Wer ist schon alt?: Eine Kulturgeschichte des Alterns
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Kulturgeschichte des Alterns. Sie zeigen, wie sich unsere Einstellungen zu den Alten und die Selbstbilder der heute manchmal zu "golden agers" verklärten Generation über die Jahrhunderte veränderten. Das Thema ist von aktueller Brisanz: Angesichts der seit einigen Jahren prophezeiten "Vergreisung der Gesellschaft" und den für manchen sich daraus ergebenden "Sorgen" wird das Alter auf seine Potentiale hin untersucht - und festgestellt: Das Alter hat in der Geschichte viele Gesichter gehabt und wird heute als immer vielschichtigere Lebensphase erkannt.
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Book preview
Wer ist schon alt? - Juliane Haubold-Stolle
Anmerkungen
Einleitung
Das Alter als Lebensphase gewinnt zunehmend an sozialpolitischer Bedeutung. Die Menschen in Deutschland werden immer älter, immer weniger Menschen werden geboren. Vor 100 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei 46,4 und für Frauen bei 52,5 Jahren. Heute kann ein neugeborener Junge mit über 80, ein neugeborenes Mädchen mit rund 90 Jahren rechnen. Somit hat sich die Lebenserwartung in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt. Immer mehr Menschen werden 90 oder 100 Jahre alt. Deshalb wird sich die Gruppe der über 80-Jährigen in den nächsten 50 Jahren verdreifachen, von heute 3,2 Millionen (3,9 Prozent der Bevölkerung) auf 9,1 Millionen (12,1 Prozent). Die Gruppe der über 100-Jährigen wird ähnlich schnell wachsen von heute rund 10.000 auf über 114.000 im Jahr 2050.
Dass Deutschland altert, zeigt eine andere Tatsache sehr anschaulich: Mittlerweile ist die Pflegebranche zu einem der wichtigsten Zweige der deutschen Wirtschaft aufgestiegen. In der Branche arbeiten inzwischen mehr Menschen als in der Auto- oder der Elektroindustrie sowie im Maschinenbau. Nach einer Studie der TU Darmstadt von 2010 beschäftigte die Pflegebranche hierzulande 1,12 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In der Autoindustrie waren es 749.000 Beschäftigte. ¹
Das Alter und die Alten sind in den letzten Jahren in der Bundesrepublik zu einem Reizthema geworden. Die Schlussfolgerungen, die aus dem demografischen Wandel gezogen werden, bestimmen die politischen Debatten, insbesondere über die Zukunft des Sozialsystems. Heftig umstritten waren beispielsweise die radikalen Vorschläge des ehemaligen Bundesvorsitzenden der Jungen Union (JU), Philipp Mißfelder, in der Debatte um die Reform der Sozialsysteme. Mißfelder verlangte 2003, die Leistungen der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung müssten auf eine reine Grundversorgung zurückgeschnitten werden. Im Berliner Tagesspiegel erläuterte er, weshalb künstliche Hüftgelenke für sehr alte Menschen nicht mehr auf Kosten der Solidargemeinschaft finanziert werden sollten. Mißfelder glaubte, dass das Prinzip des solidarischen Generationenvertrags längst zu einem „Generationenverrat verkommen sei. Die Sozialsysteme bürdeten den jungen Generationen einseitig die Lasten auf. Die luxuriöse Versorgung der Alten könne man sich heute nicht mehr leisten, weshalb sich Mißfelder für eine deutliche Einschränkung der Leistungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung aussprach: Die Sozialsysteme seien schließlich „nicht dafür zuständig, dass jeder Senior fit für einen Rentner-Adventure-Urlaub
sei. „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen", sagte der damalige Nachwuchspolitiker. Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen, erklärte er. ²
Frank Schirrmachers Buch „Das Methusalem-Komplott, ein Bestseller aus dem Jahr 2004, zeichnete ein ähnlich negatives Bild von der alternden Gesellschaft. Seine Hauptthese: Es werde bald zu einem Altersrassismus kommen, der das gesellschaftliche Miteinander belaste: „Die heute jungen Männer und Frauen, die später die vielen Alten werden, haben deshalb jetzt eine historische Chance: Sie müssen – schon aus Überlebensinstinkt – gegen die Diskriminierung des Alters vorgehen. Tun sie es nicht, werden sie in dreißig Jahren in die seelische Sklaverei gehen.
Der FAZ-Herausgeber mobilisiere mit seinem Plädoyer jedoch „mittelalterliche Totentänze und martialische Kriegsrhetorik, um dröhnend und raunend den bevorstehenden „Krieg der Generationen
anzukündigen, schrieb ein Rezensent in der Süddeutschen Zeitung. ³
Zahlreiche weitere Belege aus den Medien ließen sich anführen, um dem Phänomen „Alter" den Stellenwert eines Top-Themas zuzuweisen und tatsächlich zu glauben, dass es sich hierbei um eine der großen Herausforderungen der Zukunft handelt. Dabei relativiert die historische Perspektive einiges an Brisanz: Die Beschäftigung mit dem Alter über die Jahrhunderte hinweg ergibt, dass die Einstellung zu den Alten immer problematisch war, dass diese immer auch von den wirtschaftlichen Umständen einer Gesellschaft abhingen und von dem Gedanken der Produktivität der Alten getrieben war – früher noch viel stärker als heute, wo Sozialsysteme, trotz aller Reformnotwendigkeit, den Aufwand der Versorgung der Alten für die Familien abfedern. Insgesamt wird mit der Debatte deutlich, wie sehr die Einstellungen gegenüber Alten ein Spiegelbild des Wohlstands sowie ethischer Standards einer Gesellschaft sind. Das Altern ist somit nicht bloß als biologischer Prozess zu betrachten. Altern ist vielmehr sozial konstruiert und im gesellschaftlichen Kontext zu sehen – und abhängig von der historischen Gemengelage.
Vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften wird das Altern heute untersucht und die individuellen und subjektiven Erfahrungen der Alten in den Mittelpunkt gestellt. Fragen wie das Altern erlebt und verarbeitet wird, wie das Leben der Alten lebenswert und selbstbestimmt gestaltet werden kann, werden gestellt. Viele Autorinnen und Autoren machen auch deutlich, welchen Innovationsimpuls die Alten einer Gesellschaft geben können oder wie notwendig sie sind – beispielsweise bei der Kinderbetreuung – um überhaupt den jüngeren Generationen, vor allem den Frauen, das Arbeiten zu erlauben. Aber brauchen wir diese Beweisführung der Nützlichkeit von Alten? Wieso reiben sich viele Menschen heute an den Szenarien einer alternden Gesellschaft?
Der historische Blick macht deutlich: Es gibt Konjunkturen der Altersverehrung, aber auch ausgesprochener Altersfeindschaft, die vor allem durch wirtschaftliche Nöte, Kriege, Seuchen, Hunger ausgelöst wurden, so wie im 16. und 17. Jahrhundert, das als die bislang altersfeindlichste Epoche bezeichnet werden kann, einer Epoche, in der die „unproduktiven Alten" das Überleben der Jüngeren gefährdeten. ⁴ Das Bild der Alten dieser Zeit hatte kaum noch etwas mit der Alterswertschätzung der Antike zu tun, etwa mit den kraftvollen, weisen Greisen, die Cicero idealisierte. Erst die Aufklärung, insbesondere die in dieser Zeit geschriebenen Anstandsbücher, betonten wieder die Ehrerbietung vor den Alten. So ist auch Lessings (1729-1781) Theaterstück ‚Nathan der Weise‘ als Ausdruck eines gewandelten Bildes des alten Menschen in dieser Zeit zu sehen. Die Zivilisierung der Gesellschaft führte im 18. Jahrhundert schließlich zu Pensionssystemen und der Idee des Wohlfahrtsstaates, der insbesondere auch den Alten zugute kam. Zumindest die materielle Absicherung der Alten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wurde zum erklärten Ziel, auch wenn das zunächst kaum erreicht wurde. Erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts kam diese Idee weitgehend zum Tragen, funktionierten die Rentensysteme und konnten die Alten erstmals einen Ruhestand genießen.
