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Am Stammtisch der Rebellen
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Am Stammtisch der Rebellen

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Der in den 1950er Jahren verfasste Roman erzählt die Geschichte einer Zürcher Gruppe, die von einer linken Revolution in der Schweiz träumt. Sie sitzen in den Kneipen der Niederdorfstrasse, Zähringerstrasse oder Mühlegasse, um sie herum Künstler, Romanciers und die bessere Zürcher Gesellschaft. Im Zentrum ihrer Begierde steht die ehemalige Hure Doris Fontana. Ihre Ziele: eine neue Weltordnung. Im Rausch der Gemeinschaft suchen sie die Freiheit, die sie im Alltag entbehren.
LanguageDeutsch
Release dateJan 12, 2021
ISBN9783958903890
Am Stammtisch der Rebellen

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    Am Stammtisch der Rebellen - Harry Gmür

    Erster Teil

    ERSTES KAPITEL

    I.

    Alfred Esch wusch sich in der Küche die Hände und folgte seiner jungen Frau in das Zimmer am Ende des Korridors. Auf dem Ecktisch dampfte die Mittagssuppe in den Tellern. Schweigend setzten sich die beiden hin, während einer guten Weile war kaum etwas zu hören als ab und zu das spröde Aufschlagen eines Suppenlöffels auf dem Geschirr.

    Seit er vor bald fünf Jahren Erna, die Tochter seines Arbeitgebers, des Malermeisters Steinmeyer, geheiratet hatte, bewohnte Alf, wie er meist genannt wurde, mit ihr dieses behagliche kleine Einfamilienhaus in einem gartenreichen Viertel in der Nähe der Stadtgrenze. Das Gebäude, das durch seine warmgelbe Farbe von Weitem in die Augen stach, gehörte seinem Schwiegervater, der die im Erdgeschoss unmittelbar an der Straße gelegenen beiden Garagen für sich benutzte. Die Wohnräume – neben der großen Stube das Schlafzimmer, Ernas Lesekammer und Alfs stets nach Farbe duftendes Privatatelier – befanden sich im ersten Stock, den man über eine steinerne Außentreppe erreichte.

    Auch als Erna die Kalbsschnitzel auftrug, die sie mit Bratkartoffeln und lang geschnittenem Endiviensalat servierte, sagte keiner ein Wort. Obwohl sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit meist eine Brille trug, war die dunkelhaarige, braunäugige Erna mit ihren siebenundzwanzig Jahren eine recht hübsche Frau von gutem Wuchs, mit ebenmäßigen, vielleicht etwas zu strengen Zügen. Sie verstand sich auch aufs Kochen – jedenfalls waren diese Schnitzel wieder ausgezeichnet geraten. Nichtsdestoweniger blickte Alf vor sich hin, als säße er allein, und als gäbe es wenig Erheiterndes in seinem Leben.

    «Vater hat wieder einen schönen Ärger gehabt mit diesem Esslinger», unterbrach Erna schließlich die Stille. Durch ihre von hellem Horn umrandeten Gläser blickte sie ihrem Gatten hart und geradewegs in die Augen.

    «Ich weiß», sagte Alf, ohne aufzusehen. Blut unterlief die sportliche Bräune, die auf seinem schmalen, mit spielerischer Feinheit gezeichneten Gesicht lag, und die bläuliche Ader, die seine schöne Stirn von der linken Schläfe schied, schwoll zu einem Umfang an, der Unheil verkündete.

    «Aber diesmal hat’s ihm gereicht, der hat seinen letzten Pinselstrich bei uns getan!», fuhr die Frau in gereiztem Ton fort.

    «Er überredete Fritz Hutter zum Eintritt in den Verband», wagte sich Alfred hervor. «Das ist nicht verboten, soviel ich weiß. Obwohl er gescheiter nicht vor Kern gesprochen hätte, diesem Angeber.»

    Erna fuhr auf: «Wie, du getraust dich, den Kerl zu verteidigen? Eine regelrechte Streikpredigt hat er gehalten. Kern hat ihm erklärt, er sei zufrieden mit seinem Lohn. Weißt du, was Esslinger geantwortet hat?»

    «Wahrscheinlich, dass Kern ein Arschlecker sei!»

    Alf sprach nun laut, ja herausfordernd und erhobenen Hauptes.

    «Red nicht so ordinär!», herrschte Erna ihn an. «Vater versteuere ein Vermögen von zweieinhalb Millionen und ein Einkommen von hundertsechzigtausend Kronen, das hat er verkündet, und –»

    «Nichts als die Wahrheit!», fuhr Alf dazwischen.

    «Wirklich, du nimmst ihn in Schutz, diesen Intriganten!», regte sie sich auf. «Diesen schäbigen, kleinen Neidling, der sich nicht schämt, mit Vorbedacht ins Finanzministerium zu laufen und im Steuerregister herumzuschnüffeln, um unsere Leute – am Arbeitsplatz! – mit solch gemeinen Argumenten aufhetzen zu können! Er, der bei uns, nach dir, am meisten verdient hat!»

    «Weil er der Tüchtigste war. Der Meister wird Mühe haben, ihn zu ersetzen!»

    «Alf, es ist höchste Zeit, dass du dem Verband den Rücken kehrst», erklärte Erna, ruhiger plötzlich, doch mit Festigkeit. «Du hättest längst austreten sollen. Du machst dich bloß lächerlich, du, in dem alles den künftigen Meister der Firma sieht. Und du weißt genau, wie raffiniert dieser Esslinger deine Mitgliedschaft bei seinen Wühlereien auszuspielen verstand.»

    «Meine Mitgliedschaft besteht seit Jahren gerade noch darin, dass ich die Beiträge bezahle», wandte Alfred ein. Es klang kraftlos, unsicher; mit unfehlbarer Witterung spürte die Frau ihren Gefechtssieg heranreifen.

    «Alf», befahl sie, «nach dem Skandal mit Esslinger gibst du den Austritt innerhalb von drei Tagen! Und ich möchte dich gewarnt haben, in aller Freundschaft: Du weißt, ich habe dich bis jetzt immer bei Vater verteidigt, auch wenn du im Unrecht warst. Aber wenn du diesmal nicht austrittst – Alf, ich sage dir, dann hast du’s nicht nur mit Vater zu tun!»

    Alfred senkte seinen Blick. Warum war er so närrisch gewesen, hier zu sprechen, wo er sich letzten Endes doch nicht durchzusetzen vermochte?

    «Franz kam zu mir ins Atelier nach der Szene, die ihm der Meister im Büro gemacht hatte», sagte er mit beengter Stimme. «Ich habe ihm erklärt, dass ich nichts für ihn tun kann. Ich habe ihm rein gar nichts versprochen. Kann euch das nicht genügen, dir und dem Meister?»

    Erna erhob sich – die Mahlzeit war längst beendet. «Nichts versprochen!», warf sie verächtlich hin. «Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass du ihm etwas versprochen hättest! Zum Teufel hättest du ihn jagen müssen, du Waschlappen! Ich erkläre dir nochmals, Alf, drei Tage hast du Zeit – Wenn du bis dahin nicht gescheit wirst, wirst du deine Wunder erleben!»

