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Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition): Der Sommer der Liebe
Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition): Der Sommer der Liebe
Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition): Der Sommer der Liebe
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Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition): Der Sommer der Liebe

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About this ebook

Band III der vierbändigen deutschsprachigen Ausgabe von "Tales of Beatnik Glory" über die Jahre 1966-67.
Eine Sammlung von höchst vergnüglichen und schrägen Geschichten um einen Dichter aus dem Hinterland, der zuerst in New York landet und von dort aus die verschiedenen Phasen der alternativen Szene der USA erlebt.

Der dritte Band der "Tales of Beatnik Glory" führt uns in die Zeit des "Sommers der Liebe" 1967, so wie er in der Lower East Side von New York zwischen Beatniks, Hippies, Ausgeflippten und Drogenfreaks, Theatermachern, Dichtern und Politaktivisten verlaufen sein könnte. Vom anarchisch-dadaistischen Aufbruch spannt sich der Bogen durch einen psychedelisch-bizarren und farbenfrohen Sommer, bis sich schließlich die dunklen Schatten von Drogenmissbrauch, Wahnsinn und Gewalt über die einst fröhliche Subkultur legt und der Dichter die Stadt verlässt.

Kaum jemand hat die neueren kulturellen Strömungen in der Kunst, der Musik und vor allem in der Literatur stärker beeinflusst als die amerikanische Nachkriegsgeneration der Beatniks. Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs und Ed Sanders sind Vertreter jener "Wilden Generation", die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren und noch heute mit ihren literarischen Werken neue Formen des Schreibens dokumentierten.

Ed Sanders, Gründungsmitglied der legendären Fugs und Herausgeber des nicht minder legendären Avantgarde-Magazins Fuck You, gilt als Verbindungsglied zwischen der Beatnik-Szene der 1950er und der Hippie-Bewegung der 1960er Jahre. In den "Tales of Betanik Glory" hat er seine Erinnerungen an diese Jahre literarisch aufgearbeitet.
LanguageDeutsch
PublisherFuego
Release dateApr 25, 2014
ISBN9783862870974
Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition): Der Sommer der Liebe

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    Book preview

    Tales of Beatnik Glory, Band III (Deutsche Edition) - Ed Sanders

    Coverbild

    — DEUTSCHE EDITION —

    Ed Sanders

    Tales Of Beatnik Glory

    Band III

    Der Sommer der Liebe

    Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erwin Einzinger

    FUEGO

    Über dieses Buch

    — Band III der vierbändigen Ausgabe —

    Der dritte Band der Tales of Betanik Glory führt uns in die Zeit des »Sommers der Liebe« 1967, so wie er in der Lower East Side von New York zwischen Beatniks, Hippies, Ausgeflippten und Drogenfreaks, Theatermachern, Dichtern und Politaktivisten verlaufen sein könnte. Vom anarchisch-dadaistischen Aufbruch spannt sich der Bogen durch einen psychedelisch-bizarren und farbenfrohen Sommer, bis sich schließlich die dunklen Schatten von Drogenmissbrauch, Wahnsinn und Gewalt über die einst fröhliche Subkultur legt und der Dichter die Stadt verlässt.

    Allen Ginsberg nannte das dokumentarische Rock ’n’ Drug-Epos Tales of Beatnik Glory über »Die Freaks von Greenwich Village« ganz ohne Neid einen »satirischen Lobgesang auf radikale visionäre Politik, wie man sie im 21. Jahrhundert mit der Einstellung den alten Ägyptern gegenüber betrachten wird«, und einen »Meilenstein historischer Archäologie«.

    Eine Sammlung höchst vergnüglicher und schräger Geschichten um einen Dichter aus dem Hinterland, der zuerst in New York landet und von dort aus die verschiedenen Phasen der alternativen Szene der USA erlebt.

