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Der Schuh
Der Schuh
Der Schuh
Ebook512 pages6 hours

Der Schuh

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About this ebook

Hameln/Pyrmont, Ostern 1975: Als Emilia klar wird, dass sie für ihren kleinen Sohn Niclas alleine sorgen muss, nimmt sie sich vor, ihr ausschweifendes, unstetes Leben zu ändern. Auf einer Party lernt sie den charismatischen Sonderling Robert Hagedorn kennen. Sie passen nicht nur im Bett gut zueinander, auch sonst verstehen sie sich ohne Worte. Nach einer turbulenten Zeit trennen sie sich und beschließen, Freunde zu bleiben. Emilia heiratet Henry Wolff, ein liebenswertes, gradliniges Raubein. Dann wird ihre Cousine Eva tot aufgefunden. Während die Ermittler von einem Suizid ausgehen, steht für Emilia fest: Es war Mord. An diesem Tag sieht sie Roberts irren Blick vorläufig zum letzten Mal.

Nach zehn Jahren in Göttingen zieht die Familie wieder nach Hameln zurück. Emilia, inzwischen sechs-fache Mutter, hört nach langer Zeit wieder etwas von Robert. Er hat sich sehr verändert, und sie wünscht sich, er würde aus ihrem Leben verschwinden. Bevor sie begreift, was geschieht, gerät sie in einen Strudel aus Verbrechen und menschlichen Abgründen. Mutig und völlig auf sich gestellt begibt sie sich auf Spurensuche, bis ihr schmerzhaft bewusst wird, dass sie selbst eine Figur in Roberts teuflischem Spiel ist.
LanguageDeutsch
Release dateMar 13, 2021
ISBN9783947167913
Der Schuh
Author

Gabriela Bock

Gabriela Bock wurde 1951 in Herzberg am Harz geboren. Nach Jahren der Kindererziehung und mehreren beruflichen Stationen hat sie nun die Zeit und Ruhe, sich ihrer alten Leidenschaft zu widmen: dem Schreiben. „Die Hecke brennt“ ist ihr zweites Buch. Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Hattorf am südwestlichen Harzrand. Sie liebt ihre große Familie, ihre Tiere, das Reisen, das Leben im Allgemeinen und natürlich den Harz.

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    Book preview

    Der Schuh - Gabriela Bock

    Gabriela Bock

    Impressum

    Der Schuh

    ISBN 978-3-947167-91-3

    ePub Edition

    V1.0 (03/2021)

    © 2021 by Gabriela Bock

    Abbildungsnachweise:

    Umschlagfront (Hand) © dundanim | # 100506418 | depositphotos.com

    Umschlagfront (Schuhe) © paulmhill | # 8862062 | depositphotos.com

    Porträt der Autorin © Ania Schulz | as-fotografie.com

    Porträt Innentitel © Gabriela Bock

    Lektorat:

    Sascha Exner

    Verlag:

    EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

    Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland

    Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

    E-Mail: mail@harzkrimis.de

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Dieses Buch ist ein Roman. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen sind rein zufällig und von mir nicht beabsichtigt. Orte, Gebäude und Institutionen entstammen zum Teil meiner Fantasie.

    Inhalt

    Titelseite

    Impressum

    Prolog

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Kapitel 29

    Kapitel 30

    Das Spiel beginnt

    Kapitel 31

    Kapitel 32

    Kapitel 33

    Kapitel 34

    Kapitel 35

    Kapitel 36

    Kapitel 37

    Kapitel 38

    Kapitel 39

    Kapitel 40

    Kapitel 41

    Kapitel 42

    Kapitel 43

    Kapitel 44

    Kapitel 45

    Kapitel 46

    Kapitel 47

    Kapitel 48

    Kapitel 49

    Kapitel 50

    Kapitel 51

    Kapitel 52

    Kapitel 53

    Kapitel 54

    Kapitel 55

    Kapitel 56

    Kapitel 57

    Kapitel 58

    Kapitel 59

    Kapitel 60

    Kapitel 61

    Kapitel 62

    Kapitel 63

    Kapitel 64

    Kapitel 65

    Kapitel 66

    Kapitel 67

    Kapitel 68

    Kapitel 69

    Kapitel 70

    Kapitel 71

    Kapitel 72

    Kapitel 73

    Kapitel 74

    Kapitel 75

    Kapitel 76

    Kapitel 77

    Kapitel 78

    Kapitel 79

    Kapitel 80

    Kapitel 81

    Kapitel 82

    Kapitel 83

    Kapitel 84

    Kapitel 85

    Kapitel 86

    Kapitel 87

    Kapitel 88

    Kapitel 89

    Kapitel 90

    Kapitel 91

    Kapitel 92

    Kapitel 93

    Kapitel 94

    Epilog

    Eine kleine Bitte

    Über die Autorin

    Mehr von Gabriela Bock

    Prolog

    Die Stunden kriechen dahin, während er wach im Bett liegt. »Jeder Zwölfjährige hat Geheimnisse.« Mutters Worte. Sie weiß nicht viel von ihm. Die Haustür, Schritte auf dem Flur. Er wünscht sich sehnlichst, die Schritte eines Nachts nicht mehr hören zu müssen. Genau wie die lange Stille und das Weinen seiner Mutter danach. In dieser Nacht durchbrechen Schreie das verzweifelte Weinen. Er will nicht mehr länger stillhalten. Das Messer liegt zwischen Matratze und Lattenrost. Ein Griff. Diesmal muss kein Kissen herhalten, kein Fußball. Er wird ihn kaltmachen. Noch kälter, als er ohnehin schon ist. Ein kalter zynischer Sadist weniger. Kissen schreien nicht, auch Fußbälle nicht, aber er. Er wird schreien. Wie lange hat er sich das schon vorgestellt. Er öffnet die Tür zum Elternschlafzimmer.