    Auch Alf stand auf. Er war von schlanker, eher kleiner Gestalt; obwohl er stets sehr aufrecht ging, überragte ihn Erna um eine halbe Stirn. Unsicheren Schrittes begab er sich an das Fenster an der hinteren, von der Straße abgekehrten Seite der Stube. Von hier fiel der Blick auf einen vom nächtlichen Regen feuchten, fleckenweise noch mit Schnee bedeckten kleinen Garten und auf das Stück des etwa fünfzig Meter tiefer liegenden lang gezogenen Sees, das sich nicht hinter benachbarten Häusern verbarg. Doch Alfred sah kaum den Schnee und den See und den wolkengrauen Himmel. Er sah Franz vor sich, den breitschultrigen Franz Esslinger mit dem kraftatmenden gedrungenen Haupt eines Stiers und den mit überlegener Ruhe blickenden dunklen Augen. Eindringlich hatte der Gekündigte, dem der Meister mit sofortiger Wirkung jeden weiteren Zutritt zu den Werkplätzen der Firma verboten, an seine Solidarität appelliert. «Es geht nicht um mich», hatte er Alf versichert. «Ich finde schon Arbeit, auch wenn der Alte mich bei sämtlichen Verbandsfirmen denunziert. Aber als Gewerkschafter können wir uns das nicht einfach bieten lassen. Es geht ums Prinzip, verstehst du? Und du weißt genau, wenn du einmal richtig auf die Hinterbeine stehst, wird der Alte sich die Sache dreimal überlegen.»

    Und dann, als Alfred seine Ausflüchte vorgetragen, hatte ihm Franz seine schwere Hand auf die Schulter gelegt und ihm nochmals zugesprochen: «Ich versteh deine Schwierigkeiten, Alf. Trotzdem: Mach mit! Du wirst dich ohnehin bald entscheiden müssen. Du weißt ja, wie die Verhandlungen mit dem Meisterverband stehn. Seit drei Monaten sind wir keinen Schritt weitergekommen. Ich glaube nicht, dass die Maler sich dieses Spiel noch lange gefallen lassen. Und wenn es zu einem offenen Bruch kommt, wie willst du da noch deine Farbe verbergen? Du willst doch nicht, dass dich alle Welt einen Waschlappen nennt!»

    Viel freundlicher als Erna hatte er ihm die wenig schmeichelhafte Bezeichnung serviert, und dennoch flossen die gleich klingenden Urteilssprüche, die Frau und Freund in entgegengesetzter Absicht über ihn gefällt hatten, zu einer niederdrückenden Einheit zusammen.

    In einer Hinsicht war ja Franz nicht ganz im Unrecht. Der Meister war von seinem Schwiegersohn gewiss nicht abhängig, aber er verdiente an dem einzelnen Esch bestimmt so viel wie an zehn, ja zwölf seiner übrigen Arbeiter zusammen.

    Alfred arbeitete fast ausschließlich in dem Atelier der Firma, das sich – fünf Minuten von dem gelben Haus entfernt – auf einem Nebengelände von Steinmeyers großer Villa befand. Tag für Tag bemalte er dort papierene Lampenschirme mit dekorativen Ornamenten, Landschaften, Figuren und Szenen von solcher Gefälligkeit, dass die Artikel in allen Warenhäusern und Lampengeschäften des Landes reißenden Absatz fanden. Und er arbeitete aus freier Phantasie, ohne jede Vorbereitung gestaltend, so ungeheuer rasch, dass er im Tagesdurchschnitt das Vierfache an Schirmen abzuliefern vermochte wie der flinkste seiner Vorgänger. Sicher hätte der Meister im Ernstfall vieles getan, um eine derart einträgliche Arbeitskraft nicht irgendeinem Konkurrenten in die Hände zu spielen.

    Allein, wie sollte Alfred es fertigbringen, dem Meister offen und hart auf hart entgegenzutreten, in einem Handel, in dem Steinmeyer sein ganzes Ansehen in die Waagschale legte? Verdankte er dem Alten nicht fast alles, was er heute war, seine gesellschaftliche Stellung, aber auch, soweit Bildung die Persönlichkeit zu heben vermag, sein eigentliches menschliches Wesen?

    Er war aufgewachsen in der Schlachthofstraße, im ausgeprägtesten Arbeiterviertel der Stadt, als das vierte Kind eines begabten, aber trinkenden Holzbildhauers, der vorzeitig einem Unfall zum Opfer gefallen war. Als Sekundarschüler war er stets einer der drei Ersten seiner Klasse gewesen: Am liebsten hätte er in seinen Jünglingsjahren gelernt und wieder gelernt, und lange hatte er heimlich davon geträumt, eines Tages den Beruf eines Architekten ausüben zu können. Trotzdem hatte er noch mit fünfundzwanzig Jahren, nachdem auch die Mutter, eine einfache, stille Frau, einem Krebsleiden erlegen war, als ganz gewöhnlicher Malergeselle bei Steinmeyer gearbeitet. Wie viele seiner Kollegen hatte er sich allerdings in seiner Freizeit, neben eifriger Lektüre, mit Zeichnen und Bildermalen beschäftigt, doch er hätte nie zu denken gewagt, dass ihn jemand als Künstler ernst nehmen könnte.

    Erst seine Begegnung mit Erna hatte der ersten Beschränktheit seines Daseins ein Ende bereitet. Der stille, doch anziehende junge Mann war dem Mädchen aufgefallen. Ihre Aufmerksamkeit, die sich vorerst mehr in ermunternden Blicken als in Worten geäußert, hatte ihn berührt und allmählich ein Gefühl des Begehrens in ihm geweckt, zu dem er die Kühnheit kaum gefunden hätte, hätte nicht sie ihn als Erste beachtet. Gegen den anfänglichen Widerstand des Meisters, der sich als Schwiegersohn eine vermögende Persönlichkeit von geschäftlicher Bedeutung oder zum Mindesten einen Studierten vorgestellt, hatte Erna ihre Heirat durchgesetzt. Von diesem Augenblick an hatte sich Steinmeyer jedoch sehr großzügig zu Alfred verhalten. Drei Jahre lang hatte ihn der Alte in einem teuren Privatinstitut Mittelschulkurse besuchen lassen, zeitweise abends, zeitweise auch tagsüber. Vor zwei Jahren hatte Esch mit gutem Erfolg die Reifeprüfung bestanden. Als der Meister von Alfreds künstlerischen Neigungen erfahren, hatte er ihn nicht nur in die Lampenschirmabteilung der Firma versetzt, er hatte ihn auch zum Besuch der Zeichen- und Malkurse an der Kunstgewerbeschule veranlasst. Und obwohl dem Schüler der konservative Geist des Unterrichts wenig behagt hatte, war sein technisches Können sehr gefestigt worden, und der Kontakt mit jungen, ebenso begeisterungsfähigen wie kritischen Graphikern hatte ihm große Anregung und nicht zuletzt das sichere Wissen um sein künstlerisches Talent gegeben. Drei Monate, «um richtig Französisch zu lernen», hatte er mit Erna in Paris verbringen können – eine unvergessliche, von menschlichen, sozialen und kulturellen Eindrücken überfüllte Zeit. Und dann: Er verdiente heute schon mehr als ein Sekundarlehrer – gewiss, er war nicht überbezahlt für das, was er leistete, aber war es sicher, dass ein anderer als der Meister es verstanden hätte, seine außergewöhnlichen Fähigkeiten in dieser Weise auszuwerten? Er wohnte bürgerlich-komfortabel und dabei ziemlich nach seinem eigenen, empfindlichen Geschmack. Er aß Schnitzel oder gebratene Leber, wenn seine Kollegen sich mit einer Cervelatwurst oder einem Teller voll Teigwaren zu begnügen hatten. Und – da hatte Erna schon recht – er war fast für jedermann Alfred Esch, des reichen Malermeisters Ernst Steinmeyers Schwiegersohn, der einst ein Vermögen von mehr als einer Million erben sollte und der einem der drei, vier bedeutendsten Malergeschäfte der Stadt vorstehen würde – wenn er nur wollte.