    DYLANS GITARRE

    Eine Gitarre, die einst Bob Dylan gehört hatte, wurde in einer Auktion im Greenwich Village Peace Center zur Versteigerung ausgerufen. Sam Thomas und Talbot der Große standen in vorderster Reihe und warteten darauf, dass die ziemlich zerschrammte Gibson, die jedoch noch einen hervorragenden Klang hatte, in die Höhe gehalten würde. Talbot hatte einiges von seinem Schulgeld von der Bank abgehoben und war entschlossen, sich gegen das Knäuel aus sabbernden Folkniks durchzusetzen, die ebenfalls danach gierten, den Glück bringenden Schatz zu besitzen. Sie kostete Talbot schließlich zweihundert Dollar, aber er und Sam konnten sie im Triumph im Bus quer durch die Stadt zum Peace Eye Bookstore an der Zehnten Straße Ost bringen, nahe Avenue C, wo ich sie verpackte und als Geschenk für Johnny Ray Slage, den Sohn eines Ku-Klux-Klan-Anführers, nach Alabama schickte. Talbot und Thomas hatten an Johnny Ray in den letzten zwei Jahren jeden Monat geheime »Freedom-Pakete« mit Büchern und Zeitschriften geschickt, um ihn von einem Leben als Rassist abzubringen.

    1961 hatte Talbot der Große sich an den Freedom Rides beteiligt, bei denen Aktivisten in Bussen durch die Südstaaten fuhren, um die wegen der Rassentrennung gesperrten Einrichtungen auch für Schwarze zugänglich zu machen. Johnny Rays Vater, Ethrom Slage, hatte die Meute der Klanmitglieder angeführt, die Talbots Freedom-Bus attackierten, als er am Busbahnhof in Birmingham ankam. Ethrom hatte Talbot mit einem Bleirohr einen Schlag gegen das Knie versetzt, weshalb er immer noch leicht hinkte und die eine Hüfte sich immer ein wenig weiter nach oben schob als die andere, wenn er über die marmorne Türschwelle in den Peace Eye Bookstore trat.

    Danach, nach dem Bombenanschlag des Klans auf die Baptistenkirche in der Sechzehnten Straße im Herbst 1963, bei dem vier Mädchen in Chorgewändern getötet worden waren, gab Talbot vorübergehend die Gewaltfreiheit auf und flog nach Birmingham in der Absicht, Ethrom Slage in einem Hinterhalt mit Dynamit umzubringen — Bombe um Bombe, ausgeschossenes Auge um ausgeschossenes Auge.

    Ethrom Slage lebte auf einer heruntergekommenen kleinen Farm in einer Stadt unweit von Birmingham, wo sich Hühner mit sehr wenig Federn auf der Bauchseite in staubigen Löchern an einer Hausecke ausruhten, die von einem Wagenheber abgestützt wurde. Talbot inspizierte die Lage und richtete einen Beobachtungsposten in einem verlassenen Schuppen auf einem steilen Hügel ein, von dem aus er die Farm überblicken konnte.

    Sein Plan war es, Slage in die Luft zu blasen, wenn der Anführer des Klans am Morgen zu seiner Scheune ging. Er hatte schon die Drähte von der Batterie und dem Auslöser über den Hügel hinab bis zur Dynamitladung gelegt, die in der Scheune versteckt war. Kurz vor Sonnenaufgang beobachtete er, wie eine dunkle Gestalt die Scheune betrat, und wollte gerade darangehen, die Detonation auszulösen, als er das Gefühl hatte, er sollte lieber doppelt sichergehen. Deshalb schlich er den Hügel bis zur Scheune hinunter, um durch einen Bretterspalt hindurchzuspähen. Was er sah, war der junge Johnny Ray Slage, der statt seines Vaters gekommen war, um das Vieh zu füttern. Talbot spürte einen Ruck der Scham und Empörung und schwor an Ort und Stelle, für den Rest seines Lebens jeden Tag darauf zu verwenden, diesen stillen Sohn eines Klan-Anführers zu erziehen und umzuformen.

    Johnny Ray hätte um Hilfe rufen können, wahrscheinlich sogar sollen, war er doch seit den Tagen, als er noch in Windeln steckte, darauf gedrillt worden, die Begegnung mit einem Schwarzen an einem abgelegenen Ort für die lebensbedrohlichste Sache zu halten, die sich nur denken ließ — aber an diesem Morgen hörte er ruhig zu. Noch während Talbot die Drähte vom Dynamit trennte und seine Ausrüstung zusammenpackte, um sich aus dem Staub zu machen, begann er auf Johnny Ray einzuwirken. »Du musst dieses Leben mit dem Klan aufgeben. Es gibt eine große, weite Welt jenseits von hier, wo die Leute keine Rassisten sind. Wir haben alle ein und dasselbe Blut. Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen dir und mir. Du musst dich vom Klan abwenden.«

    Talbot bat ihn um eine Adresse, an die er ihm Briefe schicken könnte, und Johnny Ray sagte ihm, er könne diese an eine Tante namens Mattie Farlo richten.