    »Bitte Junge, geh wieder.«

    Er blickt in die verweinten, weit geöffneten Augen seiner Mutter.

    »Bitte, leg das Messer weg.«

    Wie schön sie ist. Nackt sitzt sie im Bett und zittert.

    »Hat er dich geschlagen?«

    »Es geht dich überhaupt nichts an, du kleines armseliges Muttersöhnchen, du Sohn einer Abtrünnigen.«

    Der Schlag trifft ihn hart. Auch sein Vater ist nackt. Er ist groß, kräftig. Der Junge versucht gar nicht, sich zu wehren, während sein Kopf an den Haaren nach hinten gezogen wird. Er hat das Messer an der Kehle.

    »Manchmal denke ich schon daran, meine Brut samt der Mutter auszumerzen. Aber dann fällt mir ein, gerade mit dir, mein Sohn, habe ich noch viel vor. Vielleicht wird aus dir ja doch noch mal ein Mensch.«

    »Bitte verschone den Jungen.«

    »Ich sagte schon, halt dich da raus. Du hast hier gar nichts zu melden!«

    Ein weiterer Schlag trifft ihn kaum noch. Es ist nicht so schlimm wie die psychischen Misshandlungen und die Schläge mit Worten.

    »Hier, nimm das Messer mit, du kleiner Feigling. Das traust du dich ja doch nicht.«

    Wenn er groß ist, wird er ihn töten. Er wird viele Waffen besitzen. Nur die bloße Vorstellung daran gibt ihm inneren Frieden.

    Kapitel 1

    Fasziniert von Musik und Stimmung durchquerte ich schwankend den Raum und ließ mich schließlich auf das breite, weiche Sofa fallen. Alles war gut … Mucke, Leute und Helgas Rotweinbowle, von der ich eindeutig zu viel getrunken hatte. Vielleicht hätte ich nicht auch noch an dem Joint ziehen sollen, der draußen auf dem zugigen Balkon rumgegangen war.

    Aber egal, worüber machte ich mir eigentlich Gedanken? Auch wenn dies Pauls Geburtstagsparty war, gab es für mich allen Grund zu feiern. Erst vor einer Woche hatte ich mein Baby abgestillt und dabei eine – bis dahin unbekannte Schwermut – empfunden, die bis zu diesem Abend angehalten hatte.

    Aber, jetzt war es vorbei. Alles gut überstanden. Den Nervenkrieg mit Niclas’ Erzeuger, dem Arsch, der sich dann auch kurz vor der Geburt aus dem Staub gemacht hatte. Die Geburt … die erste Zeit mit dem Kleinen … die Schwangerschaft war toll gewesen. Ich war mir noch nie so schön vorgekommen wie während dieser Zeit. Meine langen schwarzen Kringellocken hatten geglänzt wie nie zuvor und mein sehr schmaler Körper hatte ein paar Rundungen bekommen. Eines Abends hatte Paul mich angesehen und gesagt: » Emi, ich sehe es genau, du leuchtest ja richtig von innen.« Paul, der Mann meiner besten Freundin Helga, süß und etwas verrückt. Er musste es wissen, er arbeitete im Weser-Krankenhaus als Assistenzarzt auf der Gynäkologie. Er hatte mich auch dazu überredet, demnächst eine Ausbildung zur Krankenschwester zu beginnen. Ich musste mein Leben ändern, schon wegen der Verantwortung, die ich für Niclas trug. An diesem Abend hatte ich ihn bei meinen Eltern geparkt. Sie sind großartige Menschen und die besten Großeltern, die es für Kinder geben kann. Obwohl ich mit ihm nur eine Etage über ihnen wohnte, hatte Niclas bei ihnen alles, sogar ein eigenes Zimmer mit Babybett, Wickelkommode und Ersatzklamotten. Überhaupt, meine armen Eltern. Was hatte ich ihnen in der Vergangenheit bloß alles zugemutet?

    Es lag mir fern, plötzlich enthaltsam zu werden, aber ich musste an Niclas denken, der brauchte eine beständige Mutter und keine, die ewig von einer Beziehung in eine nächste, meist noch chaotischere, schlitterte.

    Seit langem war mir kein Mann mehr zu nahe gekommen, auch nicht Niclas’ Erzeuger. Männer waren Feiglinge und bekamen anscheinend einen verstärkten Fluchtreflex bei dem Anblick von dicken Babybäuchen, Kinderwagen oder stillenden Frauen. Ich wiegte mich zu der Musik hin und her und summte dabei. Alles drehte sich, als ich die Augen schloss. Hat eine geile Stimme, diese Sängerin Melanie, dachte ich.

    Als ich die Augen wieder öffnete, erblickte ich Robert Hagedorn, der auf dem flauschigen Teppich vor meinem Sofa saß. Ausgerechnet Robert, der auf dem Gymnasium mal zwei Klassen über mir gewesen war und ein schrecklich arroganter Schönling! Robert, der ein unglaublicher Kotzbrocken sein konnte, mit seiner besserwisserischen Art, mit der er sich damals erfolgreich die Mitschüler vom Hals gehalten hatte. Eigentlich mochte ich Sonderlinge wie ihn. Aber er! Er war einer von der Sorte gewesen, an dessen verschlossener Art man sich die Zähne ausbiss. Außer Paul natürlich, der jeden und alles verstand, hartnäckig war, und der ihn als so was wie einen Freund bezeichnete. Wie verdammt gut Robert aussah, ich konnte kaum wegsehen. Würde ich inzwischen lallen? Ich dürfte mich in kein Gespräch verwickeln lassen, schon gar nicht mit Robert, der mich wahrscheinlich gleich fragen würde, warum ich damals, nach drei Jahren, das Gymnasium abgebrochen hatte und heute noch ohne Beruf dasaß. Ich, Emilia Weber, die Rakete im Sturzflug.

    Was hatte ich schon alles versemmelt? Erst hatte ich meinen Realschulabschluss mit Ach und Krach auf der Handelslehranstalt nachgeholt, und später, nach knapp einem halben Jahr Lehre als Bürokauffrau, einer schrecklichen Zeit, im wahrsten Sinne des Wortes das Weite gesucht. Der Versuch, eine Ausbildung als medizinische Bademeisterin durchzustehen, schlug bereits nach zwei Monaten fehl. Ich konnte mich absolut nicht mit dem Gedanken anfreunden, ein Leben lang mit einem Beruf auskommen zu müssen, den ich nicht voll und ganz liebte. Zwischendurch hatte ich mich mit meist mies bezahlten Jobs über Wasser gehalten. Aber damit war jetzt Schluss, ich freute sich schon darauf, demnächst diese Ausbildung beginnen zu können.

    Robert kniete inzwischen neben dem Sofa und sah mich ständig an. Seine langen, blonden Haare fielen auf mein Gesicht, als er mich küsste.

    »Ich fand dich schon immer anders als die anderen Mädchen. Du warst netter zu mir und nicht so puppenhaft und schrill. So was kann ich an weiblichen Wesen überhaupt nicht leiden«, sagte er zu mir.

    »Ich fand dich früher saublöd«, rutschte es mir raus. Dabei wunderte ich mich, noch einigermaßen klar sprechen zu können.

    »Und jetzt?«, fragte er.

    Ich schlang die Arme um Roberts Hals und zog ihn neben mich aufs Sofa. Dann strich ich ihm die Haare aus dem Gesicht und streichelte ihn sanft. Dabei berührte ich sein Antlitz mit meinen Lippen.

    »Weiß ich noch nicht, bis jetzt gut.«

    »Dann finde es raus, heute noch.«

    »Hey ihr!«

    Paul stand neben uns.

    »Helga und ich, wir stellen euch unser Schlafzimmer zur Verfügung. Wollt ihr?«

    »Wollen wir?«, fragte Robert und ich nickte ihm zu.

    Er zog mich vom Sofa hoch. Paul grinste und drückte Robert zwei Stecklaken in die Hand, die die Aufschrift des Krankenhauses trugen, in dem er arbeitete.

    Im Schlafzimmer beobachtete ich Robert dabei, wie er fein säuberlich die Laken auf die Matratzen des Ehebettes zog. Er bestand darauf, das Licht im Zimmer an zu lassen, weil er genau sehen wollte, was er mit seinen großen, schmalen Händen anfasste. Obwohl ich das den Raum kannte, fand ich ihn in der Nacht besonders karg ausgestattet, nicht nur der Aufdruck auf den Stecklaken erinnerte mich an ein Krankenhauszimmer. Ich registrierte die weißen Wände, die weiße Bettwäsche und genoss den intensiven, kühlen Blick aus Roberts graublauen Augen. Wie er über meinen Körper glitt. Immer und immer wieder. Er bekam nicht genug davon.

    »Meine Oberschenkel sind zu dick.«

    »Oh nein.«

    Robert drehte mich zum x-ten Mal in dieser Nacht auf den Bauch. Er fuhr mit der Hand über das große Muttermal zwischen meinen Schulterblättern.

    »Es hat mich vorhin zuerst erschreckt und etwas gestört, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt.«

    »Gehörst du zu den Exorzisten, dass dich mein Hexenmal stört?«

    Robert lachte. Es war so ein erotisches Lachen, mit einem kleinen Gluckser am Ende.

    »Wer außer dem Leibhaftigen persönlich würde es lebend überstehen, die Nacht mit einer Hexe zu verbringen?«

    »Oh Exzellenz.«

    Auf allen vieren kroch ich im Bett umher und küsste die Innenflächen seiner Hände.

    »Mit diesem Ding auf dem Rücken wirst du nie untertauchen können«, bemerkte Robert trocken.

    Inzwischen war ich immer nüchterner und müder geworden. Draußen begann die Dunkelheit einem neuen Morgen zu weichen. Alle Lampen im Zimmer brannten noch. Robert kniete neben mir im Bett. Seine linke Faust war auf mich gerichtet, der Zeigefinger zeigte nach vorn, der Daumen nach oben. Es sah aus, als wenn er gleich auf mich schießen wollte. Es war eine Geste, die Robert schon zu Schulzeiten oft angewendet hatte. Jetzt fand ich es lustig.

    »Bitte«, sagte er, »bitte ergib dich noch einmal.«

    Danach schlief ich tief und fest.

    Am Vormittag zauberte die Sonne etwas Farbe in das kahle, weiße Zimmer. Panik überkam mich. Es war nicht nur spät, sondern auch zwei Tage vor Ostern, und meine Eltern hatten nicht damit gerechnet, dass ich die ganze Nacht wegbleiben würde. Ich warf noch einmal einen Blick auf Roberts schönen Körper und auf sein markantes Gesicht.

