Wir
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Judith Kohlenberger sieht genau hin: Wer ist das Wir in welchem Kontext? Welches Wir wählen wir selbst, welches wird uns zugeschrieben durch Herkunft, Beruf, Status? Wann wird das Wir zu einem Werkzeug der Ausgrenzung? Und wie beschreiten wir den Weg hin zu einem inklusiveren Wir? Dieser klarsichtige Essay räumt auf mit der Annahme, dass das von der Politik vielbeschworene und instrumentalisierte Wir selbstverständlich und festgeschrieben ist. Es ist vielmehr flüchtig, schwer fassbar, wandelbar – und ein ständiger Streit, den es auszuhalten gilt. Judith Kohlenberger plädiert in klaren Worten und mit Feingefühl für ein starkes, wagemutiges Wir, das Wachstumsschmerzen nicht scheut, das Unterschiede als Chance auf Weiterentwicklung und echte Teilhabe begreift.
Judith Kohlenberger
Judith Kohlenberger, geb. 1986, ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien. Sie ist Gründungsmitglied von »Courage-Mut zur Menschlichkeit« für legale Fluchtwege. Zuletzt erschien "Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen".
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Wir - Judith Kohlenberger
geben.
Wer ist Wir?
Lassen Sie mich gleich vorweg mit dem Paradoxen beginnen: Das Wir gibt es nicht. Es existiert schlichtweg nicht. Klar, jede und jeder von uns existiert, aber eben als Individuum, nicht in der Summe. Egal wie viel man mit anderen gemeinsam hat, wie viel uns verbindet, welche Merkmale man teilt – es gibt immer etwas, was uns vom anderen unterscheidet. Politiker*innen können noch so oft ans Wir appellieren, keiner wird dadurch mit einem anderen verschmelzen. Das Du und das Ich lassen sich benennen, aufrufen, auf der Straße ansprechen, durch Namen appellieren, in der materiellen Welt anschauen und angreifen. Das Wir dagegen bleibt flüchtig, schwer fassbar, wandel- und undefinierbar.
Gleichzeitig gibt es ganz viele ungreifbare Wirs. Das kleinste Wir sind zwei Menschen, die sich als Einheit begreifen, etwa in einer Paarbeziehung oder einer Freundschaft, aber auch als Team im beruflichen Kontext. Ein Wir erlebt man tagtäglich als Teil einer Gemeinschaft, sei es als Familie, als Verwandtschaft oder Sippschaft, als Clique oder Sportteam, als Abteilung oder Organisation, als Verein oder Versammlung, als WhatsApp-Gruppe oder Freundesrudel, als Dorfgemeinschaft, Bezirks- und Landesangehörige*r und nicht zuletzt als Bürger*in in einem Staatswesen, in dem man natürlich nicht jedes andere Mitglied des Wir persönlich kennen oder gar mögen muss, um sich dennoch als Teil eines Gemeinsamen zu fühlen.
Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson bezeichnete diese letztere Version des Wir als „imagined community".² Eine Nation sei das Paradebeispiel einer solchen sozial konstruierten Gemeinschaft, an die all jene, die sich dieser Nation zugehörig fühlen, glauben, auch wenn sie sich ihr ganzes Leben lang nie persönlich treffen, austauschen oder etwas tatsächlich Gemeinsames schaffen können. Um das Wir als diese Art der „imaginierten Gemeinschaft" zu begreifen, brauchen wir eine minimale Vereinheitlichung, eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner, etwas, was uns vereint. Im Falle der Nation ist das rein formal unser Reisepass, also die Staatsbürgerschaft, aber auf der wesentlich wichtigeren emotionalen Ebene sind es vor allem vermeintlich geteilte Werte, Ansichten, Interessen, Einstellungen, Mentalitäten, Eigenschaften und Erfahrungen.
Genau das verdeutlicht bereits einen der Fallstricke in der landläufigen Wahrnehmung des Wir. Das Wir ist nie homogen, auch wenn manche dieser Wirs gerne den Anschein erwecken, sie wären es. Das Idyll einer absoluten Gleichheit ist so verführerisch wie trügerisch. Nun gibt es natürlich bestimmte Merkmale, die jedes Mitglied eines Wir teilt (zum Beispiel den gleichen Nachnamen, das Interesse an Tischtennis oder den gleichen Reisepass), aber auch viele andere, die sich unterscheiden (zum Beispiel der Vorname, das Alter oder die Hautfarbe). Das führt zu der Frage, welche der Merkmale erfüllt sein müssen, um Teil eines Wir werden zu dürfen, und welche optional sind. Nicht selten sind diese Merkmale bei näherer Betrachtung wesentlich weniger absolut und universell, als sie den Anschein erwecken, sondern kontextgebunden und variabel in ihrer tatsächlichen Bedeutsamkeit.
Das offenbart den zweiten Fallstrick, nämlich die Tatsache, dass wir alle Teil vieler verschiedener Wirs sind. Je nach Lebenssituation und Kontext werden wir diese Wirs aktivieren oder negieren, verstärken oder abschwächen, verstecken oder betonen. Das begründet sich in unserer persönlichen Identität und unseren unterschiedlichen sozialen Rollen, die wir tagtäglich einnehmen, aber auch aus dem politischen und rechtlichen Gefüge, in das wir eingebettet sind. Laut einer Umfrage des Market-Instituts aus dem Jahr 2018 verbinden 69 Prozent der Befragten mit „Wir ihr Heimatland Österreich, ähnlich viele ihre Familie und ihren Bekannten- und Freundeskreis. Mit anderen Zugehörigkeiten scheint man sich hierzulande schwerer zu tun. Während in Deutschland knapp 70 Prozent der Befragten Europa als „Wir
definieren, sind es in Österreich nur 29 Prozent.³ Ein Zusammenspiel aus individuellen und strukturellen Gründen ist also dafür verantwortlich, dass uns die Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten Wir wichtig erscheint, dass es uns stolz macht und wir es vor uns hertragen, während wir ein anderes Wir lieber loswerden oder uns davon abgrenzen wollen. Das allerdings ist mitunter gar nicht so einfach.
Denn: Die Zugehörigkeit zu manchen dieser Wirs können wir uns aussuchen (Tischtennisverein), viele andere sind aber zumindest teilweise vorgegeben (Familie, Nation). Zu Letzteren gehören vor allen Dingen die großen, bestimmenden Wirs unseres Daseins, darunter Geschlecht, soziale Klasse, Ethnizität und Nationalität. Auch manche dieser großen Wirs kann man ändern, aber oft nur unter Aufwendung erheblicher persönlicher wie materieller Ressourcen. Das Wir ist deshalb nicht beliebig, sondern determiniert vielfach unseren Lebensweg, unsere Chancen und Privilegien (siehe Kapitel Privilegien erkennen, S. 29) und sogar unsere Lebensqualität. Einer Market-Umfrage zufolge ist das Wir-Gefühl für 87 Prozent der Österreicher*innen wichtig für das eigene Leben, für 40 Prozent sogar sehr