Angesichts der heutigen Debatten muss gefragt werden, ob die Errungenschaft des Ruhestands noch aktuell ist – und ob wir uns das jetzige Rentensystem noch leisten und die sich abzeichnende Privatisierung des Systems hinnehmen wollen. Letztlich verbindet sich damit die Frage, ob wir uns wieder in eine Phase der Altersfeindschaft begeben – oder ob die ethischen Standards dieser Gesellschaft ausreichen, um Alte als selbstverständlich akzeptierte Gruppe, die keine Belastung darstellt, zu empfinden. Zu letzterem würde auch gehören, sozial-biologistischen Weltbildern und Apologeten der „Überalterung" Paroli zu bieten. Denn von diesen kulturkritischen Perspektiven ist es nicht weit zu Vorstellungen von der Degeneration des Volkskörpers durch Geburtenrückgang, Individualismus, Geburtenkontrolle, Frauenerwerbstätigkeit. ⁵ Die Vorstellung einer Überalterung der Gesellschaft war schon um 1900 aufgekommen und hatte im Nationalsozialismus zu den überwiegend erfolglosen Versuchen geführt, durch Zulagen und Auszeichnungen, die Geburtenraten zu steigern, weil man den Untergang der Nation fürchtete – ein durch und durch nationalistisches und sozial-biologistisches Motiv, dessen Kern die „arische Volksgemeinschaft" war. Um so verwunderlicher ist es, dass dieser Zusammenhang bis heute sozialpolitische Relevanz hat.
Paradoxerweise stehen alle negativen Szenarien des Alterns und der alternden Gesellschaft letztlich im Gegensatz zu dem großen historischen Projekt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die medizinische Versorgung zu gewährleisten, in Frieden und Gesundheit aufzuwachsen. Jahrhunderte über haben die Menschen dafür gekämpft, alt zu werden. Wo dieser Traum biblischen Alters Realität wird, stellen sich vermehrt Sorgen und Warnungen ein, denn die alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der weniger Kinder geboren werden, der quasi die Jugend verloren geht. Doch hier wird ein unheilvoller Zusammenhang aufgemacht. Nach wie vor macht das Schlagwort der Überalterung der „Deutschen" die Runde, denn bis zum Jahr 2020 soll der Anteil der Alten auf fast 30 Prozent ansteigen. Solche Zahlen taugen jedoch nicht wirklich als Schreckensszenario. Erstens sollte man sich die historischen Wurzeln solchen Denkens vor Augen führen, zweitens leben wir heute in einer Zeit globaler Vernetzung. Die Weltbevölkerung steigt insgesamt dramatisch, die Reproduktion der Menschen ist also nicht in Gefahr. Höhere Zuwanderungsraten in Deutschland ließen das Überalterungsproblem, wenn es denn eines ist, schnell vergessen – man müsste sich nur davon lösen, die deutsche Gesellschaft als Abstammungsgesellschaft auf Blutbasis anzusehen. Außerdem lassen die Szenarien der Überalterung nicht nur den Faktor der Migration außer Acht, sondern auch, dass Geburtenraten wieder steigen können. Die jetzigen demografischen Tendenzen sind also nicht für die Ewigkeit zementiert. ⁶
Wenn das Alter als normaler Zustand menschlicher Existenz ohne die Suggestion der Verderbnis und Zukunftsunfähigkeit wahrgenommen wird, wird es gelingen, die Geschichte des Alterns in ihrem jetzigen Stadium positiv zu deuten. Dieses Buch kann dazu vielleicht einen Beitrag bieten, in