    Es würde das letzte Mal sein, dass ich ihn so sah, da machte ich mir nichts vor. Es sollte bestimmt eine Anspielung gewesen sein, dieses: »Ergib dich noch mal.« Eine Anspielung auf meine Passivität beim Sex. Ich war es nun mal, die sich dabei hinschmiss und die einen Mann brauchte, der diese Passivität auszunutzen verstand. Dabei liebte ich intensive Blicke, von denen Robert mir in dieser Nacht ganz viele geschenkt hatte. Vielleicht hätte es kuscheliger und dunkler sein können. Das Ganze hatte schon etwas von einer klinischen Operation gehabt. Entschlossen rüttelte ich Robert wach.

    »Tschüss dann, ich geh jetzt«.

    »Wieso haust du jetzt einfach so ab?«, fragte er verschlafen, sprang aus dem Bett, zog die Stecklaken ab, faltete sie ordentlich und legte sie zurück aufs Bett.

    »Hast du mal im Krankenhaus gearbeitet?«, wollte ich wissen. Soweit mir bekannt war, studierte Robert im fünften Semester Jura.

    »Guter Drill«, meinte er, »fällt mir schon gar nicht mehr auf.« Er hatte sich wieder hingelegt. »Komm bitte wieder ins Bett«, flehte er.

    »Ich muss zurück zu meinem Kind, das ist bei meinen Eltern.«

    Wie konnte einer wie Robert wissen, was in mir vorging?

    »Weißt du, wie geil ich auf dich bin? Das Kind ist mit Sicherheit bei deinen Eltern gut aufgehoben«, sagte er, aber ich stand bereits angezogen in der Tür. »Bitte Emi, bitte beantworte mir noch eine Frage.« Robert setzte seinen alten Robert-Hagedorn-Blick auf, den ich noch vom Schulhof kannte. »Hat es dir schon mal jemand so besorgt?«

    »Glaubst du, du warst mein erster Mann?«, schrie ich ihn an und knallte die Tür zu.

    Die Todesfrage. Unglaublich. Er war auch nicht anders als die Anderen. Wie war ich? Ich, ich, ich! An was anderes konnten sie wohl nicht denken? Waren alle Männer gleich? Warum musste ich nur ständig auf solche Egozentriker stoßen?

    Ich aß mit meiner Mutter zusammen zu Mittag, die den schlafenden Niclas anschließend auf einen Spaziergang mitnahm. Ich ging die Treppe hoch in die Wohnung über ihnen und fiel hundemüde und erschöpft in mein Bett. Diese Wohnung im Haus meiner Eltern zu besitzen, war, außer Niclas, das Beste, was mir je passieren konnte. Meine Eltern hatten das alte denkmalgeschützte Haus mit dem Laden im Erdgeschoss in der Fischpfortenstraße im Zentrum von Hameln erst vor drei Jahren gekauft, nachdem mein Vater sich aus dem gutbezahlten, aber unsicheren Job in der Wirtschaft mit einer Abfindung verabschiedet hatte. Mit diesem ›Kunst-, Trödel-, Briefmarkenladen‹ hatte er sich einen langersehnten Wunsch erfüllt. Das Haus war noch nicht fertig renoviert, aber es war schon jetzt urgemütlich darin. Wenn meine Eltern nicht zuhause waren, wurde es mir manchmal etwas unheimlich in dem alten Gemäuer. Dann war ich froh, dass Pan und Syrinx wachten, unsere Hunde, die ich vor zwei Jahren als Welpen angeschleppt hatte. Beides waren Mischlinge. In dem riesigen schwarzen Pan steckte mit Sicherheit ein Neufundländer, und meine Mutter hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als sie die großen Pfoten des Welpen bemerkte. Syrinx war ganz weiß und winzig, mit dem Temperament eines Terriers.

    Mein Vater hatte sich die beiden wohlwollend angesehen, einen Kunstband vorgeholt, auf die Abbildung eines Gemäldes von Peter Paul Rubens und Jan Bruegel gezeigt, auf dem der Gott Pan die Nymphe Syrinx jagt, und gefragt, ob wir die Hunde so nennen wollen. Seiner Meinung nach könnte es nicht besser passen. Damit es keine erotische Jagd werden würde wie auf dem Bild, wurde die Hündin kastriert. Jetzt lag nachts Pan immer etwas träge neben meinem Bett, während Syrinx mal hier und mal da lag und bei jedem neuen Geräusch im Haus sofort zu bellen anfing.

    Als ich erwachte, war es draußen schon dunkel. Mir war, als hätte ich die gesamten schlaflosen Nächte seit Niclas’ Geburt nachgeholt. Die Tür des Schlafzimmers stand offen, ich sah meine Eltern in der Küche sitzen. Mutter gab Niclas gerade das Fläschchen. Was für ein schönes Paar, dachte ich. Sie sahen beide noch so jung aus, als wäre Niclas ihr Baby. Oma und Opa, das passte wirklich nicht zu ihnen, und deshalb hatten wir uns auch geeinigt, genau wie ich es schon seit Jahren tat, sollte Niclas, wenn er erst mal sprechen konnte, auch Franziska und Konstantin zu ihnen sagen.

    Später kläffte Syrinx, als die Türglocke läutete. Robert Hagedorn stand mit einem Blumenstrauß vor der Tür.

    »Besuch für dich, Emi!«, rief Franziska.

    Ich war hastig aus dem Bett gesprungen und in Hemd und Unterhose auf den Flur gerannt.

    »Es tut mir leid, wegen der blöden Frage heute Morgen. Vergiss es bitte«, stammelte Robert.

    Der sonst eher verschlossene Robert verstand sich auf Anhieb gut mit Konstantin, mit dem er noch am selben Abend in dem Laden im Erdgeschoss verschwand. Mein Vater war völlig von den Socken, dass es jemanden gab, der noch viel mehr über Kunst wusste, als er selbst. Aber so war Robert. Wenn ihn etwas interessierte, wollte er am liebsten alles darüber wissen. Franziska fand Robert gutaussehend, besonders geschmackvoll gekleidet. Und er hätte Benehmen, was auch nicht mehr selbstverständlich wäre in der heutigen Zeit.