    Der See war glanzlos wie Blei und von der Farbe grünlich grauen Alpenschiefers. Warum starrte er auf diese trostlose Landschaft? Erna stand mit einem Male hinter ihm. Er hielt den Atem an. Sacht legte sie ihre Hände auf seine Schultern. «Du musst mir nicht böse sein», bat sie lieb und leise. «Ich weiß, ich war gemein; ich bin ja sicher, du wirst Vater und mir den kleinen Gefallen tun. Du bist ja mein Liebster, du weißt das wohl; ich werde nie mehr so hässlich zu dir sprechen …»

    Sie konnte sich auch heute noch verführerisch geben, wenn sie wollte. Und sein Gewissen war nicht fleckenfrei … Doch war es nicht sein Gewissen der Frau gegenüber, was ihn erstickend anfiel in dieser Sekunde.

    Sie presste ihre Lippen in seinen Nacken.

    «Lass mich!», stöhnte er. «Ich werde tun, was du verlangst!»

    Nein, jetzt nicht kämpfen in dieser Stunde, in der er ausweglos von einer erdrückenden Übermacht umzingelt war! Er konnte nicht mehr, doch schlug vor ihm Verheißung spendend die Flamme des Glaubens empor – des Glaubens an die Flucht aus der schändlichen Gefangenschaft des Mittags und an den alles heilenden Abendrausch, der glutvoll des Mattgehetzten harrte.

    II.

    Sie war klein und knabenhaft schlank, selbst in ihrem nicht nach der letzten, gerade fallenden Mode, doch sehr wirkungsvoll in die Taille geschnittenen schwarzen Stoffmantel und dem schmalen Blaufuchskragen, der in reizendem Schwung auf ihren Schultern lag. Sie ging ohne Hut. Ihre Stufe um Stufe bis auf die Höhe des Nackens sinkenden Locken schimmerten in überlichtetem Blond, das bestach, auch wenn es nicht der Natur allein sein Dasein verdankte. Mit ihrem seltsam wiegenden Schritt, der von rührender Anmut war, wie der eines Rehs, und zugleich gefährlich behutsam wie jener einer Pantherkatze, strebte sie auf ihren zierlichen hohen Absätzen der kleinen Bar zu, wo sie sich gelegentlich mit Alf zu treffen pflegte.

    Es war noch nicht sieben, und sie war zu früh, aber wozu sollte sie sich in ein anderes Lokal setzen? Wenn Alf nur kam! Gewiss blieb er wieder stecken, wie schon so oft, bei seiner gottverfluchten Alten! Vielleicht so wie letzten Montag, wo er es nicht einmal fertiggebracht hatte, sich telephonisch bei der verzweifelten Geliebten abzumelden! Wenn er sie wieder einfach sitzen ließ – dann konnte er sicher sein, dass sie etwas ganz Dummes und Gemeines anstellen würde. Sie würde sich erst betrinken und sich dann, sie wusste schon, wo, einen bildhübschen, gepflegten und tadellos angezogenen Jungen suchen und ihn für eine Stunde – nein, wenn er ihr passte, für eine ganze Nacht, und gratis und franko selbstverständlich – zu sich heraufnehmen! Es war schon widerlich genug, dass er fast jedes Mal, wenn er kam, nach Dreiviertelstunden auf die Uhr zu schielen begann, sich nach knapp zwei Stunden feig von ihr losriss und heimrannte wie ein sündiger Hund, der auf einen einzigen Pfiff mit eingezogenem Schwanz zu seinem Herrn läuft, obwohl er genau weiß, dass ihn Prügel erwarten.

    Sie stand vor der Bar. Sollte sie überhaupt hineingehen? Besser wäre es, davonzulaufen, sich irgendwo zu verstecken – dann hätte er die Enttäuschung, und sie tröstete sich für heute mit der tiefen Genugtuung über seinen Gram!

    Sie fragte sich, warum sie eigentlich die Türklinke niederdrückte. Nun, sie hatte ja reichlich Zeit, wieder zu verschwinden, beschwichtigte sie sich, als sie den schmalen, dürftig erhellten Raum betrat, der gerade groß genug war, um die länglich geschweifte Bartheke und das Dutzend hochbeiniger ledergepolsterter Hocker zu fassen. Recht zahlreiche Gäste, vornehmlich Geschäftsherren, saßen bereits vor ihrem Aperitif. Doris erspähte lediglich zwei unbesetzte Stühle in der Ecke. Vor dem einen stand zwar eine halb volle Kaffeetasse, doch auf dem zweiten gleich daneben ließ sie sich nieder.

    Im gleichen Augenblick legte sich eine unsichtbare Hand auf ihre Schulter.

    Sie fuhr herum. «Alf», rief sie, «du bist schon da? Das ist wirklich das Letzte, was ich erwartet hätte!» Strahlend zog sie sein Gesicht zu sich herunter. Herzhaft drückte sie ihre kräftig bemalten vollen Lippen auf seine Wangen. Er setzte sich vor seinen Kaffee, nachdem er die Zeitung, die er sich eben geholt, drüben ins Gestell zurückgelegt hatte. «Du musst dich abwaschen, ich hab dich ganz verschmiert», lachte sie, als sie ihn ansah. «Aber wie kommt’s denn, dass du schon hier bist, zu dieser Zeit?»

    «Direkt vom Geschäft weg bin ich in die Stadt gefahren.»

    «Dann fährst du jetzt heim zum Abendessen, Alf, du lässt mich allein, aber du wirst’s bereuen!»

    Ihre herrlichen großen Augen glänzten starr und stechend, als begänne ihre Enttäuschung sich in Hass zu verwandeln.

    «Ich geh nicht heim, ich bin diesen ganzen Dreck so satt, zu Hause und in der Bude, du kannst dir’s nicht vorstellen!»

    Er erzählte von seinem jüngsten Streit mit Erna und dem Schwiegervater.