    Einmal im Monat trafen wir uns im Peace Eye Bookstore, um Sachen für das Freedom-Paket auszuwählen, das wir an Johnny Ray Slage adressierten. Im Lauf der Zeit war dies zu einer Art Party geworden. Wir tranken etwas Wodka, rauchten uns ein und sangen Lieder, während wir uns überlegten, wie wir unseren kleinen Freund aus dem Klan erziehen konnten, ohne ihn zu langweilen.

    Wir feierten eine wilde Party an dem Abend, als Sam Thomas und Talbot die geschwungene Gibson ins Peace Eye brachten, um sie nach Alabama zu schicken. Die Fugs waren da und wir sangen stundenlang, wechselten uns ab an der Gitarre, die einst dem großen Barden gehört hatte, und es wurde viel geprostet und gescherzt, bevor wir sie zwischen zerknüllte Ausgaben der East Village Other steckten, während Sam Thomas und Talbot einander wie üblich aufzogen und sich in die Haare gerieten im Streit um die Frage, welche Bücher und Zeitschriften denn diesmal eingepackt werden sollten.

    Sam klebte eine Reihe von Metallsternen und Scheiben mit geflammtem Wellenmuster sowie ein Friedenssymbol als Abziehbild auf den Klangkörper unterhalb des Schalllochs. Talbot und Sam hatten eine kurze gewaltfreie Auseinandersetzung, als Sam einen »Pot is Fun«-Aufkleber anbringen wollte, während Talbot diesen wieder herunterriss. Als abschließende Verzierung brannte Sam das Wort Ahimsa in den Resonanzboden.

    »Sakreligion!«, zog ich ihn auf und schnupperte an dem Geruch, der mir nicht mehr untergekommen war, seit ich — was nun in so weiter Ferne zu liegen schien — am Abend vor dem Aufbruch ins Sommerlager der Pfadfinder den Namen meines Trupps in die Seitenwand meiner hölzernen Zeugkiste gebrannt hatte.

    »Wieso? Bloß weil Bob Dylan einmal damit gespielt hat? Alles wird verwandelt in der Neuen Welt. Schau, wie Dylan selbst die Melodien verwandelt, die er aus der Tradition der Appalachen entlehnt und umformt. Die Art, wie wir diese Gibson verändern, ist symbolisch dafür, wie wir dabei sind, unseren kleinen Abkömmling vom Klan zu verwandeln. Sofern wir ihn denn auch wirklich verwandeln.«

    Sam Thomas war sich nicht so sicher, dass selbst über Jahre hinweg diese Pakete einen entscheidenden Einfluss auf den jungen Johnny Ray Slage ausüben würden. Talbot sprach etwa einmal im Monat mit Johnny Ray am Telefon und war überzeugt, dass sie mit Erfolg dabei waren, einen Abkömmling des Klans in ein menschliches Wesen zu verwandeln. Deshalb ging er mit viel Bedacht und sehr behutsam vor bei der Auswahl der Dinge, die verschickt werden sollten. In diesem Monat enthielt das Paket unter anderem ein Rundschreiben vom Kongress für Rassengleichheit, einige Zeitungsartikel über die Bürgerrechtsbewegung, ein Buch mit Gedichten von Langston Hughes, Berichte über den Klan aus der Village Voice und ein Protokoll eines Teach-In gegen den Krieg in Vietnam.

    Sam wollte immer, dass die Pakete ein bisschen surrealer und weniger langweilig wären, und deshalb versuchte er in diesem Monat ein Pamphlet mit dem Titel Wie man Gras anbaut unter die Saiten von Dylans Gitarre zu schieben und mit Klebeband ein bisschen Haschisch innen neben dem Schallloch anzubringen. Talbot hob seine Hände in spielerisch abwehrender Geste in Richtung Sam, als wollte er Nein Nein Nein! sagen.