    Am Abend darauf besuchten wir alle gemeinsam das Osterfeuer. Treffpunkt war wie immer ›dort, wo die Wege sich kreuzen‹. Mit dem selbst gemachten Eierlikör von Helga hielt ich mich absichtlich zurück. Im Schein des Feuers fand ich Robert noch schöner. Später wiederholte sich das Ritual von neulich. Wieder genoss ich Roberts intensiven Blick, nur das Licht war wärmer. Ich registrierte die dunkelroten Wände meiner eigenen Wohnung, das blaue Bettzeug auf dem dunklen Dielenboden, den Mond, der durch das gardinenlose Fenster schien und den langgliedrigen Körper von Robert. Morgens schrie Niclas nach mir und wollte sein Fläschchen. Nachdem ich ihn aus dem Himmelbett genommen hatte, gab ich ihn Robert auf den Arm. Der schaukelte den Kleinen hin und her und wirkte schier verzweifelt, als das Geschrei immer lauter wurde.

    In den darauffolgenden Wochen kam Robert immer vorbei, wenn er Zeit fand. Egal, ob Robert Tintenfische flambierte oder Spaghetti kochte, ob er ein Frühstücksei mit einem Hieb durchschlug oder mit seinen Händen über meinen Körper glitt, was er tat, das zelebrierte er irgendwie. Nach etwas Gelungenem streckte er meist die linke Faust vor, den Zeigefinger nach vorne gerichtet und den Daumen nach oben. Es hätte ein ›Peng‹ gefehlt, aber er sagte nichts, sondern setzte seinen kühlen, etwas überheblichen Robert-Hagedorn-Blick auf.

    In finanziell rosigeren Zeiten hatte ich mal einen gebrauchten Käfer erstanden. Als ich das Auto gesehen hatte, musste ich es einfach haben, auch ohne einen Führerschein zu besitzen. Seitdem stand es die ganze Zeit bei Freunden im Schuppen rum. Jetzt fuhr Robert uns damit in der Gegend umher. Meist nahm er die Kiste einfach mit. Mir war es egal, wo er damit hinfuhr. Beim Kinderarzt hatten sie uns drei für eine nette kleine Familie gehalten, aber ich wusste es besser. Robert hatte mir unmissverständlich klargemacht, dass so was wie Familie für ihn nicht in Frage käme. Er wäre gerade dabei, sich von den überholten, verkrusteten Strukturen seines Elternhauses zu befreien. Mit dieser ehrlichen Aussage konnte ich etwas anfangen. Ich liebte Direktheit, auch wenn sie wehtat, und hasste verlogenes Getue und Gequatsche, genoss Roberts intensiven Blick beim Sex, die Tatsache, dass er einen Führerschein besaß, seine gelegentliche Kritik an meiner Person, besonders wenn es darum ging, dass er mich für völlig unpolitisch hielt, und fand es gut, dass er mir Distanz gewährte und nicht zu sehr in mein Leben eindrang. Trotzdem gab er mir viel und kümmerte sich ab und zu liebevoll um Niclas.

    Manchmal empfand ich eine starke Verbundenheit oder gar Liebe für Robert. Ich glaubte sogar, dass er meine Gefühle erwiderte. Dann hatte Robert einen Blick drauf, der wie eine Aufforderung auf mich wirkte, auf die Straße laufen zu müssen, um irgendetwas anzuzünden. Ständig fragte ich mich, was hinter Roberts Brandstifterblick für Gedanken steckten. So nah kam ich ihm zu der Zeit aber nicht, dass ich das erfuhr.

    Kapitel 2

    Der Sommer 1975 sollte einiges in meinem Leben verändern. Endlich besaß ich einen Führerschein, was mich aber nicht davon abhielt, mich gelegentlich noch von Robert umherkutschieren zu lassen. Niclas, der Wonneproppen im Hause Weber, kommunizierte nun fleißig mit seiner Umwelt und konnte bereits alleine sitzen. Seine Krabbelversuche schlugen zwar noch fehl, aber er hatte eine Taktik entwickelt, sich so geschickt auf dem Boden umherzurollen, dass er beinah überall hinkam, wo er hinwollte. Es war anstrengender geworden mit ihm, man konnte ihn kaum noch aus den Augen lassen. In einem Monat würde meine Ausbildung beginnen, und dann bräuchte ich meine Mutter für Niclas. Meine Mutter hatte zwar süßsauer gelächelt und ›Ja‹ gesagt, aber ich wusste, wie schwer ihr die Zusage gefallen war. Franziska hatte jahrelang ihre eigene Mutter gepflegt, meine Großmutter, die auch Emilia hieß. Dann war Oma in demselben Jahr gestorben wie ihre Tochter Dorothea, meine Tante, Franziskas Schwester. Jetzt erst hatte sich meine Mutter langsam davon erholt, und eigentlich hatte sie vorgehabt, eine ›Verkaufsecke‹ für Edelsteine in dem Laden einzurichten. Franziska war überzeugt davon, Edelsteine würden nicht nur wunderschön aussehen, sondern auch große Kräfte besitzen. Sie hatte Seminare zu dem Thema besucht und viele Bücher gelesen.

    Aber wenn man schon mal an sich selbst dachte. Es tat mir leid – wegen Franziska, aber Niclas brauchte eine Mutter mit einer Berufsausbildung. Es wäre ja nur für kurze Zeit, dann käme er in die Tagesstätte.

