Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung: Fragen an Heiner Müller
Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung: Fragen an Heiner Müller
Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung: Fragen an Heiner Müller
Ebook336 pages4 hours

Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung: Fragen an Heiner Müller

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Marx zufolge ist die menschliche Geschichte Fortschritt, der durch Klassenkämpfe vorangetrieben wird. In den Stücken Heiner Müllers verhält es sich fast umgekehrt: Die sich verschärfenden Klassenverhältnisse sind hier ein Motor des möglichen Untergangs der Menschheit. Im 21. Jahrhundert ist der Zusammenhang von Klassenverhältnissen und einer umfassenden Selbstzerstörungstendenz der global kapitalisierten Menschheit aktueller denn je. "Klassengesellschaft reloaded" lotet diese beiden Komplexe – Klassismuskritik und Gattungssuizid – sowie ihr Verhältnis zueinander im Kontext des Werkes von Heiner Müller aus.

Der Band geht auf eine Tagung zurück, die 2019 von der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft im Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin ausgerichtet wurde, und dokumentiert Vorträge, Gespräche und Diskussionen.
LanguageDeutsch
Release dateDec 21, 2020
ISBN9783957493712
Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung: Fragen an Heiner Müller

Related to Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung

Related ebooks

Art For You

View More

Related articles

Reviews for Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Klassengesellschaft reloaded und das Ende der menschlichen Gattung - Verlag Theater der Zeit

    Sandra Fluhrer

    Heiner Müllers Bauern

    Bauern und Klasse

    In der Geschichte der Klassenkämpfe und des Klassenbewusstseins hat die Bauernschaft keinen klaren Ort. Bauern gelten als stimm- und haltungslos, geschichtslos, unpolitisch. Die süddeutschen Bauernaufstände der Reformationszeit sind ebenso von Widersprüchen geprägt wie die Rolle der Bauern in den Revolutionen von 1789 bis 1848 und 1917. Historisch überwiegen lange Zeiten der Unterdrückung und Konstellationen des Opportunismus. Im kulturellen Gedächtnis ist bis heute ein Bild vom Bauern zwischen rückständiger Dummheit und romantischer Archaik verbreitet, das mit der Annahme einer transhistorischen und transkulturellen Kontinuität in der Landwirtschaft einhergeht: Bauern waren, sind und bleiben allerorten bäuerlich. Die Dekonstruktion solcher Agrarmythen steckt noch in den Anfängen.¹

    In der Klassentheorie lässt sich dementsprechend kein systematisches Bild vom Bauern finden; überhaupt bleibt der Bauer gesellschafts- und rechtstheoretisch wenig belichtet.² Hegels Dialektik von Herr und Knecht setzt implizit beim abhängigen Bauern an, der sich den Boden aneignet.³ Die landwirtschaftliche Arbeit ist für Hegel aber durch die Abhängigkeit »von der veränderlichen Beschaffenheit des Naturprozesses«, zu der das »Bedürfnis […] zu einer Vorsorge auf die Zukunft« in Konflikt steht, von geringer emanzipatorischer Reichweite; nicht »Reflexion und eigene[r] Wille« stützen die Bauern, sondern Gottvertrauen und Familienverband.⁴ Entsprechend ist der Bauernstand für Hegel der »substantielle oder unmittelbare« Stand.⁵ Das gilt selbst für eine zunehmende Industrialisierung der Landwirtschaft.⁶ Das Bild des Fundamentalen und Urwüchsigen, das sich hier andeutet, verwandelt sich im späteren 19. Jahrhundert (ohne Hegels Zutun) in die völkische Verherrlichung des Bäuerlichen als dauerhaftes Fundament des Staates, die im Nationalsozialismus ihren dunklen Höhepunkt findet.⁷

    Marx und Engels standen den Bauern ambivalent gegenüber und was eine mögliche revolutionäre Kraft angeht, zunächst weitgehend pessimistisch. Im Kommunistischen Manifest (1847/48) rechnen sie die Bauern den konservativen und reaktionären »Mittelständen« zu, die sich zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu behaupten suchen; es ist vom »Idiotismus des Landlebens« die Rede.⁸ Die im Manifest vorgeschlagenen Maßnahmen zur Kollektivierung der Landwirtschaft – wie das Marx-Engelssche Revolutionsdenken überhaupt – zielen mit dem Verschwinden der Klassen auf das Verschwinden des Bauern und auf die Auflösung der Differenz zwischen Stadt und Land ab.⁹