    «Alf», sagte sie nach kurzem Nachdenken, «dein Verband ist mir so breit wie lang, aber du darfst nicht austreten. Sie behandelt dich ja wie einen Lehrbuben – es ist eine bodenlose Frechheit von der Frau, dir solche Vorschriften machen zu wollen.»

    «Sprechen wir nicht mehr von dem ganzen Schrecken – ich vergesse ja alles, wenn ich bei dir bin», sagte er, fast mit dem verzauberten Lächeln eines Kindes, das nach langen winterlichen Krankentagen zum ersten Mal aus einer Stube hinaus in den sonnig erwachenden Frühling tritt.

    Sie legte ihre schmale kleine Hand mit den langen, bedrohlich scharfen Purpurnägeln auf die seine und umklammerte sie fest, während sie sich bei dem Barmann ihren Kaffee bestellte.

    «Wie lange hast du Zeit?», fragte sie nach einem Weilchen mit erneuter Besorgnis.

    «Frag nicht danach», bat er, «heute nicht. Wir legen die Zeit aufs Eis – soll sie später auftauen!»

    «Du hast dich gebessert, Alf», anerkannte sie. «Ich hätte dich zwar so oder so nicht mehr gehen lassen. Aber was wirst du Erna erzählen?»

    «Ich hab ihr schon etwas erzählt, telephonisch, von einer unerwarteten Besprechung.»

    «Immer diese Lügen – die telephonischen und die nichttelephonischen, statt dass du einfach zu mir stehst!»

    Die Tassen waren leer. Ohne auf ihren Vorwurf einzugehen, winkte Alf die Bedienung herbei und legte einen Zwanzigkronenschein auf den Tisch. Von den ungefähr achtzehn Kronen, die der Barmann hinzählte, ließ Doris eine größere Münze liegen. Den Rest steckte sie mit flinker Hand in ihre schwarze Ledertasche.

    «Ich bin stier, knochenstier», erklärte sie, indem sie ihren Blick, Verzeihung erflehend, auf den Freund richtete.

    Mit einer Zartheit, als berührte sie die pulsierende Fontanelle eines Neugeborenen, strich seine Rechte über ihr weiches, fast allzu feines Haar.

    «Wenn ich nur meine Wohnung endlich bezahlen könnte, wir sind schon in der Mitte des Monats!», sagte sie beim Hinausgehen.

    Auf dem Quai hatten in der Zwischenzeit die Lichter der Schaufenster und Neonreklamen, der Straßenbahnzüge, Fahrräder und Automobile das trübe Grau des verebbenden Tages erwärmend in die Flucht gejagt. Es war eine der Stunden, in denen der Herzschlag der Stadt gemächlicher ging: die Stunde nach dem betäubenden Sturm, der aus Tausenden von Büros, Werkstätten und Fabriken über Straßen und Plätze hereingebrochen war; die Stunde aber auch, ehe eine neue, diesmal in Festbeleuchtung strahlende Welle wieder heranbrauste, gerade hier in der Nähe des Großen Platzes an der Quaibrücke, die das Ende des Sees von dem sanft abströmenden Flusse schied. Nirgends in der vergnügungssüchtigen Metropole lagen die großen Kinos und Theater, die Cafés, Bars und Dancings so dicht gedrängt wie hier, am rechten Ufer der beiden Gewässer, wo die breite Fahrstraße von der villenübersäten Berghalde her den wichtigsten Übergang nach der City erreichte.

    Ziellos spazierten Alf und Doris an schmucken alten Hausfassaden vorbei den Quai hinunter. Auf der anderen Seite der Straße, dort, wo sie sich gabelte, um den mächtigen Häuserblock herum, der mit seiner Vorderfront eine ganze Schmalseite des Großen Platzes begrenzte, bewegten sich unter einer kleinen, noch kahlen Baumgruppe zwei Frauengestalten.

    «Marietta und Susi», sagte Doris hinüberspähend.

    Sie waren zuvor wohl im Kakadu gewesen, der Bar drüben in dem großen Haus, wo das Nachmittagskonzert des Tanzorchesters um sieben zu Ende gegangen war. Sie suchten nun, was sie drinnen nicht gefunden, unter jenen selben Kastanienbäumen, unter welchen Alf eines Abends im vergangenen September die kleine Doris zum ersten Mal gesehen. In bedrückter Stimmung war er damals vom Großen Platz her am Eingang des Kakadu, an dem danebenliegenden Wiener Café und an dessen eisenumgittertem, baumbestandenem Sommergarten vorüber unter das dunkelgrüne Blätterdach vorn an der Gabelung gelangt. Dort hatte sie gestanden, in leichtem gelbem Jackenkleid, wie ein unschuldiges und hilfloses kleines Kind neben der hünenhaften Susi, hatte ihre großen, dunkel glühenden Pupillen halb forschend, halb verheißend und niederträchtigen Zaubers voll auf den Fremden gerichtet, der, verwirrt vor Schrecken und seltsamer Rührung, über die Straße hinweg davongelaufen war. Für Mitleid hatte er damals seine Ergriffenheit gehalten. Dieses Mitleid hatte ihn während der folgenden vierzehn Tage fast Abend für Abend für eine gute Weile als einsam herumschlendernden Beobachter an den Quai getrieben – bis zu der Stunde, wo er, um eine Hausecke biegend, dem Mädchen so geradewegs entgegengelaufen war, dass sie ihn gleich bei beiden Armen gepackt und ihm mitten ins Gesicht gelacht hatte: «So, Sie unverbesserlicher Heiliger, wollen Sie auch jetzt wieder ausreißen?»

    Er war nicht ausgerissen, hatte seine Heiligkeit reuelos zum Opfer gebracht. Sie aber hatte fortan den Kakadu wie das gegenüberliegende Eldorado gemieden, wo sie zuvor drei Monate lang tagtäglich verkehrt hatte, und nie mehr war sie auf und ab getrippelt unter Kastanienbäumen.

    «Wohin gehen wir eigentlich?», fragte Doris, während sie ihren Arm unter den seinen schob und sich eng an ihn schmiegte – ein wenig deshalb, weil sie wusste, wie unbehaglich ihm dabei auf so belebter Straße zu Mute ward.

    «Was weiß ich», sagte Alf. «Wohin du willst. Wie wär’s denn mit dem Schwarzen Lamm?»

    Sie waren schon zwei- oder dreimal dort gewesen. Da die Wirtschaft sich ganz in der Nähe befand und Doris’ Füße in den modisch unbequemen Schuhen zu schmerzen begannen, erklärte sie sich ohne Weiteres einverstanden.

    Nach wenigen Schritten bogen die beiden rechts in ein enges, düsteres Gässchen ein, das wie eine Schlucht zwischen hohen, von vereinzelten, meist lichtlosen Fenstern durchbrochenen Mauern hinanführte. Ein paar Meter weiter oben zur Linken streckte eine metallene schafähnliche Tierfigur allein und verwittert ihr unschuldiges Haupt in die feuchte Luft, unmittelbar über einer schmucklosen hölzernen Tür, die Alfred aufzustoßen sich anschickte.

