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Fünfzehn Hunde: Eine Fabel
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Fünfzehn Hunde: Eine Fabel

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About this ebook

Es beginnt wie so viele seltsame Geschichten in einer Bar. Die Götter Hermes und Apoll streiten darüber, was geschähe, wenn man Tiere mit menschlicher Intelligenz ausstatten würde. Sie schließen eine Wette ab und geben fünfzehn Hunden, die in einer Tierklinik untergebracht sind, Bewusstsein und Sprache. Die Hunde, plötzlich zu komplexem Denken fähig, entkommen und bilden ein Rudel. Einige von ihnen widerstehen den neuen Möglichkeiten und ziehen ihr altes Hundeleben vor, die anderen nehmen die Veränderung an. Die Götter schauen zu, wie sich die Hunde auf unvertrautes Terrain wagen und sich streiten, während jeder mit neuen Gedanken und Gefühlen kämpft. Der schlaue Benjy zieht von Haus zu Haus, Prince wird ein Dichter, und Majnoun entwickelt eine enge Beziehung zu einem freundlichen Paar, die selbst die Schicksalsgöttinnen in ihrem Tun aufhält.

Faszinierend und voll unerwarteter Einsichten in das Denken von Menschen und Hunden gewährt diese Fabel einen außergewöhnlichen Blick auf die Schönheit und Gefahren des Bewusstseins.

Ausgezeichnet mit dem Giller Prize für den besten kanadischen Roman 2015.

"Ich bin kein Hundeliebhaber, aber als ein Büchermensch liebe ich diese kluge, überschwängliche Fantasie vom Anfang bis zum Ende." [Quelle: The Guardian]
LanguageDeutsch
PublisherFuego
Release dateOct 22, 2016
ISBN9783862871995
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    Book preview

    Fünfzehn Hunde - André Alexis

    Coverbild

    André Alexis

    Fünfzehn Hunde

    Eine Fabel

    Aus dem Englischen von

    Norbert Hofmann

    FUEGO

    - Über dieses Buch -

    Es beginnt wie so viele seltsame Geschichten in einer Bar. Die Götter Hermes und Apoll streiten darüber, was geschähe, wenn man Tiere mit menschlicher Intelligenz ausstatten würde. Sie schließen eine Wette ab und geben fünfzehn Hunden, die in einer Tierklinik untergebracht sind, Bewusstsein und Sprache. Die Hunde, plötzlich zu komplexem Denken fähig, entkommen und bilden ein Rudel. Einige von ihnen widerstehen den neuen Möglichkeiten und ziehen ihr altes Hundeleben vor, die anderen nehmen die Veränderung an. Die Götter schauen zu, wie sich die Hunde auf unvertrautes Terrain wagen und sich streiten, während jeder mit neuen Gedanken und Gefühlen kämpft. Der schlaue Benjy zieht von Haus zu Haus, Prince wird ein Dichter, und Majnoun entwickelt eine enge Beziehung zu einem freundlichen Paar, die selbst die Schicksalsgöttinnen in ihrem Tun aufhält.

    Faszinierend und voll unerwarteter Einsichten in das Denken von Menschen und Hunden gewährt diese Fabel einen außergewöhnlichen Blick auf die Schönheit und Gefahren des Bewusstseins.

    Ausgezeichnet mit dem Giller Prize für den besten kanadischen Roman 2015.

    »Alexis‘ fünfzehn Hunde entdecken in diesem Roman viel mehr als menschlichen Intellekt: ein Bewusstsein tiefer als Intelligenz, Liebe stärker als Loyalität, das den Menschen eigene Mitleid und einen neuen Blick auf die Welt.« | World Literature Today

    »Ich bin kein Hundeliebhaber, aber als ein Büchermensch liebe ich diese kluge, überschwängliche Fantasie vom Anfang bis zum Ende.« | The Guardian

    Für Linda Watson

    ... por qué es de día, por qué vendrá la noche ...

    – Pablo Neruda, »Oda al perro«

    ... warum dieser Tag, warum muss die Nacht kommen ...