    Ich war sehr verwundert, als Konstantin mir vorschlug, mit Robert mal ein paar Tage wegzufahren. Sie würden schon auf Niclas aufpassen. So könnte er Franziska mal zeigen, wie wunderbar sich ein Kleinkind in das Berufsleben integrieren ließ. Wie konnte ich nein sagen zu diesem verlockenden Angebot? Robert tauschte für die Fahrt meinen Käfer gegen den VW-Bus von Helga und Paul ein. Der Bus war hinten perfekt ausgebaut, mit einem Bett, auf dem man kuschelig in weichen Fellen lag. Decken und Kissen gab es in mehrfacher Ausführung, schmal, rund, eckig, die Bezüge von Helga selbst genäht. Paul hatte überall Kästen und Fächer eingebaut, die die unterschiedlichsten Sachen beherbergten: Küchenutensilien, ein Mikroskop, Bälle, Spiele, Klopapier und auch sonst alles Mögliche. Man konnte die Vorhänge an den Fenstern zuziehen, sie waren weiß mit gelb-blauen Zauberern drauf. Wir fuhren bei Timmendorf an die Ostsee und zogen von dort ein Stück die Küste hoch. Ein Fach unter dem Bett enthielt flaschenweise Spirituosen, was für mich ein abstinentes Reisen von Anfang an unmöglich machte. Leider war ich die meiste Zeit leicht betrunken und empfand deswegen eine tiefe Scham. Was ich tat, gehörte sich nicht. Schon gar nicht für eine erwachsene Frau mit Kind, fand ich.

    Mir kamen Zweifel, ob ich mich jemals ändern könnte, dann wieder versuchte ich mich zu beruhigen, indem ich mir immer wieder selbst versicherte, ich hätte nie ernsthafte Alkoholprobleme gehabt. Allein Zuhause würde ich mich niemals volllaufen lassen, aber immer wenn sich mir in Gesellschaft die Gelegenheit dazu bot, trank ich zu viel, und es war wie eine Sucht, umher zu flippen und hemmungslose Sachen zu machen. So rannte ich zum Beispiel völlig nackt am Strand herum und provozierte damit die Leute. Ich fand, alle sollten so rumlaufen und endlich ihre blöde Verklemmtheit ablegen. Guckten die Männer mir hinterher, stritten ihre Frauen deswegen mit ihnen und zusammen taten sie ihren Kindern gegenüber so, als wäre was falsch daran, nackt zu sein. Dabei hatten Kinder eine völlig gesunde Einstellung zu ihrem Körper. Ich trat damit in viele Fettnäpfchen. Wäre der Alkohol nicht gewesen … Aber egal, beruhigte ich mich, am Strand würde mich ja niemand kennen. Nur noch dieses eine Mal, dann wollte ich für immer damit aufhören. Robert genoss das anscheinend, obwohl er selbst nie seine kühle Zurückhaltung verlor.

    Robert machte mit meinem Fotoapparat eine Menge Fotos von mir: ich, nackt in der wellenlosen Ostsee, mit einer Qualle auf dem Kopf, ohne Qualle nackt, nass und nackt im Sand, im Bus, auf den Dünen …

    Obwohl Robert der Fotograf war, gab es auch jede Menge Fotos von ihm. Auf allen war er nackt. Allerdings ließ er sich nur an verborgenen Orten fotografieren. Ich fand, er war das perfekte Modell, nur die Orte mussten für fremde Augen nicht zu sehen sein, dann präsentierte er sich gern.

    Auf dem Rückweg legten wir einen Stopp in Hamburg ein. Dabei tönte ich rum, wie sehr ich Hamburg mögen würde und dass es ›meine‹ Stadt wäre. Früher hatte ich in den Ferien oft meine Tante Gertrud dort besucht. Als ich fünfzehn war, war ich meiner Tante nachts heimlich abgehauen und auf die Reeperbahn gefahren. Ich fand es schon immer aufregend, etwas zu machen, was meine Eltern nie erlaubt hätten und was mir sehr gefährlich vorkam. Dabei war mir nichts Schlimmes passiert und ich hatte meine heimlichen, nächtlichen Ausflüge in den folgenden Ferien öfter wiederholt.

    Wir parkten den Bus auf einem Parkplatz unten an den Landungsbrücken. Ich gab mir besonders viel Mühe mit meinem Äußeren, drehte und wand mich vor dem langen, schmalen Spiegel im Innern des Busses. Leider sah man sich nicht ganz in dem Spiegel. Wahrscheinlich sah ich gut aus in dem knappen schwarzen Rock und den hohen Stiefeln. An dem Abend war es etwas frisch draußen und deshalb stülpte ich mir noch einen hüftlangen Wollponcho über das kleine rückenfreie Hemdchen. Natürlich war alles schwarz, ich trug nun mal gern schwarz. Das passte zu mir. Auch meine leuchtend blauen Augen umrandete ich schwarz. Das harmonierte mit meinen schwarzen Locken und dem blassen, sommersprossigen Teint, der jetzt von der Sonne leicht gebräunt war.

    »Nicht die Lippen«, meinte Robert, der mich während der ganzen Zeit beobachtet hatte, »es reicht an Schminke, du siehst auch so traumhaft schön aus.«

    Robert trug mal wieder Jeans und Hemd von einer teuren Markenfirma. Seine langen blonden Haare hatte er in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Zopf geflochten. Robert war auf eine zurückhaltende Art eitel und ein wahnsinnig gut aussehender Mann. Er lächelte verstohlen, als ich ihm das sagte.