    III.

    Bereits hatte Esch seine Hand nach der Klinke ausgestreckt. Ehe er sie jedoch erfasste, öffnete sich die Tür wie von selbst, und umlärmt von Stimmengewirr und Musikgetöse, flog ein langes Geschöpf mit solcher Wucht auf die Gasse heraus, dass es Alfred mit knapper Not gelang, zur Seite zu weichen, das hinter ihm stehende Mädchen mit einer jähen Armbewegung zurückzustoßen, um damit einen fürchterlichen Zusammenprall zu verhüten. Hinter dem Langen aber erschien, kürzer, jünger, erschreckend fett, in weißem Hemd und weißer Schürze und mit zurückgekämmtem, ölig glänzendem Haar: Sepp, der Wirt, mit dem ausgestreckten Arm eines Diskuswerfers nach dem Abwurf, der Held, der wieder einmal den zufällig gerade aufsässigsten seiner Gäste, den anderen zur warnenden Belustigung, beim Kragen gepackt und an die gesunde, frische Luft befördert hatte.

    An Frischluft herrschte in der niedrigen, mit hellem lackiertem Holz getäfelten Wirtsstube, in die Alf und Doris durch den Sieger der Runde murmelnd hineinkomplimentiert wurden, in der Tat der allergrößte Mangel. Eine beklemmende Hitze, bläulicher Rauchnebel und die Dünste einer fett- und gewürzreichen Küche umfluteten die Ankömmlinge, dazu die elektrisierenden Rhythmen der Ouvertüre zu Rossinis Wilhelm Tell und das Gelächter und Bravorufe der dreißig, vierzig Gäste, von denen etliche wie hysterisch in die Hände klatschten.

    Ein stämmiger Arbeiter, der mit seinen Kollegen gleich links neben der Tür saß, er mochte auf dem Bau oder im Transportgewerbe tätig sein, war mit dem Beifall freilich nicht einverstanden. «Schafsköpfe seid ihr!», rief er den Begeisterten zu. «Du solltest dich schämen, Sepp! Der andere ist doch ein ganz harmloser Bruder.»

    «Alles wurst!», rief der Wirt. «Im Lamm gibt’s keinen Säufer, oder er fliegt!»

    Er schritt mit seinem rechts-links pendelnden Gang, doch majestätisch aufrecht hinter das Buffet, führte blitzschnell eine halb leere Weinflasche an seinen Mund und tat ein paar lange, kräftige Züge, während alles lachte, selbst der unzufriedene Arbeiter, und die Bier- und Weingläser an sämtlichen Tischen in die Höhe gingen.

    Nach einer freien Ecke suchend, musterten Alf und seine Gefährtin die Runde. An den rechteckigen Tischen entlang der rechts von der Tür gelegenen Wand, die alle besetzt waren, entdeckten sie nicht wenige bekannte Gesichter. Kopfnickend grüßte Doris die fahlblonde Rita mit den vollen Lippen, Charlys Gattin, der ein schwarzlockiger, kaum über zwanzigjähriger Jüngling in drängender Begierde den Arm förmlich zerquetschte, dann Singapore-Olga, die breitknochige Vierzigerin mit dem Kopf einer gereizten Bulldogge, die berühmte Prostituierte, die dreizehn Sprachen beherrschte in Wort und Schrift, dabei die übelsten Raufbolde der Altstadt mit der Härte ihrer Fäuste in Respekt versetzte, und schließlich «die Lora», professioneller Tänzer aus gutem Hause, gekleidet in kanariengelbe Keilhosen und einen giftgrünen Pullover, an dem drei goldene Damenbroschen steckten; golden schimmerten auch der Armreif am rechten Handgelenk und die schwere Kette, die um den gebräunten Hals hing.

    Alf beeilte sich vor allem, seinem guten Freund Leo Graf, einem talentierten Graphiker und Reklamefachmann, die Hand zu drücken. Der stellte ihm wiederum Charles Dubs vor, den distinguierten Barpianisten, einen recht beleibten, doch lebhaften Fünfziger, der von ferne die Vision der heroisch übersteigerten Fettgestalt Honoré de Balzacs heraufbeschwor; den sportlich hochgewachsenen Direktor Maurer, einen Mann von entschiedenen Bewegungen, mit schwarzem Hemd, gelber Krawatte, leicht geröteter Nasenspitze, schwarzen, buschigen Augenbrauen und ohne ersichtlichen Grund gestrengem wasserblauem Blick – er leitete die größte amerikanische Filmverleihgesellschaft im Lande –, und den mageren, spitznasigen Dichter Hermann Sturzenegger, der einen schwarzen Pullover, eine Baskenmütze und eine dunkle Hornbrille trug. «Seine früheren surrealistischen Poesien hat er wohl selbst nicht verstanden», höhnte Graf, «aber vielleicht hast du vor Jahren seine wackeren Kampflieder in der Arbeiterzeitung oder in der Roten Fahne gelesen, und vielleicht kennst du auch einige seiner freien Rhythmen aus dem Bürgerblatt oder seine Reportagen daselbst über unsere romantischen Alpentäler. Leben lässt sich kaum von dieser Kunst, doch zum Glück besitzt unser Hermann eine tüchtige Freundin. Fanny, genannt Esmeralda, die verdient für zwei als Serviertochter in der Royal-Bar.» Er wies auf ein Mädchen von nicht gerade schönem, aber auffallendem Äußeren, das in stolzer Haltung Zigaretten rauchend neben dem Dichter saß. «Ich hatte einst große Bewunderung für Sie», sagte Alf zu Maurer, um etwas Höfliches zu sagen, «es ist über zehn Jahre her, Sie waren damals Sekretär und Redakteur des Arbeiterjugendverbandes, ich war zwar nicht Mitglied, aber ich las Ihre Zeitung.»

    «Das wäre mir neu, Sie scheinen mich zu verwechseln», erklärte der Direktor hastig. Alf war verwundert, doch Maurers harter Blick ließ es ihn vorziehen zu verstummen.

    Am dritten und vierten Tisch saßen ein paar wohlgekleidete, meist jüngere Herren in heiterer, ja lärmender Laune vor ihrem Bier, unter ihnen ein schlanker, schmalköpfiger Versicherungsangestellter, Dreher hieß er, der in Alfs Nachbarschaft zu Hause war. Merkwürdigerweise vermochte ihre Ausgelassenheit die beiden Schweigsamen in keiner Weise zu beeindrucken, die als Fremdlinge mitten unter ihnen saßen. Der eine war ein recht würdiger Herr, über fünfzig gewiss, grau meliertes, nach hinten gekämmtes Haar über den buschigen Brauen und der kühnen Adlernase. Sein marengoschwarzer Anzug, wenn auch nicht mehr ganz neu, war offensichtlich von bestem Stoff und Zuschnitt. Der andere, ein schmaler, äußerst glatt rasierter junger Mann in Grau, mit schnurgerade gezogenem Scheitel, Hornbrille und grau-rot gestreifter Seidenkrawatte, verriet durch sein sorgsam überwachtes Äußeres den gewissenhaften, strebsamen Angestellten. Diese Einsamen blieben unerschütterlich ernst, auch wenn die ganze Stube lachte, als wohnte in ihrem Schädel eines Tieres Seele, und sie schienen von einem einzigen Willen beherrscht zu sein: ohne Gier, als hätten sie eben eine Pflicht zu erfüllen, doch in erschreckendem Rhythmus Glas um Glas dunkelroten Weines in ihr Inneres hinabzustürzen.

