Neurohistorie: Ein neuer Wissenschaftszweig?
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Auf diese Fragen gibt die neueste Forschung gegensätzliche Antworten. Niels Birbaumer und Dieter Langewiesche erörtern sie und erkunden von beiden Seiten, der Neuro- und der Geschichtswissenschaft, was von einer Neurohistorie zu erwarten ist. Die Autoren wenden sich gegen aufgeregte Szenarien, die von Aufbruchsvisionen über Paradigmenwechsel bis hin zu Bedrohungsängsten reichen. Vielmehr wollen sie Lust machen, Fachgrenzen zu überschreiten und innovatives Denken zu provozieren. Dieses Pamphlet ist ein intellektuelles Wagnis und eine freudvolle Herausforderung.
Dieter Langewiesche
Dr. Dieter Langewiesche ist ordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen.
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Book preview
Neurohistorie - Dieter Langewiesche
Dieter Langewiesche / Niels Birbaumer
Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig?
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-86408-217-7 (Print) / 978-3-86408-218-4 (E-Book)
© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2017
www.vergangenheitsverlag.de
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Vorwort
Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte
Wovon diese Studie nicht handelt
Zwei gegensätzliche Ansätze zu einer Neurohistorie
Zur Kritik von Johannes Frieds Theorie einer neurokulturellen Geschichtswissenschaft
Vergangenheit wird immer subjektiv wahrgenommen — ein Problem?
Zum Verhältnis zwischen Neuro- und Vergangenheitswissenschaften
Gemeinsamkeiten in theoretischen Positionen
Gemeinsame Forschungsfelder
Bilanz
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Vorwort
Auch wer nicht an eine Trennung in zwei Wissenschaftskulturen glaubt, eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche, wird sich dennoch eingestehen – gemeinsam forschen ist schwer. Warum das so ist und was gleichwohl möglich sein könnte, wollen wir für unsere Fächer erkunden, die Geschichts- und die Neurowissenschaft.
Unsere Neugier auf die Arbeit des anderen entstand in dem Sonderforschungsbereich Kriegserfahrungen, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1999 bis 2008 in Tübingen finanziert hatte. Der eine forschte über historische Formen von Kriegen und die Rolle von Nationen und Imperien in ihnen, der andere über Opfer und Täter in der Gegenwart. Dies bot die Chance, miteinander ins Gespräch zu kommen und – kein leichter Schritt – gemeinsam zu publizieren. In dieser Schrift wollen wir unsere Erkundungen im Terrain des anderen fortsetzen und bilanzieren. Selbstverständlich eine vorläufige Bilanz.
Wie können Historiker und Neurowissenschaftler in ihren methodischen und theoretischen Annahmen voneinander lernen, in welchen Bereichen können sie gemeinsam forschen, obwohl sie höchst unterschiedlich arbeiten? Die einen im Labor, die anderen im Archiv, in der Bibliothek, gelegentlich auch als teilnehmende Beobachter. Den technischen Geräten im Labor, die ständig verfeinerte Blicke ins Gehirn zulassen, steht auf dem Schreibtisch von geistes- und sozialwissenschaftlichen Vergangenheitsforschern meist nur ein simpler PC gegenüber. Das ist nicht trivial. Die unterschiedliche Technik steht für unterschiedliche Forschungsszenarien. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Auch und gerade nach ihnen wird hier gefragt.
Vorträge vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (2008) und der Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle (2014) gaben die Möglichkeit, unsere Ergebnisse über Fachgrenzen hinweg zu diskutieren. Etliche Kolleginnen und Kollegen waren zudem so freundlich, den Text zu kommentieren. Ihnen allen herzlichen Dank!
Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte
Wenn Geisteswissenschaftler auf die Neurowissenschaften blicken und umgekehrt, geht es meist um den freien Willen des Menschen. Wird er auf neurowissenschaftlicher Grundlage verneint, schließen daran ernste Fragen an über die individuelle Zurechenbarkeit von Handlungen. Etwa im Strafrecht. Die Geschichtswissenschaft ist in solche Debatten in aller Regel nicht eingebunden. Das war auch in der Vergangenheit so. Denn die derzeitige Debatte zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen über Willensfreiheit, und wer fundierter über sie urteilen könne, ist nicht die erste dieser Art. Erinnert sei nur an den Ignorabimus-Streit, den Emil du Bois-Reymond 1872 mit einem Vortrag international ausgelöst hatte.¹ Als Experte der experimentellen „Wissenschaft von den näheren Bedingungen des Bewusstseins auf Erden", so definierte er damals ressortimperialistisch Physiologie², fühlte er sich kompetent, nach den Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeit zu fragen. Wie viele Naturwissenschaftler seiner Zeit (und manche heutige Neurowissenschaftler) sah er sich dafür fachlich besser gerüstet als die Philosophen oder gar die Theologen.³
Diese Debatte soll als Ausgangspunkt für eine auf die Gegenwart bezogene Analyse dienen. Rückblickend lässt sie sich zwei Diskussionsforen zuordnen, einem gesellschaftspolitischen und einem wissenschaftlichen. Gesellschaftspolitisch wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert darum gerungen, welcher Disziplin die Rolle der Leitwissenschaft gebühre, seit man der Theologie und dann auch der Philosophie diesen Anspruch nicht mehr zugestand. Hier ging es um Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft. Und selbstverständlich ging es um Geld im Wettbewerb um staatliche und andere Mittel. Als Rudolf Virchow 1893 in seiner Berliner Rektoratsrede den Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter verkündete, bezog er in diesem interessenpolitischen Wettstreit entschieden Stellung. Erst im „naturwissenschaftlichen Zeitalter, also in seiner Gegenwart, sei das „alte Wort Baco’s von Verulam eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia
⁴. Mit dem überlegenen Fortschrittsdienst der Naturwissenschaften an der Gesellschaft begründete er deren Dominanzanspruch. Das war gängige Argumentation damals. Die Naturwissenschaft als die neue Leitwissenschaft, und nicht mehr die Philosophie, mit Auswirkungen bis ins Gymnasium. Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!
lautete der Kampfruf zur Gymnasialreform, den du Bois-Reymond ausgab, um eine starke öffentliche Resonanz zu provozieren.⁵ Das gelang ihm. Er wurde einer der medial bekanntesten deutschen Professoren seiner Zeit, ein public intellectual mit internationaler Ausstrahlung, weil er immer wieder in Fragen eingriff, die in der Öffentlichkeit debattiert wurden, aber jenseits seines Fachgebietes lagen. Da er dies meist auf wissenschaftlichen Bühnen tat, wie der preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, beanspruchte er für seine fachfernen gesellschaftspolitischen Interventionen wissenschaftliche Kompetenz und die Autorität des Experten.⁶
Die Forderung nach einer neuen Relevanzhierarchie unter den Wissenschaften, die sich auch in der Konkurrenz um finanzielle Mittel niederschlug, ist die Brücke zum zweiten Forum, auf dem die Debatte ausgetragen wurde, dem wissenschaftlichen. Denn Naturwissenschaftler wie Rudolf Virchow, Emil du Bois-Reymond oder Justus Liebig, um nur drei zu nennen, die mit ihrer Botschaft immer wieder in die Öffentlichkeit gingen – sie alle definierten die moderne Naturwissenschaft auch methodisch als die Leitwissenschaft der Gegenwart. In den Worten du Bois-Reymonds aus einer Berliner Akademie-Rede im Jahr 1872: die Philosophie könne „Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen […], nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie."⁷
Dieser Streit mündete in die höchst fruchtbare wissenschaftstheoretische Debatte über Kultur- bzw. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft (Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey)