Im Garten der Zeit: Leben mit dem Schöpferischen
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Der Garten ist ein begrenzter Ort im Freien, von Menschen gestaltet und gepflegt: ein Ort von Kultur und Natur. Könnte es solche "Orte" der Zeit geben, so wie es in der Natur Gärten als Orte des lieblichen Zusammenwirkens mit dem Menschen gibt? Welchen Sinn können wir den Worten "Im Garten der Zeit" verleihen?
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Book preview
Im Garten der Zeit - Jean-Claude Lin
Der Garten ist ein begrenzter Ort im Freien, von Menschen gestaltet und gepflegt: ein Ort von Kultur und Natur. Aber anders als bei einer Landschaft, die auch von Menschen geprägt sein kann, ist der Garten viel stärker begrenzt, ja meist umzäunt, ummauert oder von einer Hecke umhegt. Vielleicht hat es nie einen Garten gegeben, außer dem Garten Eden, der nicht in wenigen Stunden «umgehbar» war. Könnte es aber solche «Orte» der Zeit geben, so wie es in der Natur Gärten als Orte des lieblichen Zusammenwirkens mit dem Menschen gibt? In einen Garten können wir immer wieder eintreten und darin spazieren gehen. Zu einer Epoche unseres Lebens oder der Geschichte können wir nicht in gleicher Weise zurückkehren und uns darin bewegen. Unser Leben auf dieser Erde ist geprägt durch Unwiederbringliches. «Alle Morgen der Welt sind ohne Wiederkehr», wie es in dem von Musik so durchzogenen Roman des französischen Schriftstellers Pascal Quinard heißt. Vor Jahren erschien die deutsche Ausgabe des Buches wie auch der Film mit Gérard Depardieu unter dem Titel Die siebente Saite, weil er von einem Gambenspieler, Monsieur de Sainte-Colombe, aus der Barockzeit erzählt, der so tief von Trauer für seine verstorbene Frau erfüllt war, dass er eine noch tiefere, siebente Saite an seiner Viola da Gamba anbrachte, um seinen Schmerz in der Musik noch stärker zum Ausdruck zu bringen und so zu verwandeln. Ein Garten aber ist ein lieblicher Ort:
Im Garten wandelt hohe Mittagszeit,
der Rasen glänzt, die Wipfel schatten breit;
von oben sieht, getaucht in Sonnenschein
und leuchtend Blau, der alte Dom herein.
So beschrieb es einmal der Dichter Emanuel Geibel in der ersten Strophe seines Gedichtes Mittagszauber. Es breitet sich nicht nur im «Sonnenschein und leuchtend Blau» Himmlisches in diesem Garten aus, sondern durch den alten Dom ragt auch etwas von einer anderen Zeit herein. Raum und Zeit verdichten sich noch inniglicher in der Anwesenheit eines vertrauten, geliebten Menschen:
Am Birnbaum sitzt mein Töchterchen im Gras,
die Märchen liest sie, die als Kind ich las;
ihr Antlitz glüht, es ziehn durch ihren Sinn
Schneewittchen, Däumling, Schlangenkönigin.
Nun öffnet sich der Garten für die ganze Welt der Märchen – im Antlitz der Tochter spürt der Dichter, wie sie die mannigfaltigen Märchenabenteuer durchlebt, erleidet und besiegt. Die Zeit scheint stillzustehen, macht sich aber durch Mensch und Natur doch noch in besonderer Weise bemerkbar:
Kein Laut von außen stört; ’s ist Feiertag –
nur dann und wann vom Turm ein Glockenschlag!
Nur dann und wann der mattgedämpfte Schall
im hohen Gras von eines Apfels Fall!
Wo aber befindet sich nun der am 17. Oktober 1815 in Lübeck geborene Dichter, der am 6. April 1884 nach verschiedenen Aufenthalten in Berlin, Athen und München ebenfalls in Lübeck starb und dessen Gedichte zu den meistvertonten deutschsprachigen Dichtungen gehören? Für ihn weitet sich dieser Aufenthalt in einem Garten zu einer Reise in die Zeit:
Da kommt auf mich ein Dämmern wunderbar,
gleich wie im Traum verschmilzt, was ist und war:
die Seele löst sich und verliert sich weit
ins Märchenreich der eignen Kinderzeit.
