzfigur Hamburgs ist, war dem starrköpfigen Vater zu verdanken. Gustav Marten war als Elsässer mit einer bretonischen Mutter französischsprachig groß geworden und fand Gefallen an dem herben Klang des Namens, der ihm – anders als die anderen beiden – in reizvoller Weise deutsch vorkam. Sonst gab es wenig, was ihm an Deutschland gefiel, und genau betrachtet verwundert es nicht, dass die Ehe mit der jungen Hamburgerin Minna von Beginn an unglücklich für beide Seiten war. Geheiratet hatten sie aus wechselseitigem Irrtum.
Minna war von südländischer Schönheit und ähnelte ganz ihrer italienischen Großmutter aus dem Tessin. Die scharf gezeichneten, langgezogenen schwarzen Brauen über den tief braunen Augen im Kontrast zu den dunkelblonden Haaren hätten eine leidenschaftliche Mentalität vermuten lassen, wäre nicht der melancholische Zug um den Mund gewesen und hätte nicht die bräunlich blasse Haut ihr, auch als sie noch gesund war, ein kränkliches Aussehen verliehen.
Ihrem Wesen nach war sie ganz Hamburgerin. Hanseatisch zurückhaltend, höhere Tochter aus gutem Hause, mit einer Neigung zum Phlegma, hatte sie eine protestantisch prüde Erziehung verinnerlicht. Das feurige Dunkel der Augen täuschte, und ihr Klavierspiel war die Gewohnheit eines wohlerzogenen Mädchens. Als der junge Elsässer Offizier ihr in mediterraner Leidenschaft während der Verlobungszeit zu Füßen saß und zu seiner Gitarre mit lässiger Begabung französische Liebeslieder sang, meinten beide, sich ineinander zu spiegeln.
Welche Tragik, als der reife, sinnliche Mann eine erschrockene Braut in den Armen hielt, die starr vor Ekel seiner Leidenschaft mit Entsetzen und Flucht begegnete. Minna hatte sich die Ehe vorgestellt, wie sie das großbürgerliche Familienleben ihrer Eltern erlebte, die einander stets mit distanzierter Zuneigung und wechselseitigem Respekt begegnet waren. Welcher Kummer, als das liebe, brave Mädchen begriff, dass ihre Tugenden verspottet wurden, ihre Kochkunst nicht dem französischen Geschmack entsprach, ihre Lieder als banal, ihre Bildung als medioker empfunden wurden. Eifersucht war der einzige Beweis einer restlichen Leidenschaft, die sich in Gustav aus Enttäuschung in Jähzorn und Tyrannei verwandelte. Zumindest die Schönheit der jungen Frau wollte Gustav für sich besitzen.
So kam es, dass er sie und sich selbst einschloss in der Hamburger Bürgervilla, alle einstigen Vergnügungen und Geselligkeiten einstellend. Acht Jahre nach dem erstgeborenen Sohn Hugo entsprang aus einer der wenigen ehelichen Begegnungen noch eine kleine Tochter. In Erna fand die seelisch verkümmernde Mutter endlich eine Gefährtin, die heranwachsend das Leid der Mutter ahnte und durch ihr ungemein fröhliches Naturell einen Lichtschimmer in die Trübsal des dunklen Hauses brachte.
Aus einer Mischung von Tradition, Geiz, Starrsinn und bewusstem Widerspruch zu den Wünschen seiner Frau hatte Gustav das Haus so bauen lassen, dass alle repräsentativen Räume zur dunklen Nordseite auf die Straße gingen. Die Sehnsucht nach Sonne war vielleicht das einzige in Minnas Wesen Verbliebene, das an ihre südliche Herkunft erinnerte. Aber auch der Garten war nach Süden nicht gestaltet worden, sodass die sonnige Küche zum liebsten Aufenthalt von Mutter und Tochter wurde.
Das kleine Mädchen ging noch nicht zur Schule, sprach aber gut französisch, weil der herrische Vater unerbittlich darauf bestand, dass bei Tisch nur seine Muttersprache gesprochen wurde. Minna, die noch gewohnt gewesen war, am Tisch ihrer Eltern aus Gründen des Respekts im Stehen zu essen, akzeptierte den Wunsch ihres Gatten aus Überzeugung. Nicht nur, weil auch sie meinte, die Kinder schuldeten ihrem Vater Gehorsam, sondern weil sie den Nutzen der Zweisprachigkeit erkannte und selber bedauerte, dass sie die Sprache ihrer Tessiner Großmutter kaum verstanden hatte.
Ihrer kleinen Tochter erzählte sie oft von den Ferien, die sie an einem See inmitten hoher Berge bei ihr verbracht hatte, von der alle sagten, sie sei ihr so ähnlich. Die italienische Großmutter war jung Witwe geworden und hatte sich von der Schweizer Familie in das Tessiner Bergdorf zurückgezogen, in dem sie groß geworden war. Die deutsche Sprache und die deutsche Familie waren ihr fremd geworden bis auf Minna, ihr Enkelkind, das man ihr aus dem fernen Hamburg in den Sommerferien zur Erholung schickte. Die Sorge, dass auch dieses Kind an Tuberkulose sterben könnte wie seine fünf Geschwister, hatte die Hamburger Familie ermutigt, jedes Jahr die Kosten der weiten Reise auf sich zu nehmen. Die Schweizer Butter und die fette Bergmilch, so hoffte man, würde das Kind vor einer Infektion schützen.
Erna hörte der Mutter gerne zu, wenn sie vom Gebirge erzählte. Berge schienen ihr etwas Wundervolles zu sein. In Hamburg gab es nur den Süllberg, sonst war das Land, wie Erna es kannte, flach. ‚Platt wie ein Pfannkuchen‘, sagte ihre Mutter immer. Ihr Leben lang währte die durch die Erzählungen der Mutter geweckte Sehnsucht nach den Bergen, sodass sie schließlich als alte Frau Hamburg verlassen sollte, um in den Alpen ihren Lebensabend zu verbringen.
Mittags saß das Kind gern neben