    Ich fühlte mich so, als würde ich mich auf der Reeperbahn auskennen, dabei war ich das erste Mal in dieser Diskothek, in der ich mit Robert gelandet war. Nach dem zweiten Drink tanzte ich sofort, während Robert das machte, was er am liebsten tat: Menschen beobachten.

    Nach einer ganzen Weile und dem vierten Drink sah ich, wie Robert sich mit einer sehr jungen Frau unterhielt. Die Musik war laut, und im Flackerlicht sah ich die beiden da stehen. Ich ging auf Robert zu und küsste ihn provokativ. Dann schrie ich der Frau ins Ohr, so dass er es auch hören musste.

    »Er gehört mir zwar nicht, aber wenn du ihn haben willst!«

    Robert brüllte mich an: »Hör auf mit dem Blödsinn!«

    Die junge Frau warf mir einen wütenden Blick zu, bevor sie sich auf die Tanzfläche begab. Sie war ein kleines, zartes Geschöpf mit Schmollmund und einem äußerst puppenhaften Äußeren. Eigentlich so gar nicht Roberts Typ.

    Warum starrte er sie dann so an?

    An der Bar genehmigte ich mir noch einige Drinks. Wieder stand die junge Frau neben Robert. Ich schätzte ihr Alter auf höchstens siebzehn und entschloss mich, die Kleine ›Puppe‹ zu nennen. Das war zwar albern, aber der einzige Begriff, der mir dazu einfiel.

    »Puppe, lass dich mal von ihm fotografieren!«, brüllte ich ihr ins Ohr. »Er macht super Fotos!«

    »Ist er Fotograf?«, fragte die Puppe.

    »Und was für einer!«, schrie ich.

    »Bezahlt er für die Fotos?«, wollte sie wissen.

    »Frag ihn doch selber!«

    Inzwischen war mir das Ganze zu blöd. Er wollte keine Familie, also waren wir frei. Warum sollte Robert dann nicht mit anderen Frauen neben mir zusammen sein? Mit so vielen und so lange und so oft er nur wollte. Und ich auch. Mit so vielen anderen Männern, wie ich nur wollte. Alles in mir sträubte sich gegen diese Vorstellung, aber es war die ehrliche Version von dem, was bisher zwischen uns gelaufen war. Wir brauchten nicht mehr so zu tun, als würde sich aus unserer Beziehung noch mal was Ernstes entwickeln.

    Während ich Robert umarmte, schrie ich ihm ins Ohr: »Ich gehe dann mal, wir treffen uns hier oder am Auto!«

    »Spinnst du«, brüllte er zurück. »Wo willst du denn jetzt so alleine hin!?«

    Kapitel 3

    Schnell, mit großen Schritten, war ich nach draußen gestürmt. In der frischen Luft merkte ich erst, wie betrunken ich war. Es gab da einen Himmel über mir. Trotz des klaren, frischen Sommerabends vermisste ich die Sterne. Ich glaubte, mich dort auszukennen, aber plötzlich kam mir das alles sehr unbekannt vor und ich schlug einfach eine Richtung ein, irgendwo würde ich schon rauskommen. Ich wusste ja noch nicht einmal, wo ich hinwollte.

    Erst kam da ein versteckter Winkel zwischen zwei Häuserfronten, als aber einige betrunkene Männer die Straße entlang kamen, entschloss ich mich, doch nicht dort zu pinkeln, sondern noch ein Stück weiter zu gehen. Ich merkte, dass ich leicht torkelte. Endlich fand ich eine Bar ohne Türsteher davor. Drinnen herrschte so eine plüschige Atmosphäre und die üblichen Figuren saßen an der Theke. Ich wollte nichts trinken, suchte nur das Klo. Ich ging in den Vorraum, von dort führte ein schmaler Gang zu einer Treppe, die runter zu den Toiletten führte. Auf dem Weg dorthin begegneten mir zwei Personen, die sich lebhaft unterhielten. Um die Treppen herunter zu kommen, brauchte ich das Geländer. Die meisten Türen von den Toilettenkabinen ließen sich nicht abschließen, und so versuchte ich, mit der Hand die Tür zuzuhalten, als ich in der Hocke über dem Klo pinkelte. Auf solche Klos setzte ich mich nie, wer weiß, wer da vorher drauf gesessen hatte. Draußen hörte ich Schritte, zielsichere Schritte.

    Mit voller Wucht stießen zwei Männer die Tür meiner Kabine auf. Einer der beiden fasste mich mit einem schmerzhaften Griff, der so fest war, dass mir sofort klar wurde, wie ernst es war, ins Genick und presste meinen Kopf nach unten, gegen die Kabinenwand. Der andere zerrte meinen Rock hoch und zerriss die Unterhose. Er griff in meine Lenden und schob sein Glied in meine Scheide. Es wurde immer heftiger. Der Andere machte die Bewegung mit, mein Kopf schlug, genauso rhythmisch wie schmerzhaft, gegen die Wand. Es kam mir sinnlos vor, zu schreien. Ein Überfall! Ich hatte schon mal eine ähnliche Situation überlebt, weil ich nicht geschrien hatte.

    Vernünftig sein, dachte ich, keinen Fehler machen. Sie werden gehen, wenn es vorbei ist.

    Er war brutal mit seinen Händen und es hörte erst auf, als er, qualvoll für mich, in die hintere Öffnung meines schmalen Körpers eingedrungen war.

    Hoffentlich gehen sie einfach so.

    Ich hielt meinen Kopf extra nach unten, um zu demonstrieren, dass ich die Personen nicht gesehen hatte. Kühl bleiben. Nichts Hysterisches. Zumindest den Einen hatte ich genau gesehen, aber das brauchten sie nicht zu wissen.