    Was das Marihuana betraf, war Talbot ganz besonders empfindlich. Um die Mittel für sein Bildungsprojekt nach dem Ankauf der Gitarre wieder aufzustocken, hatte er sich zu einer frühen Ernte seines zu Verkaufszwecken angebauten Grases entschlossen, das er in Fässern in einem versteckten Garten hinter der Kirche seiner Mutter in Harlem zog. Sie hatte ihn dabei erwischt, wie er mit ihrer Zickzackschere frische Hanfwedel in eine Schultasche schnipselte. Sie zwang ihn, die kostbaren fünfblättrigen Kräuter zu vernichten und drohte ihm damit, ihn an seinen zeushaften Vater zu verraten, den Pastor der Kirche, der ihn dann wahrscheinlich der Polizei übergeben hätte.

    »Dieses Zeug wächst doch dort unten in Alabama wild«, sagte Talbot zu Sam Thomas. »Johnny Ray braucht bloß zu einem Bahndamm zu gehen, wo das Zeug dazu verwendet wird, die Erosion zu verhindern. Die Regierungstypen aber könnten das Paket inspizieren und dann landen wir alle im Knast.«

    Sam wollte auch ein paar Nacktfotos einer gerade auf dem Sprung zum Hippie befindlichen Modedesignerin namens Indian Annie mitschicken (das Wort Hippie tauchte erst weitere vier Monate später im allgemeinen Sprachgebrauch auf), die der Star einiger seiner Undergroundfilme war, aber Talbot blieb hart.

    »Ich nehme an, die Tante öffnet diese Pakete. Sie wird uns nicht erlauben, noch einmal irgendetwas zu schicken, wenn wir allzu schräge Sachen machen«, versetzte Talbot der Große, während er die Adresse auf das Paket malte:

    Johnny Ray Slage

    c/o Mrs. Mattie Farlo

    Rural Route 1

    _____, Alabama

    Dennoch schob Sam heimlich, während Talbot damit beschäftigt war, in der Schachtel noch Platz zu finden für die Gesammelten Werke von Mark Twain, einige der Schnappschüsse von Indian Annie, das Wie man Gras anbaut, ein Stück braunes Haschisch und eine Broschüre mit erotischen Fotos von Leuten unterschiedlicher Rassen, die er am Times Square aufgetrieben hatte, unter die Gitarre.

    Mattie Farlo war die Schwester von Johnny Rays Mutter, und sie war sehr, sehr religiös. Sie trug vorwiegend schwarze Kleider und hielt ihre Bibel, wenn sie abends neben dem Bett kniete, so fest umschlungen, dass sich vom harten Zugriff ihrer Finger Rillen in den schwarzen Bucheinband gegraben hatten. Sie hatte sanfte, überaus runde Wangen, unter denen konzentrische Bögen in ihrer Haut verliefen, die sich nach unten hin, neben ihren Lippen, zu tief eingegrabenen Sorgenfalten erweiterten. Ihr Haar war streng von der linken Seite des Schädels zur rechten frisiert, wo sie sich unmittelbar über dem Ohr ein hübsches Gewirr von kleinen Locken erlaubte. Das war ihre Frisur gewesen von der Kindheit bis in ihre Jahre als Teenager, als sie eine ortsbekannte Schönheit gewesen war. In der Stadt erinnerte man sich immer noch an ihren großen ruhmreichen Moment — an die Parade von Cabrios und blitzendem Chrom rund um den Platz vor dem Gerichtsgebäude, nachdem sie vom Bezirkshandelsverband zur Chevrolet-Königin des Jahres 1954 gewählt worden war.

    Eine unglückliche Ehe sowie Unglück auch in anderer Hinsicht waren ihrem Hang zum Gebet nur förderlich, und 1966 war sie bereits so fromm, wie man es im ländlichen Alabama nur sein konnte. Sie hatte gekränkte, leuchtende Augen, die ständig die ihres Schwagers Ethrom suchten, dem es immer recht peinlich war, wenn der Blick seiner Schwägerin und der seine sich trafen, besonders nach dem, was mit Minnie Slage passiert war. Johnny Rays Mutter war durch fahrlässiges Verschulden gestorben. Ethrom hatte sich geweigert, einen Arzt zu rufen. »Mach dir keine Sorgen, sie kommt schon durch«, sagte er immer, während er sich der wichtigen Arbeit für den Klan widmete. Aber sie kam nicht durch. Ohne medizinische Behandlung siechte sie dahin. Minnie Slage wurde auf dem Hügel oberhalb des Hauses begraben, und niemand sprach mehr von ihr.