    Dabei sah’s aus, als hätten die armseligen Alten am langen Tisch, der gleichsam das Rückgrat der Stube bildete, bedeutend mehr Ursache zu Trauer und Verzweiflung. Hier war es, wo Hunderten von Furchen und Falten, wo den Narben und Verstümmelungen verschwielter Hände, den nervösen Zuckungen von Nasen, Lippen und Augenlidern, den groben Flicknähten der ausgetragenen, abgeschossenen und zerknitterten Gewänder lautlos, pausenlos das dumpfe Lied der Mühsal entschwebte: der Mühsal der Kreatur, die ihren Schweiß für ein Stücklein Käse und etwas Butter vertropfte und sich doch zumeist mit dünnem Kaffee und leerem Brot zu begnügen hatte, die sich nachts auf der fremd riechenden Matratze der Massenherberge oder auf dem Lumpenlager draußen in der Hütte in den Schrebergärten oder auf der harten Bank in den Anlagen am See, bestenfalls in dem kaum geheizten Verschlag hinter der Küche eines mürrischen Verwandten nach einem einfachen, aber richtigen Bett in einem warmen, behaglichen eigenen Stübchen sehnte, die lange von einem eigenen Sparbüchlein, vielleicht gar von einem eigenen Häuschen oder Geschäftlein geträumt – und die eines Tages, vor der Zeit aus hundert kleinen und größeren Kampfeswunden blutend, ihre Kräfte schwinden und schwinden fühlt und nun gar um ihren kaum geheizten Verschlag, um ihren Kaffee mitsamt den plötzlich gewichtigen Brotbröcklein – nein, das letzten Endes wohl nicht, aber vor dem Schlimmsten außer dem Tod: vor dem lebendig Begrabenwerden, vor der Versenkung in irgendeines jener gottverfluchten Armenhäuser zu bangen beginnt. Da war einer mit einer langen, schnauzenartig vorstehenden, zwischen Mundöffnung und Nase fast in rechtem Winkel eingebrochenen Oberlippe. Eben gähnten seine Kiefer riesenweit wie die eines Nilpferds auseinander und gewährten eine einzigartige Aussicht auf einen nahezu zahnlosen Gaumen und einen rot geschwollenen Rachen. Mit einem verhältnismäßig kräftigen Siebziger unterhielt ein uraltes kleines Weiblein ein reges Gespräch, in dem der spitzen Pfeile offenbar eine große Anzahl hin- und zurückflog. Die Frau besaß einen winzigen Haarknoten am Hinterkopf und eine noch viel winzigere Nase im Gesicht, die eigentlich nur aus einem kleinen Fleischkügelchen um die großen Nasenlöcher herum bestand: von einem Nasenrücken war nichts zu sehen, als hätte ihn ein Meisterboxer mit brutaler Faust zusammengeschlagen. Ein totaler Glatzkopf mit langem schneeweißem Schnurrbart, dessen Hälften wie zwei Eichhörnchenschwänze in den Raum ragten, musterte mit starrem Blick die ihm anscheinend fremde Gesellschaft, soweit er es nicht vorzog, den Glanz seiner Pupillen in die leuchtend klare Goldtiefe seines Mostgläsleins zu versenken. Ein zusammengeschrumpftes, wohl drei, vier Tage nicht mehr rasiertes Männlein, den schwarzen Hut auf dem Kopf, war seltsam aufgeputzt mit golden schimmernden Ohrringen und einer dreifach über die ganze Breite des Bauchs gespannten Uhrkette, an der eine kleine, ebenfalls goldfarbene metallene Kuh hing. Mit seiner in den höchsten Tönen abwechslungsweise flötenden, pfeifenden und keuchenden Fistelstimme versuchte er unter erregtem Augenzwinkern, sich seinen Tischgefährten verständlich zu machen. Einer Großmutter, die man sonst um diese Zeit über ihren Krückstock gebeugt als Blumenverkäuferin von Kaffeehaus zu Kaffeehaus humpeln sah und die mit ihrer scharf gebogenen Nase, den drei unmöglich langen Zähnen, die sie sprechend zeigte, und den gallegetränkten Blicken, die sie wie Dolche herumschleuderte, jedem Kind als die leibhaftige Hexe aus Hänsel und Gretel erschienen wäre, ging der Mitteilungsbedürftige besonders auf die Nerven. «Halt’s Maul, alter Narr, versteht dich doch keiner!», fuhr sie ihn wiederholt gehässig an, ohne die geringste Schonung zu üben. Ganz oben hatte ein einsamer Weißbärtiger sein Haupt vornüber auf den Tisch fallen lassen: dieser Welt überdrüssig, war seine Seele aus dem verzehrenden alkoholischen Fegefeuer in die linde Seligkeit der Betäubung eingegangen. Regelrecht betrübt blickte aber von all diesen Trostlosen ein Einziger umher: ein eher klein gewachsener Herr mit einem leidlich gepflegten grauen Schnurrbart, in ziemlich weißem Hemd mit Stehkragen und schwarzer Binde, darüber ein schwarzes Gewand, das nichts anderes als ein alter Smoking war, auf dem Haupt einen schwarzen Hut von Melonenform, einen köstlichen Spazierstock eingeklemmt zwischen den Beinen. Er vertrat im Schwarzen Lamm mit finsterer Überzeugung Paris, Champs-Élysées, 1899, er spielte Georges Clemenceau, den Tiger, mit einem klappernden, künstlichen Gebiss und ohne die Spur von Tigerklauen, und blickte vornehm wie ein Grandseigneur und grenzenlos einsam wie Robinson Crusoe über das vor ihm stehende, bis auf ein Restchen Weißwein leere Glas hinweg, das er vielleicht aus Angst, gehen zu müssen, da er sich eine zweite Runde nicht leisten konnte, nicht auszutrinken wagte.

    IV.

    Alf führte Doris um die lange Tafel herum, da kein einziger freier Stuhl zu erblicken war. Auch von den drei Rundtischen an der Wand zur Linken der Wirtschaftstür waren zwei besetzt. Gleich neben dem Eingang zechten mit dem Verteidiger des betrunkenen Langen ein paar Arbeiter mittleren bis hohen Alters. Vorn neben der Theke speisten zwei Herren in Gesellschaft eines gepflegten blonden Mädchens, der eine in blaues Kammgarn gekleidet und mit stark gelichtetem Haar, der andere, der etwas jünger sein mochte, mit luftigen, ungescheitelt nach hinten laufenden blonden Haarwellen und in graues Kammgarn gekleidet, beide mit schmucken weißen Pochettchen herausgeputzt. Neben ihnen hockte teilnahmslos, mit halb schläfrig, halb misstrauisch zugekniffenen Augen und abgestanden käsefarbiger Gesichtshaut eine jüngere Frau, die Wirtin; sie hatte zweifellos den Kampf gegen ihren Durst wieder einmal mit aller Gründlichkeit geführt. Der mittlere Tisch war jedoch eben frei geworden, und Alfred beeilte sich, ihn mit seiner Freundin in Beschlag zu nehmen.