    Engels zeigt in seiner Schrift Der deutsche Bauernkrieg (1850), dass das Bild vom Bauern als Fundament des Staates wörtlich zu nehmen war. Zum frühneuzeitlichen Bauern schreibt er: »Auf dem Bauer lastete der ganze Schichtenbau der Gesellschaft: Fürsten, Beamte, Adel, Pfaffen, Patrizier und Bürger.«¹⁰ Der Bauer war Objekt: »Ob er der Angehörige eines Fürsten, eines Reichsfreiherrn, eines Bischofs, eines Klosters, einer Stadt war, er wurde überall wie eine Sache, wie ein Lasttier behandelt, und schlimmer.«¹¹ Zur fehlenden körperlichen und seelischen Selbstbestimmung kam die Schwierigkeit, sich zusammenzuschließen. Den zentralen Grund für das Scheitern der Bauernaufstände sieht Engels in der politischen Zersplitterung Deutschlands.¹²

    Marx’ Befund zum französischen Parzellenbauern des 19. Jahrhunderts stimmt in den Grundzügen mit Engels’ Beschreibung zum 16. Jahrhundert überein:

    Die Parzellenbauern bilden eine ungeheure Masse, deren Glieder in gleicher Situation leben, aber ohne in mannigfache Beziehung zueinander zu treten. Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse. Jede einzelne Bauernfamilie genügt beinah sich selbst, produziert unmittelbar selbst den größten Teil ihres Konsums und gewinnt so ihr Lebensmaterial mehr im Austausche mit der Natur als im Verkehr mit der Gesellschaft. Die Parzelle, der Bauer und die Familie; daneben eine andre Parzelle, ein andrer Bauer und eine andre Familie. Ein Schock davon macht ein Dorf, und ein Schock Dörfer macht ein Departement. So wird die große Masse der französischen Nation gebildet durch einfache Addition gleichnamiger Größen, wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet. Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse. Insofern ein nur lokaler Zusammenhang unter den Parzellenbauern besteht, die Dieselbigkeit ihrer Interessen keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und keine politische Organisation unter ihnen erzeugt, bilden sie keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt. Der politische Einfluß der Parzellenbauern findet also darin seinen letzten Ausdruck, daß die Exekutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet.¹³

    Der metaphorische Weg vom Bauern zur Kartoffel ist bei Marx kurz; auch er sieht den Grund für die beziehungslose Vermassung und die Politiklosigkeit der Bauern in der ökonomischen und politischen Parzellierung. Die Lösung verspricht die Kollektivierung.

    Engels’ späterer Text zur Bauernfrage in Frankreich und Deutschland (1894) zeichnet dazu ein noch konkreteres Bild. Engels betont regionale Unterschiede innerhalb der Landwirtschaftssysteme in Europa, die mit Klassenunterschieden innerhalb der jeweiligen Bauernschaft einhergehen, etwa Klein- und Parzellenbauern in Westdeutschland, Frankreich und Belgien, Mittelbauern in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, teilweise auch in Bayern, Großgrundbesitz mit Landarbeitern im ostelbischen Preußen und Mecklenburg.¹⁴ Brauchbar für die Revolution sei in erster Linie der Kleinbauer, in dem Engels einen »zukünftige[n] Proletarier« erkennt.¹⁵ Während der Großgrundbesitzer wohl gewaltsam enteignet werden müsse, ließe sich der Kleinbauer womöglich von der Kollektivierung überzeugen.¹⁶

    Mit der russischen Revolution finden die marxistischen Entwürfe zur Veränderung der Landwirtschaft direkten Niederschlag in der Realpolitik. Lenins Thesen zur Agrarfrage von 1920 greifen von Marx und Engels Vorgedachtes zur Rolle der Bauern für die proletarische Revolution sowie zur Kollektivierung der Landwirtschaft auf.¹⁷ Auch Lenin sieht die einzige Chance für den abhängigen Bauern in dessen Verbindung mit dem Industrieproletariat und die einzige Chance für die Revolution darin, dass »der Klassenkampf […] ins Dorf hineingetragen wird«¹⁸. Die Bauern unterteilt er, etwas anders als Marx und Engels, in die drei Gruppen »Landproletariat«, »Halbproletarier oder Parzellenbauern«, sowie, als größte Gruppe, die Klein- und Mittelbauern; Großgrundbesitzer und Großbauern rechnet er der Bourgeoisie zu.¹⁹ Die Kollektivierung soll »ganz allmählich, durch die Macht des Beispiels« erfolgen, im Fall der Großgrundbesitzer aber durchaus als bewaffneter »Kampf«.²⁰ Die Gewinnung der Bauern für die Revolution beschreibt Lenin aufgrund deren dem Kapitalismus geschuldeter »besonderer Geducktheit, Zersplitterung und oft halbmittelalterlicher Abhängigkeit«²¹ als große Hürde, die einer besonderen Didaktik bedarf:

    Wenn […] der Streikkampf noch unentwickelt und die Organisationsfähigkeit des Landproletariats noch schwach ist, so erfordert die Bildung von Deputiertensowjets auf dem flachen Lande eine langwierige Vorarbeit, nämlich die Schaffung von zumindest kleinen kommunistischen Zellen; eine intensive Agitation, durch welche die Forderungen des Kommunismus in gemeinverständlichster Form dargelegt und an Beispielen besonders krasser Erscheinungsformen der Ausbeutung und Knechtung erläutert werden […].²²

    Trotzki schreibt zehn Jahre später im Zusammenhang der russischen Februarrevolution von den Bauern als »Protoplasma, aus dem sich in der Vergangenheit die neuen Klassen differenzierten und in der Gegenwart weiter differenzieren«²³. Er beschreibt die Bauern als janusköpfig: Ein Gesicht sei dem Proletariat, eines der Bourgeoisie zugewandt; in politischen Ruhezeiten könne ihre Position vermitteln, in revolutionären müssten die Bauern sich für eine Seite entscheiden.²⁴ Wie Marx und Engels sieht Trotzki in der Parzellierung ein zentrales Problem für die Organisation der Bauern: »Die wirtschaftliche Zersplitterung macht die Bauern, die so entschlossen im Kampf gegen den konkreten Gutsbesitzer sind, ohnmächtig gegenüber dem verallgemeinerten Gutsbesitzer, dem Staate.«²⁵ Die Zwischenstellung der Bauern spielt in der Oktoberrevolution eine entscheidende Rolle; Trotzki zufolge überwand die sozialrevolutionäre Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die zum Untergang des Zarenreichs beitrug, zunächst die Klassenwidersprüche auf dem Land: »Der Landarbeiter plünderte den Gutsbesitzer, wobei er dem Kulak half. Das 17., 18. und 19. Jahrhundert der russischen Geschichte erhob sich auf den Schultern des 20. und drückte es nieder zur Erde.«²⁶ Der revolutionäre Druck reichte nicht aus; die Bourgeoisie behielt die Oberhand, bis sich die Bauern mit dem Industrieproletariat verbündeten:

    Dadurch befreite sich das 20. Jahrhundert nicht nur von den auf ihm lastenden früheren Jahrhunderten, sondern erhob sich auf deren Schultern zu einer neuen historischen Höhe. Damit der Bauer den Boden säubern und von Zäunen befreien konnte, musste an die Spitze des Staates der Arbeiter treten: Dies ist die einfachste Formel der Oktoberrevolution.²⁷

    Sergej Tretjakow schreibt zur gleichen Zeit, die Neuaufteilung des Bodens sei die bäuerliche Oktoberrevolution.²⁸

    Tatsächlich nahm das Projekt der Kollektivierung der Landwirtschaft unter Stalin vor dem Hintergrund einer Getreidekrise und dem Widerstand vieler Bauern gegen die Vergemeinschaftung und die radikale Veränderung gewachsener Dorfstrukturen einen blutigen Ausgang. Vorher fließende und unstete Differenzierungen innerhalb der Bauernschaft – in Kulaken, Mittelbauern, arme Bauern – wurden nicht nur auf der Grundlage der klassentheoretischen Thesen Marx’, Engels’ und Lenins in ihren Konturen geschärft; sie wurden vielfach zu willkürlichen Zuschreibungen, die Enteignung und Verfolgung nach sich zogen.²⁹ Der sogenannten Entkulakisierung fielen um 1930 nach Schätzungen von Historikern mehrere hunderttausend Menschen zum Opfer.³⁰ Und der ökonomische und gesellschaftliche Plan ging nicht auf: Die Kollektivierung trug entscheidend zur schweren Hungersnot von 1932 bis 1934 bei, die Millionen Opfer kostete.³¹

    In der DDR begann die Bodenreform um 1950 zunächst unter dem Vorzeichen der Entnazifizierung, der Steigerung bäuerlicher Selbstbestimmung sowie der Politisierung des Ländlichen; Großgrundbesitzer, die als Unterstützer oder Profiteure des NS-Systems galten, wurden enteignet; das Land wurde Kleinbauern zur Vergrößerung ihrer Parzellen und Flüchtlingen, die sich als Neubauern ansiedelten, zugeteilt.³² Die radikale Neuordnung stieß mancherorts auf Widerstand bei Dorfbewohnern, die an informellen Dorfstrukturen, gewachsenen sozialen Geflechten und nicht zuletzt an Eigeninteressen festhalten wollten; häufig führten zudem fehlendes Wissen, mangelhafte Planung, fehlende Ausstattung und lokale agrarische Besonderheiten dazu, dass die am Reißbrett entworfene Reform fehlging.³³ Für die DDR-Führung war sie ohnehin nur der erste Schritt zur grundlegenden Transformation von Landwirtschaft und Dorfleben nach dem Vorbild der Sowjetunion.³⁴ Der Schlüssel wurde auch hier in der vollständigen Kollektivierung gesehen. Über den Weg einer »Macht des Beispiels« in Lenins Sinne war dem Projekt ein geringer Erfolg beschieden. Negative Folgen der Kollektivierung führten dazu, dass sich am 17. Juni 1953 auch viele Bauern auflehnten.³⁵ Ab Mitte der 1950er Jahre wurde auch in der DDR gewaltsam kollektiviert. Wer sich den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPGs) nicht freiwillig anschloss, kam zwar, anders als in der Sowjetunion, nur in seltenen Fällen zu Tode, wurde aber gleichwohl Opfer von Verfolgung in Form von Diffamierung, Kriminalisierung, Anprangerung, Bedrängung und Drohung mit ›Liquidierung‹.³⁶ Wirtschaftlich wie gesellschaftlich musste die Zwangskollektivierung scheitern; Historiker sehen sie heute im Zusammenhang mit den Entwicklungen, die in der DDR-Führung zum Mauerbau beigetragen haben.³⁷

    Müllers Bauern

    Die Bauernfiguren im Werk Heiner Müllers zeugen von den historischen Prozessen und ihren Widersprüchen, von der Spannung zwischen Widerstand und Opportunismus, von Aufstand und Arbeit, von dörflicher und staatlicher Ordnung. Einer vermeintlichen Geschichtslosigkeit der Bauern setzt Müller eine Literatur- und Theatergeschichte als Erfahrungsgeschichte entgegen, aber auch eine literarische Arbeit an den historischen Quellen und dem eigenen Erfahrungsraum des »Leben[s] in zwei Diktaturen«. Müller gräbt übersehene Bauern der Literaturgeschichte aus – im Mythos von Orpheus, in Shakespeares Macbeth – und widmet sich vor allem dem blutigen Verhältnis von Revolution und Landwirtschaft in den sozialistischen Transformationsprozessen: in den Stücken Die Bauern/Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande (1956 – 1964) und Traktor (1955/1961/1974), am Rande u. a. auch in Mauser (1970) und Zement (1972). Müllers Werk enthält sowohl komplexere bäuerliche Einzelfiguren als auch Bilder einer undifferenzierten Bauernmasse im Hintergrund, aus der Figuren heraustreten und schönste Verse sprechen, aus der aber auch die Dummen kommen, die Stoff für Witze bieten, die namenlosen Erhängten und Ertränkten.

    Auch Müller denkt die Bauernschaft als ein Fundament des Politischen. Das Fehlgehen revolutionärer Bewegungen in der deutschen Geschichte hängt für ihn mit den gescheiterten Bauernaufständen zusammen. Im Januar 1990 sagt er im Gespräch mit Frank Raddatz:

    Das Scheitern von 1848 aber hängt mit dem Scheitern der ersten deutschen Revolution – den deutschen Bauernkriegen – zusammen. […] Seit dieser zu frühen Revolution herrscht in Deutschland die Tendenz zur Verspätung, kommt in Deutschland immer alles zu spät. Und die Verspätung bedingt es auch, daß sich die Energien nur noch in der Katastrophe entladen können.³⁸

    Der ernüchternde Befund spiegelt sich in den geringen oder ins Leere laufenden revolutionären Energien von Müllers Bauernfiguren. Unter den Bauern der Umsiedlerin³⁹ herrschen Streit und Neid, wobei die Korrumpiertheit vom Klein- zum Großbauern hin zunimmt. In Macbeth (1972) sterben die Bauern der Reihe nach weg oder werden selbst Teil des Kreislaufs der Grausamkeit. Häufig kennzeichnet Müllers Bauernfiguren ein Bild ewig wiederkehrenden Unglücks. So heißt es im Glücksgott (1958):

    BAUER Wir sind Bauern. Wir haben eine Mißernte gehabt usw. Wir haben zehn Kinder. Das ist meine Frau. Wir nehmen jetzt unsere Plätze ein. Musik.⁴⁰