    Sie zerrten mich an den Haaren hoch. Mit einem Ruck wurde der Poncho nach unten gezogen, er saß jetzt wie ein zweiter Rock auf meinen Hüften. Ich zitterte, aber nicht, weil mir kalt war. Sie rissen die Kabinentür auf und führten mich, von beiden Seiten untergehakt, die Treppe hoch. Ein Mann kam die Treppe runter und guckte uninteressiert.

    Nicht schreien! Ist es hier normal, was gerade passiert?

    Sicher war ich das Opfer einer Verwechslung geworden. Schwarze Hose, schwarze Schuhe, rechts von mir der Mann. Groß, stabil. Lederjacke. Normal aussehend. Ein ehemaliger Nachbar von uns fiel mir ein, der hatte Ähnlichkeit mit ihm.

    Wo wollten sie mit mir hin? Bekam ich überhaupt noch mal die Möglichkeit, das jemandem zu erzählen, oder wollten sie mich töten? Quatsch, das sind Scheißwichser, die Vergewaltigung spielen, beruhigte ich mich. Ich musste meine Rolle weiterspielen, welche Wahl blieb mir sonst noch?

    Die Tür, die Straße, Autos, Menschen. Niemand schien sich zu wundern. Für einen Augenblick glaubte ich, Robert zwischen den Menschen erkannt zu haben.

    »Hau bloß ab hier!«, rief ich ihm in Gedanken zu. Ein Wunsch, das alles. Der Wunsch, Robert zu sehen. Ich bekam Angst um ihn. Er durfte sich nicht einmischen. Hoffnung war jetzt das Zauberwort.

    Sie zerrten mich zu einem Auto. Ein Reflex, ich wollte nicht einsteigen. Wie eine Reisetasche schob man mich auf die Rückbank. Eine Hand in meinen Locken drückte meinen Kopf an die Lehne des Vordersitzes. Turnschuhe und Jeans. Die schwarze Hose und die schwarzen Schuhe fuhren. Ich saß mit meinem Vergewaltiger auf der Rücksitzbank des Autos. Was hatten sie mit mir vor? Warum war´s das noch nicht gewesen? Ich musste ruhig bleiben. Niclas brauchte mich, ich musste ihn wieder sehen. Was mit mir passierte, war egal, Hauptsache, ich kam wieder nach Hause.

    Welche Sprache sprachen diese Männer? Wer waren sie?

    Am besten, ich würde es nie erfahren und sie würden mich einfach gehen lassen. Es gab ja Menschen, die mich gesehen hatten, also würden sie mich nicht einfach umbringen.

    Ruhe bewahren, das Spiel mitspielen.

    Das Auto hielt. Jetzt spürte ich den Zangengriff an meinem Arm. Raus aus dem Auto. Einen kurzen Schlag aufs Dach. Das Auto war schwarz, wie die Hose und die Schuhe, und fuhr weiter. Ich vermied, den Mann direkt anzusehen, aber er sah aus wie ein Durchschnittssportler. Vielleicht konnte er aggressiv aussehen, wenn er ein Spiel verlor. Aber nicht so, nicht im wirklichen Leben.

    Er schloss das Tor eines eingezäunten Grundstücks auf, ich stand frei neben ihm. Für einen kurzen Augenblick dachte ich an Weglaufen.

    Der Griff am Oberarm. Das Tor wurde von innen verschlossen. Von einer kräftigen Hand, ein Silberring am Mittelfinger. Wieder eine Tür und ein Schlüssel. Ich wurde jetzt nur noch geführt, nicht gezerrt. Wie ein willenloses Lamm, dachte ich.

    Von drinnen sah das Haus aus wie eine Schule. Ein langer Flur mit Türen. Der Sportler öffnete eine Tür. Es gab hier offensichtlich noch andere Menschen, was mich etwas beruhigte. In Etagenbetten schliefen junge Männer. Einer war wach, machte sich hoch und gab dem Sportler einen Schlüssel.

    »Verschwinde rechtzeitig mit ihr von hier«, flüsterte er, »du bist ja völlig wahnsinnig.«

    Der Sportler schloss eine der Türen auf, ging mit mir in den Raum und knipste eine Stehlampe an. Die Wände des Zimmers waren weiß, ein Bett vor der Wand, ein Tischchen mit einem Sessel davor. Das Bett war mit einer Überdecke abgedeckt, blau mit groß gemusterten Mohnblumen, currygelbe Vorhänge vor den Fenstern.

    Es war nur ein Knopf an dem Hemdchen, der in meinem schmerzenden Genick zu öffnen war. Er sprach meine Sprache. Keine unsympathische Stimme sagte zu mir auf Hochdeutsch: »Zieh den Rock und die Stiefel aus!«

    Was sollte ich machen? Ich benahm mich weiterhin wie ein Lämmchen.

    Er hatte eine extrem sportliche Figur und ein unauffälliges, etwas kantiges Gesicht. Die Adern an seinen Armen waren deutlich auf seinen Muskeln zu sehen. Eine silberne Uhr am Handgelenk, mit silbernem Armband. Er sah nicht aggressiv aus, wie nach einem verlorenen Spiel, aber sein Gesicht zeigte auch nicht, dass ihm das Spiel besonders viel Spaß machte. Ich empfand keine Scham, keine Wut und auch sonst nichts. War nur erschrocken über meine Gefühllosigkeit und meine Kälte. Ab und zu rammte er mir mit voller Wucht das Knie in den Schambereich. Dann sah er aus, als hätte er das Spiel verloren. Er zog mich heftig an den Haaren, ich versuchte in Panik,

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