    Bei der schlanken, trotz ihrer abfallenden Schultern recht hübschen Kellnerin, die wie ihre rundlichere Kollegin eine bemerkenswert weiße Bluse trug, bestellten die beiden je einen Teller Gulaschsuppe und einen halben Liter Burgunderwein.

    «Trink einen guten Burgunder,

    dann wirst du g’sund und wirst noch g’sunder»,

    rezitierte am Arbeitertisch, strahlend vor Dichterstolz, ein kleiner Graukopf von schmalen, fein gemeißelten Zügen, der selbst vor einem Gläschen Rotwein saß. Er blickte viel munterer als sein schneeweißer, rosahäutiger Nachbar, der sich mit einer Tasse Kaffee begnügte und durch seine weit unten auf der Nase sitzende, in Draht gefasste Brille unbeweglich auf die Zeitung starrte, die er trotz der Augengläser in weitem Abstand vor sich hielt.

    Während Alf und Doris auf das Bestellte warteten, verfolgten sie belustigt das Treiben des Wirts, der persönlich hinter dem Buffet an der Feuerstelle stand. Mit kurzem, dickem Arm und langer Kralle rührte er erregend schnell in der qualmenden, fettknisternden Bratpfanne herum. Den Ausschank dagegen besorgte ein spindeldürrer Bursche, an dem alles körperlich Sichtbare von auffallender Länge war: die Arme, der mit einem mächtigen Adamsapfel ausgestattete Hals, auf dem der Kopf wie der einer Schlange hin- und herwackelte, die seltsam zugespitzten abstehenden Ohren und die schief aus dem Gesicht ragende Vogelnase. Es war Dodo, ein entfernter Verwandter des Wirts, ein gescheiter, nachdenklicher Mensch von begrenztem Sprachvermögen, den die einen für taubstumm erklärten, während andere wissen wollten, er höre ausgezeichnet, leide aber an den Folgen einer Gehirnverletzung durch die Zange, mit deren Hilfe man ihn zur Welt gebracht, während wieder andere eindeutig behaupteten, das Ganze sei nichts anderes als eine Folge der schrankenlosen Trunksucht.

    Dodo hatte eben nach einem kleinen Schaltbrett an der Wand gegriffen und damit einen riesigen vierarmigen Propeller in Bewegung gesetzt, der wie ein Leuchter in der Mitte der Stube an der Decke hing. Er vermehrte nicht die bescheidene Menge verfügbaren Sauerstoffs, da es an jeder Luftzufuhr von außen offensichtlich fehlte, wirbelte aber die stickige und erhitzte Luft fleißig durcheinander, womit sich jedermann zufriedenzugeben schien.

    Das scharf gepfefferte Gericht und der kräftige Rebensaft sorgten erst recht für warmes Blut. Zwischendurch unterhielt der Graukopf am Nebentisch die neuen Gäste. «Prosit! Geht nichts über einen guten Tropfen!», rief er ihnen zu. «Der Großvater hier», er deutete mit listig blickenden Äuglein auf den schneeweißen Zeitungsleser, «der erträgt nichts Rechtes mehr. Und dabei ist er erst fünfundsechzig. Und ich bin einundachtzig – einundachtzig, sag ich, obwohl mir’s keiner glauben will, aber ich kann’s euch zeigen auf meinem Ausweis –, und jeden Tag trink ich meinen Schoppen!»

    Und wiederum befiel ihn plötzlich poetischer Drang. «Noch einen Becher!», hatte ein Tischgefährte bei der Kellnerin bestellt. Gleich kommentierte der Alte:

    «Noch einen Becher, Marie,

    sagt der Johann zwölfmal oder nie!»

    Sie hatten bereits den zweiten halben Liter vor sich stehen, als Esmeralda aufrecht, doch nicht eben sicheren Schrittes, um die lange Tafel herum auf die beiden zukam. «Entschuldigen Sie, ich möchte Ihnen etwas sagen», begann sie, sich mit der linken Hand auf den Tisch stützend, während sie mit der Rechten zitternd ihre Zigarette vor sich hielt. «Leo hat mich Ihnen als Serviertochter vorgestellt. Sie müssen nicht meinen, ich hätte etwas gegen diesen Beruf. Aber Sie müssen doch wissen: Ich habe drei Semester lang Philosophie studiert, reine Philosophie, jawohl; und ich werde mein Studium beenden, sobald ich’s irgendwie richten kann. Sie müssen wissen, mein Vater war ein wohlhabender Mann, sie nannten ihn den ungekrönten Dorfkönig von Kirns, im Kirnsertal, aber er starb zu früh, und ich war das jüngste von dreizehn Kindern, da blieb für mich, bis ich erwachsen war, eben nichts übrig. Aber es wird schon anders werden, ich verdiene gut, und wenn mein Hermann einen Verleger findet für seinen Gedichtband, dann hab ich bald etwas für mich auf der Seite …»

    Sie achtete nicht auf Alfreds höfliche Aufforderung, sie möge doch Platz nehmen, sondern setzte ihren Gang fort, nach der Tür zur Linken der Theke, hinter der sich der Hausflur und die Toiletten befanden.

    Keine drei Minuten waren verstrichen, als auch Direktor Maurer, vielleicht ermutigt durch Esmeraldas Beispiel, auf die beiden jüngeren Gäste zuschritt. Im Gegensatz zu der Frau setzte er sich jedoch alsbald unaufgefordert neben Alf, näherte seinen Mund dessen Ohr und sprach mit gedämpfter, selbst für Doris schwer vernehmbarer Stimme: «Entschuldigen Sie einen Augenblick, Herr Esch. Ihre Bemerkung vorhin … Ich möchte nicht, dass Sie mich für feige halten. Aber Sie müssen verstehen … es gibt Situationen, in denen man sich nicht immer geben kann, wie man es möchte. Sie wissen, ich arbeite in einer amerikanischen Firma. Amerika, das sind heute die McCarthy’s und Konsorten. Wenn diese Leute anfangen, in meiner Vergangenheit zu wühlen – Sie erinnern sich ja wohl, wir steuerten damals in der Arbeiterjugend einen handfesten Linkskurs –, dann bin ich geliefert, trotz all meiner Verdienste. Sie finden das vielleicht nicht eben schön, aber ich kann mir keine Unvorsichtigkeiten leisten.»

    Alf versicherte den Mann seines vollen Verständnisses und versprach ihm Schweigen; hatte seine eigene Lage mit jener Maurers nicht eine entfernte Ähnlichkeit? Der Direktor verabschiedete sich aufatmend, um an seinen Tisch zurückzukehren.