Es ist die verflossene Zeit seiner eigenen Kindheit, die ihm im Garten wieder so intensiv bewusst wird, so wie wir ganz mit dem Geschehen eines Traums verschmelzen können. Und wenn wir uns die Frage stellen: In welcher Welt wollen wir leben? – dann müssen wir, auf unser Herz horchend wie auf den Glockenschlag vom Turm oder den dumpfen Schall des ins Gras fallenden Apfels, erwidern: Ja, auch in einer solchen Welt möchte ich leben, in der die Vergangenheit, wie alles Zeitliche, nicht gänzlich unwiederbringlich bleibt, in der die Zeit, wenn auch nur für Momente, wie still stehen bleibt und wir uns darin wie im lieblichen Garten aufhalten können.
In der Musik können wir dies seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts, aber im Laufe des 20. Jahrhunderts in besonderem Maße tun. Noch nie war es den Menschen in solchem Umfang möglich, die Musik so verschiedener Zeiten und Kulturen zu hören wie in unserer Zeit. In früheren Epochen hörten die Menschen, wenn überhaupt, nur die Musik ihrer eigenen Zeit und Kultur. Heute können wir uns in die Gefühlswelt des Barock, der Klassik, der Romantik, der Moderne, aber auch der Renaissance sowie aller Arten von Musikrichtungen wie Jazz, Pop, Rock, Punk oder wie sie alle heißen und ganz anderer Kulturen vertiefen. Vielleicht kann man sogar sagen: Wie Christoph Columbus und andere Weltentdecker den Erdenraum als Ganzes für alle Menschen erschlossen haben, so erschließen wir uns die Zeit durch die Musik. Man braucht nur ein altes Lied aus der eigenen Jugend zu hören, Lay Lady Lay etwa von Bob Dylan, um sich gleich in diese Zeit zurückversetzt zu fühlen.
Vielleicht ist es die Kunst und das künstlerische Moment überhaupt in allem unserem Tun als Menschen, die das Unerbittliche der vorbeieilenden Zeit aufheben und für uns bewohnbar machen, sodass wir uns darin beheimatet fühlen wie im lieblichen Garten – im Garten der Zeit.
VND Gott der HERR pflantzet einen Garten in Eden / gegen dem morgen / vnd setzet den Menschen drein / den er gemacht hatte.
Vnd Gott der HERR lies auffwachsen aus der Erden allerley Bewme / lüstig an zusehen / vnd gut zu essen / Vnd den Bawm des Lebens mitten im Garten / vnd den Bawm des Erkentnis gutes vnd böses.
Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht. D. Martin Luther, 1545.
Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe.
Hrsg. von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke.
Rogner & Bernhard, München 1972. Mose, I. Buch C. II, Verse 8 – 9.
WAS IST ZEIT?
Vom Umgang mit einer unbekannten Größe
von Valentin Wember
«Ich habe keine Zeit.» – Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz schon gesagt habe. Sicher unzählige Male und in verschiedenen Variationen:
«Ich habe jetzt gerade keine Zeit.»
«Ich habe dafür keine Zeit.»
«Mir hat die Zeit nicht mehr gereicht.»
«Ich würde es gerne machen, aber mir fehlt leider die Zeit.»
«Die Zeit war viel zu knapp.»
«Ich hätte gern mehr Zeit für dieses und jenes.»
«Diese Aufgabe raubt mir meine wenige Zeit.»
«Ich habe leider Zeit verschwendet.»
Die Zeit scheint in meiner Vorstellungsweise etwas zu sein, was man haben kann, was aber knapp ist. Eine Art unsichtbarer Rohstoff, von dem aber nicht genug vorhanden ist.
Der Arzt Olaf Dekkers hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass die Zeit dann ein Rohstoff wäre, der außerordentlich demokratisch über die Welt verteilt sei. Jeder Mensch habe davon gleich viel, nämlich 24 Stunden pro Tag. Von welchem anderen Rohstoff könnte man schon sagen, dass er an alle Menschen auf der Erde derart gleich verteilt sei?
Das klingt amüsant, aber es stimmt natürlich nicht ganz. Erstens werden nicht alle Menschen gleich alt, und zweitens scheinen die Menschen den Stoff «Zeit» unterschiedlich stark zu benötigen. Die einen haben davon reichlich, die anderen ständig zu wenig. Vor allem