    Es gab nur eine Sache, deretwegen Ethrom seiner Schwägerin in die flammenden Augen schauen konnte. Er hatte keine Wahl. Wieder und wieder musste er ihr schwören: »Ich habe nie jemanden getötet. Ich habe nie eine Bombe in einer Kirche gelegt. Nie jemanden verletzt. Wenn du je etwas anderes herausfinden solltest, geh ruhig zum FBI.« Sie verlangte, dass er seine Hand unmittelbar auf die Stellen legte, an denen ihre Finger Rillen in ihrer Bibel hinterlassen hatten, und ließ ihn einen Schwur auf das Buch Deuteronomium leisten, dass er keine Gewalttat begangen hatte.

    Mattie Farlo hasste den Ku-Klux-Klan, obwohl auch ihr eigener Vater in den dreißiger Jahren ein Anführer des Klans gewesen war. Ihr Hass ging zurück auf eine schreckliche Nacht, als sie sechs Jahre alt war und ihre Eltern mit ihr zu einer Hinrichtung gefahren waren. Sie kamen an, nachdem der Mob sich bereits wieder beruhigt hatte, und tatsächlich wogten die Leute in aufgeräumter und fröhlicher Stimmung herum. Autos waren in einem Halbkreis geparkt, um das Opfer zu beleuchten. Mattie wandte sich von dem Schauspiel ab, aber ihre Mutter packte sie am Arm und brachte sie ganz nahe heran an den Baum, wo sie sie zwang, in einer Gruppe kichernder und aufgeregter Kinder fast in Reichweite der baumelnden Beine zu bleiben.

    Sie konnte es nicht verhindern, dass sie im Scheinwerferlicht den Glanz seiner sauber geputzten Schuhe bemerkte und den Hosenboden seiner mit ordentlichen Bügelfalten versehenen gestreiften Beinkleider. Sie wagte nicht, weiter nach oben zu schauen, zum Seil und dem geknickten Hals.

    Sie erinnerte sich, wie ekelhaft sie ihren Vater unterwegs im Auto empfand. Es wurde ihr plötzlich bewusst, dass der Kerl mit den blitzenden und mit Troddeln versehenen Schuhen besser gekleidet und wahrscheinlich auch netter und in jeder Hinsicht sauberer war als jedes einzelne Mitglied ihrer eigenen Familie. Sie begann an Ort und Stelle laut zu beten, während sie sich langsam zur Seite drehte in der Hoffnung, dass niemand von den Erwachsenen sie bemerken und die Kinder sie nicht auslachen würden, als Tränen ihr Gesicht glänzen ließen wie die mit Troddeln verzierten Schuhe im hellen Licht der Scheinwerfer des 36er-Buick ihrer Eltern. Sie schwor, sich von dem Bösen abzuwenden, das ihre Stadt getan hatte.

    Deshalb ließ Mattie Farlo es dreißig Jahre später zu, dass die Pakete für Johnny Ray vom Peace Eye in ihr Haus geschickt wurden. Sie war so hingerissen vom Leuchten der aufgeregten Augen des Sohnes ihrer Schwester und von der Eile, mit der er die Pakete aufriss, als wären es Weihnachtsgeschenke, dass sie kaum darauf achtete, was ihm geschickt wurde. Sie dachte, es handelte sich um eine Kirchengemeinde. Der Absender auf den Paketen lautete:

    Die Baptistengemeinde der Hoffnung

    c/o Peace Eye Bookstore

    383 East Tenth Street

    New York, N.Y. 10009

    Johnny bewies Geschick darin, sofort darauf zu achten, welche der Dinge aus dem Freedom-Paket seiner Tante Mattie nun tatsächlich unter die Augen kamen. Deshalb ließ er Bücher von Martin Luther King und Zeitschriften, die der Kongress für Rassengleichheit herausgab, wie zufällig auf dem Bett liegen, während er Sams Anteil an den Lieferungen, zum Beispiel Jointhalter (Johnny hatte keine Ahnung, was er mit diesen pinzettenartigen Dingern anfangen sollte), Wie man Gras anbaut, die Platten der Fugs, die entzückende Indian Annie oder Robert-Crumb-Comic-Hefte mit viel Geschick vor den andächtigen Augen von Tante Mattie fernhielt.