    Inzwischen hatte auch Dubs sich erhoben und, auf etwas unsicheren Beinen auch er, den Weg nach dem Hauseingang eingeschlagen: Die ergiebig genossenen Mengen Biers und Weißweins, dachte sich Alf, riefen eben nach fleißiger Entleerung. Aber er hatte vergessen, dass auch der Sprechapparat sich im Korridor befand. Als der Pianist zurückkehrte, rief er den beiden grüßenden Herren in Kammgarn über den Schanktisch hinüber zu: «Bitte, erzählen Sie nie in der Palace-Bar, dass Sie mich heute hier getroffen haben! Ich hab mich eben telephonisch krankgemeldet für heute. Ich wäre ohnehin schon verspätet – und überhaupt, Sie können sich nicht vorstellen, wie einen das manchmal anekelt, dieses blöde, blasierte Publikum, das schwatzt und grölt, wenn man etwas Anständiges spielt, und dafür siebenmal am Abend seinen Wienerschmalz oder den abgedroschensten Schlager verlangt! Und diese Whiskys und Champagnerkelche auf dem Flügel, die nachgerade an den Nerven fressen! Wenn ich dies alles vorausgesehen hätte vor siebenundzwanzig Jahren, als ich mein Konzertdiplom machte, mit der besten Note! Ich hätte niemals anfangen sollen in diesen Bars. Als ich mein erstes Engagement annahm, bildete ich mir ein, die Sache wäre vorüber in allerhöchstens zwei Monaten. Aber eben: Zu einer Konzertkarriere gehören heutzutage nicht nur Talent und Fleiß, daran hätte es mir ja wahrhaftig nicht gefehlt. Aber Geld braucht’s für die Reklame oder zum Mindesten die Fähigkeit, sich Protektion zu verschaffen, und beides war leider nie meine Stärke.»

    V.

    Der Pianist hatte sich kaum zu seinem Glase zurückgezogen, als drüben der bisher stumme Trübselige in heftiger Erregung sich erhob. Er schleppte seinen Stuhl gleich mit, ließ sich, zwei der Alten im Marengo-Anzug zur Seite drängend, kurzerhand am langen Tische nieder.

    «Zu euch gehör ich», hörte man ihn erklären, «mit euch will ich saufen! Ich bin erst fünfundfünfzig, vor einer Woche war mein Geburtstag, aber ich bin alt, versteht ihr das? Ausrangiert wie ihr und zu alt für eine nützliche Arbeit! Teufel, habt ihr schon so was gehört? Zwanzig Jahre lang war ich bei der Semiramis, ihr kennt sie ja, unsre größte Fettfabrik, einer der zuverlässigsten Vertreter, ich schneide nicht auf, nur Geschäftskundschaft natürlich. Und plötzlich entlassen sie mich, von einem Tag auf den andern, wisst ihr, warum? Nur weil ich mir erlaubt habe, zu meinem Vorgesetzten, dem Verkaufschef, eine Bemerkung zu machen wegen seiner Weibergeschichten. Und nun find ich einfach nichts Anständiges mehr. Ich kann doch, in meinem Alter, nicht wieder von vorn anfangen, ich kann doch nicht von Haus zu Haus ziehn, Türklinken abstauben, mit irgendeinem Schwindel, den keiner braucht. Ich sag euch, manchmal glaub ich, ich werd verrückt, oder ich werd mich erschießen. Warum glaubt ihr denn, dass ich in solchen Wirtschaften herumsaufe? Früher hab ich nur im Kakadu verkehrt, im Wiener Café und in den andern guten Lokalen. Aber was soll ich heute antworten, wenn ich Bekannte treffe und sie mich fragen: ‹Wie geht’s Ihnen, Herr Weiner?›?»

    Er hätte vielleicht weitergejammert, doch verstummte er, als plötzlich der ganze Kehlenlärm in der Wirtschaft in sich zusammenfiel und der sentimentale Modeschlager Domino, Domino unbehelligt, in ängstigender Reinheit ins Gehör floss. Ein langer, hagerer Mensch mit dem schmalen, scharf gezeichneten Gesicht des Berglers hatte das Lamm betreten, ein Mann, der einen schweren Alpenfilzhut und eine olivgrüne Lodenpelerine trug. «So, da wären wir wieder», verkündete er mit voller, wohltönender Bassstimme. Er beäugte die gaffende Runde, streckte die langen Arme weit von sich wie ein Seiltänzer und setzte sich schwankend, an Alfs Tisch vorbei, auf das Buffet zu in Bewegung.

    «Heda, Langer, komm setz dich und mach keine Eseleien!», rief ihm besorgt der Arbeiter nach, der ihn zuvor verteidigt hatte.

    «Mensch, mach keine Eselei’n, der Sepp,

    der hat ein Herz wie Stein!»,

    verkündete, allen vernehmlich, der Einundachtziger.

    Der Wirt schien es eilig zu haben, dieses Urteil zu bestätigen. In voller Breite stand er hinter dem Schanktisch, einen harten Gegenstand in Form eines Kuhhorns vor dem Munde. Die Musik im Radio erstarb.

    «Hallo, hallo, hier Radio Lamm», dröhnte es mächtig durch den Lautsprecher. «Ich sehe ein langes Gespenst; ich sehe einen, der hat sich hier nicht zu setzen; ich sehe einen, der hat nichts gelernt, und der wird zum zweiten Mal an die Luft fliegen. Das Lamm ist keine Trinkerheilanstalt – im Gegenteil!»

    Der Eindringling stand still und blickte dem Wirt gebannt wie das Kaninchen der Schlange in die Augen.

    «Blackie», dröhnte es von Neuem, «ich glaube, Blackie, du kriegst Angst!»

    Ein schwarz-gelber Köter, halb Wolfs-, halb Bauernhund, schoss mit gesträubtem Fell und bedrohlich knurrend wie ein Teufel hinter der Theke hervor, stellte sich dicht vor den Betrunkenen und tat zweimal seine eindeutigen Empfindungen durch ein scharfes, schnappendes Bellen kund. Bevor jedoch das Ungewitter vollends losbrach, rief links von Alfred der Herr in grauem Kammgarn und mit den nach hinten laufenden dunkelblonden Haarwellen: «Kinder, seid lieb zueinander, ich zahle dem Mann eine Tasse Kaffee, die wird ihm ja bestimmt nicht schaden!»

    Das wirkte, vermutlich, weil es sich bei dem Spender um einen seltenen und gut gekleideten Gast handelte. «Werden ja sehen», brummte Sepp. «Aber auf Ihre Verantwortung, meine Herrschaften! Schließlich sind ja Sie’s, die der Geselle vor einer Stunde belästigt hat!»

    «Hab mir’s schon gedacht, du bist ein senkrechter Bürger», dankte der Gerettete seinem Retter, indem er auf ihn zuschritt und ihm einen mächtigen Schlag auf den Rücken versetzte. «Mein Bub, der älteste, der war auch ein flotter Bursche, das kann ich

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