    – Pablo Neruda, »Ode an einen Hund«

    CoverbildCoverbild

    DIE HUNDEAKTEURE

    AGATHA – ein alter Labradoodle

    ATHENA – ein brauner Zwergpudel

    ATTICUS – ein imposanter Mastiff mit Hängebacken

    BELLA – eine Dogge, Athenas engste Rudelgefährtin

    BENJY – ein findiger und hinterhältiger Beagle

    BOBBIE – ein unglücklicher Duck Toller

    DOUGIE – ein Schnauzer, Freund von Benjy

    FRICK – ein Labrador Retriever

    FRACK – ein Labrador Retriever, Fricks Wurfbruder

    LYDIA – eine Kreuzung zwischen Whippet und Weimaraner, gepeinigt und nervös

    MAJNOUN – ein schwarzer Pudel, kurzzeitig »Lord Jim« oder einfach »Jim« genannt

    MAX – ein Mischling, der Poesie verabscheut

    PRINCE – ein Mischling, der Gedichte schreibt, auch Russell oder Elvis genannt

    RONALDINHO – ein Mischling, der die herablassende Haltung von Menschen bedauert

    ROSIE – eine Schäferhündin, die Atticus nahesteht

    1

    EINE WETTE

    E

    INES

    A

    BENDS

    IN

    T

    ORONTO

    saßen die Götter Apollo und Hermes in der Wheat Sheaf Tavern. Apollo hatte sich einen Bart bis zum Schlüsselbein wachsen lassen. Hermes war glattrasiert, seine Kleidung war irdisch: schwarze Jeans, eine schwarze Lederjacke und ein blaues Hemd.

    Sie hatten getrunken, aber es war nicht der Alkohol, der sie berauschte. Es war die Verehrung, die ihre Anwesenheit hervorrief. Das Wheat Sheaf kam ihnen wie ein Tempel vor, und die Götter waren höchst zufrieden. Auf der Herrentoilette ließ Apollo es zu, dass ein älterer Mann in einem Geschäftsanzug ihn berührte. Diese Freude, die intensiver war als alles, was der Mann erfahren hatte oder noch erfahren würde, kostete ihn acht Jahre seines Lebens.

    In der Bar begannen die Götter eine zwanglose Unterhaltung über das Wesen der Menschheit. Zu ihrem Vergnügen sprachen sie Altgriechisch, und Apollo argumentierte, dass Menschen weder besser noch schlechter seien als irgendwelche anderen Lebewesen, nicht besser oder schlechter als etwa Flöhe oder Elefanten. Menschen, sagte Apollo, hätten kein besonderes Verdienst, auch wenn sie sich selbst für etwas Höheres hielten. Hermes vertrat die gegenteilige Meinung und meinte, dass zum Beispiel die menschliche Art und Weise, Symbole zu kreieren und zu benutzen, interessanter sei als etwa der komplexe Tanz, den Bienen vollführen.

    Die Menschensprachen sind zu vage, sagte Apollo.

    Mag sein, erwiderte Hermes, aber das macht Menschen amüsanter. Hör doch nur mal diesen Leuten hier zu. Man könnte schwören, sie würden einander verstehen, obwohl keiner von ihnen auch nur die leiseste Ahnung hat, was seine Worte den anderen tatsächlich bedeuten. Wie kann man so einer Farce widerstehen?

    Ich sage ja nicht, dass sie nicht amüsant sind, antwortete Apollo. Aber Frösche und Fliegen sind auch komisch.

    Wenn du Menschen mit Fliegen vergleichst, kommen wir nicht weiter. Und du weißt das.

    In perfektem, wenn auch göttlich akzentuiertem Englisch – das heißt, in einem Englisch, das jeder Gast in der Bar verstand – sagte Apollo:

    Wer wird für unsere Drinks bezahlen?

    Ich, rief ein armer Student. Bitte, überlassen Sie mir das.

    Apollo legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes.

    Mein Bruder und ich danken dir, sagte er. Wir hatten jeder fünf Sleeman Bier. Für die nächsten zehn Jahre wirst du weder Hunger haben noch Mangel erleiden.

    Der Student kniete nieder und küsste Apollos Hand, und als die Götter gegangen waren, fand er Hunderte von Dollars in seinen Taschen. Tatsächlich hatte er, solange er die Hose besaß, die er an jenem Abend trug, mehr Geld in seinen Taschen, als er ausgeben konnte, und es vergingen zehn Jahre seit jenem Moment, bevor sich die Cordhose auflöste.

    Die Götter verließen die Bar und gingen die King Street Richtung Westen entlang.

    Ich frage mich, sagte Hermes, wie es wäre, wenn Tiere menschliche Intelligenz hätten.

    Ich frage mich, ob sie wohl so unglücklich wären wie die Menschen, antwortete Apollo.

    Manche Menschen sind unglücklich, andere nicht. Ihre Intelligenz ist eine schwierige Gabe.

    Ich wette gegen ein Jahr Dienstbarkeit, sagte Apollo, dass Tiere – ganz gleich, welches du wählst – sogar noch unglücklicher wären, wenn sie menschliche Intelligenz hätten.

    Ein Erdjahr? Die Wette nehme ich an, sagte Hermes, und gewonnen habe ich, falls auch nur eines dieser Lebewesen am Ende seines Lebens glücklich ist.

    Aber das ist eine Sache des Zufalls, sagte Apollo. Das beste Leben endet manchmal schlimm, und das schlimms­te manchmal gut.

    Wohl wahr, erwiderte Hermes, aber man kann nie wissen, wie ein Leben war, bevor es vorbei ist.

    Sprechen wir von glücklichen Wesen oder glücklichen Leben? Na egal. So oder so, ich nehme deine Bedingung an. Menschliche Intelligenz ist keine Gabe. Sie ist eine gelegentlich nützliche Plage. Welches Tier wählst du?

    Zufällig befanden sich die beiden Götter nicht weit entfernt von der Tierklinik in Shaw. Unbemerkt betraten sie den Ort und fanden Hunde, zumeist Haustiere, die von ihren Besitzern aus dem unterschiedlichen Gründen über Nacht dort untergebracht worden waren. Hunde also.

    Soll ich ihnen ihr Gedächtnis lassen?, fragte Apollo.

    Ja, sagte Hermes.

    Und da verlieh der Gott des Lichts den fünfzehn Hunden, die sich in dem Zwinger hinter der Klinik befanden, »menschliche Intelligenz«.

    Irgendwann um Mitternacht hielt Rosie, eine Schäferhündin, die gerade ihre Vagina leckte, inne und fragte sich, wie lange sie wohl an diesem Ort bleiben müsse. Und dann fragte sie sich, was mit ihrem letzten Wurf geschehen war. Es erschien ihr äußerst unfair, mit so viel Mühsal Welpen zu bekommen und sie dann aus den Augen zu verlieren.

    Rosie stand auf, um etwas Wasser zu trinken und an den harten Pellets zu schnüffeln, die man ihr zum Fressen gegeben hatte. Mit der Nase an dem Futter in dem flachen Napf herumstupsend, entdeckte sie zu ihrer Verblüffung, dass der Napf nicht wie gewöhnlich dunkel war, sondern vielmehr eine seltsame Färbung hatte. Sie ähnelte dem Pink von Kaugummi, aber da Rosie diese Farbe nie zuvor gesehen hatte, erschien sie ihr schön. Bis zum Ende ihres Lebens gefiel ihr keine Farbe besser.

    In der Zelle nebenan träumte ein grauer Neapolitanischer Mastiff namens Atticus von einem weiten Feld, auf dem es zu seinem Entzücken von kleinen pelzigen Tieren wimmelte. Tausende von ihnen – Ratten, Katzen, Kaninchen und Eichhörnchen – bewegten sich über das Gras wie der Saum eines Kleides, das weggezogen wird, gerade außerhalb seiner Reichweite. Dies war Atticus’ Lieblingstraum, eine nicht nachlassende Freude, die immer damit endete, dass er glücklich ein zappelndes Lebewesen zurück zu seinem geliebten Herrchen brachte. Sein Herrchen nahm das Ding, schlug es gegen einen Stein, führte dann seine Hand über Atticus’ Nacken und sagte seinen Namen. Immer endete dieser Traum so, immer. Aber diesmal nicht. In dieser Nacht, als er in den Nacken einer dieser Kreaturen biss, kam es Atticus in den Sinn, dass das Lebewesen Schmerz verspüren musste. Der Gedanke – klar und unerhört – weckte ihn aus dem Schlaf.

    Andere Hunde in dem Zwinger wachten auf, aufgeschreckt von seltsamen Träumen oder dem plötzlichen Bewusstsein einer unbestimmbaren Veränderung in ihrer Umgebung. Diejenigen, die nicht geschlafen hatten – es ist immer ungewohnt, weg von zu Hause zu schlafen –, erhoben sich und gingen leise zu der Tür ihrer Zelle, um zu sehen, wer den Ort betreten hatte. Zuerst nahm jeder von ihnen an, dass seine neuentdeckte Vorstellung einzigartig war. Nur allmählich wurde es ihnen klar, dass sie nun alle in dieser seltsamen Welt lebten.

    Ein schwarzer Pudel namens Majnoun bellte leise. Er schaute nachdenklich auf Rosies Käfig, der seinem gegenüberlag. Und zufällig fiel sein Blick auf das Schloss: eine längliche Schlaufe, die an einem Riegel befestigt war. Sie lag zwischen zwei Stücken aus Metall und hielt den Riegel sicher an seinem Platz. Die Vorrichtung war einfach, elegant und effektiv. Doch um die Tür zu öffnen, musste man nur die Schlaufe anheben und den Riegel zurückschieben. Genau das tat Majnoun, indem er sich auf die Hinterbeine stellte und eine Pfote durch das Käfiggitter schob. Er brauchte einige Versuche, denn es war gar nicht so einfach, aber nach einer Weile war das Schloss entriegelt, und er stieß die Tür auf.

    Obwohl die meisten Hunde verstanden, wie Majnoun seine Zelle geöffnet hatte, waren nicht alle fähig, das Gleiche zu tun. Es gab verschiedene Gründe dafür. Frick und Frack, zwei einjährige Labradore, die am nächsten Tag kastriert werden sollten, waren zu jung und ungeduldig. Die kleineren Hunde – ein schokoladenfarbener Zwergpudel namens Athena, ein Schnauzer namens Dougie, ein Beagle namens Benjy – wussten, dass sie körperlich nicht in der Lage waren, den Riegel zu erreichen, und winselten frustriert, bis ihre Zellen für sie geöffnet wurden. Die älteren Hunde, insbesondere ein Labradoodle namens Agatha, waren zu müde und verwirrt, um klar zu denken, und zögerten, die Freiheit zu wählen, selbst nachdem die Türen ihrer Zellen offen standen.

    Natürlich besaßen die Hunde bereits eine gemeinsame Sprache. Sie war auf das Wesentliche reduziert, eine Sprache, in der vor allem der soziale Status und physische Bedürfnisse von Bedeutung waren. Alle Hunde verstanden die entscheidenden Ausdrücke und Gedanken: »Vergib mir«, »Ich werde dich beißen«, »Ich bin hungrig«. Nun, da ihnen das Primatendenken auferlegt worden war, änderte sich auch die Sprache, in der die Hunde zueinander und zu sich selbst sprachen. Zum Beispiel kannten sie zuvor nicht das Wort »Tür«. Nun verstanden sie, dass »Tür« ein Ding war, das sich von dem Verlangen nach Freiheit unterschied, dass »Tür« unabhängig von Hunden existierte. Seltsamerweise stammte das Wort für »Tür« in der neuen Sprache der Hunde nicht von den Türen zu ihren Zellen, sondern vielmehr von der Hintertür zu der Tierklinik. Diese Tür, groß und grün, ließ sich öffnen, indem eine Metallstange in der Mitte zur Seite geschoben wurde. Diese Metallstange verursachte beim Öffnen einen starken, nachhallenden Knall. Seit jener Nacht kamen die Hunde überein, dass das Wort für »Tür« ein Klick (Zunge gegen Vordergaumen), gefolgt von einem Seufzer, sein sollte.

    Zu sagen, die Hunde seien verwirrt gewesen, wäre eine Untertreibung. Wenn sie »verwirrt« waren, als die Bewusstseinsveränderung über sie kam, in welchem Zustand befanden sie sich, als sie die Klinik durch die Hintertür verließen und auf die Shaw Street sahen? Ein Chaos aus Lärm und Gerüchen überfiel sie, dessen Bedeutung nun eine Wichtigkeit für sie hatte wie nie zuvor. Plötzlich verstanden sie, dass sie frei und zugleich hilflos waren.

    Wo waren sie? Wer sollte sie anführen?

    Für drei der Hunde endete die seltsame Episode bereits an dieser Stelle. Agatha, die an ständigen schrecklichen Schmerzen litt und in der Klinik war, um eingeschläfert zu werden, hielt es für sinnlos, mit den anderen weiterzugehen. Sie hatte ein gutes Leben gelebt, drei Würfe gehabt und so all den Respekt bekommen, den sie von den Hündinnen erwartete, die sie auf Spaziergängen mit ihrem Frauchen traf. Sie wollte nicht Teil einer Welt sein, in der ihr Frauchen keine Rolle spielte. Sie legte sich vor der Tür der Klinik und ließ die anderen wissen, dass sie nicht weglaufen werde. Sie wusste nicht, dass diese Entscheidung ihren Tod bedeutete. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass ihr Frauchen sie verlassen hatte und sie dem Tod allein ins Auge sehen musste. Am schlimmsten war, dass die Klinikangestellten, die sie am nächsten Morgen zusammen mit den Mischlingen Ronaldinho und Lydia entdeckten, nicht freundlich waren. Sie ließen ihren Frust an Agatha aus und taten ihr weh, als sie zu dem Silbertisch gebracht wurde, wo sie eingeschläfert werden sollte. Einer der Männer schlug sie, als sie den Kopf hob, um ihn zu beißen. Sobald Agatha den Tisch sah, wusste sie, dass ihr Ende gekommen war, und ihre letzten Momente verbrachte sie mit der nutzlosen Anstrengung, ihren Wunsch mitzuteilen, dass sie ihr Frauchen sehen wollte. In ihrer Verwirrung bellte Agatha heiser wieder und wieder das Wort für »Hunger«, bis ihr Geist ihren Körper verlassen hatte.

    Wenn Ronaldinho und Lydia auch länger lebten als Agatha, war ihr Ende fast genauso unglücklich. Beide waren in der Tierklinik wegen leichter Beschwerden. Beide wurden heimgeschickt zu dankbaren Besitzern. Und in beiden Fällen vergiftete ihre neue Denkweise, was (zumindest in ihrer Erinnerung) ein idyllisch und relativ langes Leben gewesen war. Ronaldinho lebte bei einer Familie, die ihn liebte, aber nach seiner Rückkehr aus der Klinik begann er zu bemerken, wie herablassend sie ihm gegenüber war. Trotz des spürbaren Beweises, dass Ronaldinho sich verändert hatte, behandelte die Familie ihn immer nur wie ein Spielzeug. Er lernte ihre Sprache. Er saß, stand, stellte sich tot, rollte herum oder bettelte, bevor die Befehle auch nur ausgesprochen waren. Er schaffte es, den Herd abzustellen, wenn der Kessel pfiff. Und einmal, als in seiner Gegenwart behauptet wurde, dass Hunde nicht bis zwanzig zählen könnten, starrte er die Person an, die das gesagt hatte, und bellte – ironisch, verbittert – zwanzig Mal. Niemand nahm es wahr oder zeigte Interesse. Schlimmer noch: Vielleicht weil die Familie vermutete, Ronaldinho sei »nicht mehr der Alte«, mied sie ihn eher, streichelte ihm flüchtig den Rücken oder Kopf, gewissermaßen in Erinnerung an den Hund, der er einmal gewesen war. Er starb desillusioniert und verbittert.

    Lydia erging es schlechter. Eine Kreuzung zwischen einem Whippet (ihre Mutter) und einem Weimaraner, war sie immer schon ein nervöses Wesen. Die Gabe der menschlichen Intelligenz machte sie noch nervöser. Auch sie lernte die Sprache ihrer Besitzer, tat oder antizipierte genau, was immer von ihr gewollt wurde. Die Herablassung der Menschen machte ihr nichts aus. Ihr missfiel, dass sie unaufmerksam und nachlässig waren, denn mit dem »Primatenverstand« bildete sich ein scharfes Zeitbewusstsein heraus. Das Vergehen der Zeit – jeder Moment war wie eine Krätzmilbe, die ihr unter die Haut kroch – erwies sich als eine unerträgliche Plage. Diese Qual wurde nur durch die Nähe ihrer Besitzer, durch ihre Gesellschaft gelindert. Da ihre Besitzer, ein berufstätiges Paar, das nach Flieder und Zitruspflanzen roch, jedoch oft acht Stunden ununterbrochen weg waren, litt Lydia furchtbar. Sie bellte, heulte und flehte stundenlang. Als sie schließlich die wiederholte Qual nicht länger ertragen konnte, verfiel sie auf einen typisch menschlichen Schutz vor Leid: Katatonie. Eines Tages fanden ihre Besitzer sie im Wohnzimmer, die Beine steif, die Augen weit geöffnet. Sie brachten Lydia zu der Klinik in Shaw, und als der Tierarzt ihnen mitteilte, dass er nichts mehr tun könne, ließen sie sie einschläfern. Sie waren keine fürsorglichen Besitzer gewesen, aber sie waren sentimental. Sie begruben Lydia in dem Garten hinter ihrem Haus und pflanzten ihr zu Ehren einen Teppich gelber Blumen (Genista lydia) auf dem Erdhügel, ihrer letzten Ruhestätte.

    Die Zwölf, die von Shaw aus aufbrachen, wurden von Verwirrung und Neugier getrieben. Die Welt erschien neu und wunderbar und doch vertraut und banal. Nichts hätte sie überraschen sollen, doch das Gegenteil war der Fall. Das Rudel bewegte sich vorsichtig auf der Strachan Avenue Richtung Süden: über die Brücke zum See.

    Fast instinktiv zog es sie zum Seeufer. Die zahlreichen Gerüche waren für die Hunde so betörend, wie es der Duft einer Bäckerei am frühen Morgen für Menschen ist. Erst einmal war da der See selbst: sauer, pflanzlich, fischig. Dann gab es den

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