    Es war nicht so ganz einfach, einen Platz im Haus zu finden, wo er die Beute aus dem Peace Eye Bookstore verstecken konnte, denn die Räume hatten nach den jahrelangen peinlichen Besuchen von Geldeintreibern etwas Kahles an sich. Eines der Bilder, die sich in Johnnys Bewusstsein eingebrannt hatten, war seine hagere, faltige Mutter, die Blut auf der Zunge hatte, als sie schreiend auf der Veranda stand, während die Geldeintreibertypen die Lampen und Sessel wegräumten und die Versandhausteppiche im Wohnzimmer einrollten.

    Sein Vater versuchte sich in allerlei Berufen — er verkaufte beispielsweise Waffen im Wohnwagen im Hof, arbeitete als Störungssucher bei der Elektrizitätsgesellschaft. Seine aufbrausende Art verhinderte stets, dass er einen Job länger behielt. Einmal ein Jahr arbeitete er einen Plan aus, um Räucherfisch zu vertreiben. Gelegentlich stellte er Fallen für Waschbären auf und verkaufte deren Felle. Einmal bestellte er über Postversand eine transportable Nerzfarm, aber ein Opossum fraß ein Loch hinein und die Nerzbrut entkam in die Wälder. Draußen im Hinterland stand eine alte Hirsemühle, in die Ethrom wutentbrannt Löcher geschossen hatte, als die Sache im Eimer war. Schließlich gab es keine andere Möglichkeit mehr, sich über Wasser zu halten, als durch den Klan. Ethrom besaß gerade noch genug Charisma, um vor brennenden Kreuzen Geld zu sammeln, sodass schwitzende armselige Südstaatler ihre Tücher hochhoben und ein paar feuchte Dollar aus ihren Hosen fischten, wovon Ethrom ein Drittel für sich einbehielt, um auf diese Weise für seine Familie eine Existenz an der Armutsgrenze zu erschnorren.

    Täglich verwendete Ethrom eine gewisse Zeit dafür, um seinen Sohn darauf vorzubereiten, ein Anführer des Klans zu werden. Er war sich sicher, dass sein Sohn »etwas Großartiges« werden würde. Er war von dieser ihn verzehrenden Vorstellung wie besessen. Eine der Aufgaben von Johnny Ray bestand darin niederzuschreiben, was sein Vater von den Ku-Klux-Klan-Versammlungen in Erinnerung behielt, und Briefe und chiffrierte Kommuniqués zu tippen, die Ethrom zu mitternächtlicher Stunde in seinem Pick-up mit den verräterisch klappernden Nocken auslieferte.

    »Eines Tages wirst du über den gesamten Süden herrschen«, versicherte er seinem Sohn. »Amerika verlangt von dir, dass du ein Großer wirst, mein Junge. Du bist der Auserwählte. Du wirst den Süden wieder in seine Ära der Weißen zurückführen.«

    Abends, nachdem Johnny zwei oder drei Stunden lang die Korrespondenz für den Ku-Klux-Klan erledigt hatte, half Ethrom ihm dann immer beim Waschen in einer Schüssel, goss aus einem Krug Wasser über seine Hände und sorgte dafür, dass er einen sauberen Nachttopf unter dem Bett hatte. Dann erzählte er seinem Sohn Gutenachtgeschichten über den Klan, die er von seinem Vater gelernt hatte, über die ruhmreiche Zeit der zwanziger Jahre, als der Klan mächtig genug war, die Präsidentschaftskandidaten zu Fall zu bringen. Manchmal las er seinem Sohn Flugschriften mit Hasstiraden vor, als wären sie Geschichten aus dem Alten Testament. Eines Nachts war er bis in seine eisige Seele hinein erschüttert, als er erfahren musste, dass 80 Prozent der Psychiater in Alabama Juden waren. Er hatte darüber in einem Stapel von Flugblättern des Klans gelesen, die an diesem Tag aus der Druckerei kamen. »Sie bringen die Nichtjuden in die abgelegene Wildnis von Alaska und nehmen dann Lobotomien an ihnen vor. Weißt du, was eine Lobotomie ist, mein Junge? Da rennen sie dir ein Messer mitten in die Stirn, um dich in einen Atheisten zu verwandeln. Die Regierung macht das andauernd. Es gibt da dieses vom FBI geführte Krankenhaus in Alaska, wo sie einen zum garantierten Kommunisten machen. Du bist dann so etwas wie ein Spielzeugroboter, mein Junge, und wenn sie dich erwischen, hast du dafür zu sorgen, dass das

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