    Der Auftrag (1979) wirft zwischen den Zeilen ein Licht auf die wechselhafte Rolle der Bauern in der Französischen Revolution. Galloudec, ein »Bauer aus der Bretagne« soll gemeinsam mit dem ehemaligen Sklaven Sasportas und Debuisson, Sohn von Sklavenhaltern, im Auftrag des französischen Konvents die Revolution nach Jamaika tragen.⁴¹ Das Vorhaben scheitert. Galloudec landet unter dem Messer von Schlächtern, Sasportas am Galgen, Debuisson verrät die Revolution. Zuhause schwingt sich Napoleon zum Kaiser auf. Das Stück rechnet auch den Preis der Revolution im Mutterland vor, wo »die Bauern totgeschlagen« wurden »für die Republik«.⁴²

    Das Scheitern der Revolutionen hat ein Pendant im Scheitern der Dichtung als politisches Medium. Müllers politisch-literarisches Projekt ist die Vermessung des Scheiterns, eine literarische Sisyphusarbeit, getragen von einem Funken dialektischer Hoffnung. An Müllers Bauernfiguren entzünden sich damit nicht nur politische, sondern auch ethisch-poetologische Fragen.⁴³

    Wie sich in Müllers Bauernfiguren Aspekte von Ästhetik und Politik, Geschichtlichkeit und Poetologie kristallisieren, möchte ich im Folgenden auffächern. Der Bauer erscheint dabei als Figur, mit der sich ein Horizont von der Antike bis zur Gegenwart aufspannen lässt und dem darüber hinaus seit jeher die Frage nach dem Verhältnis des Dichters zum Bauern eingeschrieben ist – von den Bauernepen Hesiods und Vergils bis zur Losung der Bolschewiki von 1928: »Schriftsteller in die Kolchose!«⁴⁴

    Sprachscham und Agrarromantik: Benjamins Walser

    Zum Klischee vom Bauern gehört dessen Einsilbigkeit. In einem kleinen Text über Robert Walser schreibt Walter Benjamin von »bäurische[r] Sprachscham«, nach Benjamin zwar ein schweizerisches Phänomen, vielleicht aber doch auf andere Zusammenhänge übertragbar. Benjamin erkennt es in der Schreibhaltung Walsers und illustriert es an einer Wirtshaus-Szene, die sich zwischen dem Maler Arnold Böcklin, dessen Sohn Carlo und dem Schriftsteller Gottfried Keller abgespielt haben soll:

    Von Arnold Böcklin, seinem Sohn Carlo und Gottfried Keller erzählt man diese Geschichte: Sie saßen eines Tages wie des öftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit langem berühmt. Auch diesmal saß die Gesellschaft schweigend beisammen. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge Böcklin: »Heiß ist’s«, und nachdem eine Viertelstunde vergangen war, der ältere: »Und windstill«. Keller seinerseits wartete eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: »Unter Schwätzern will ich nicht trinken.« Die bäurische Sprachscham, die hier von einem exzentrischen Witzwort getroffen wird, ist Walsers Sache.⁴⁵

    Weder Böcklin noch Keller haben einen bäuerlichen Hintergrund; Böcklin ist Kaufmanns-, Keller Handwerkersohn. Robert Walsers Vater war Buchbinder. Es geht Benjamin bei Walser auch gar nicht um ein bäuerliches Schreiben, sondern um ein Schreiben, das klingt, als läge ihm bäuerische Sprachscham zugrunde. Benjamin erwähnt Walsers Umarbeitung von Schillers Tell-Monolog unter dem Titel Tell in Prosa:

    Hohlweg bei Küßnacht. Tell tritt zwischen den Büschen hervor.

    TELL Durch diese hohle Gasse, glaube ich, muß er kommen. Wenn ich es recht überlege, führt kein andrer Weg nach Küßnacht. Hier muß es sein. Es ist vielleicht ein Wahnsinn, zu sagen: hier muß es sein, aber die Tat, die ich vorhabe, bedarf des Wahnsinns. Diese Armbrust ist bis jetzt nur auf Tiere gerichtet gewesen, ich habe friedlich gelebt, ich habe gearbeitet, und wenn ich müde von der Anstrengung des Tages gewesen bin, habe ich mich schlafen gelegt. Wer hat ihm befohlen, mich zu stören, auf wessen Veranlassung hin hat er mich drücken müssen?⁴⁶

    Auch Tell ist kein Bauer. Bis er ›gedrückt‹ wird, ist er bei Walser durch und durch Jäger; die Waffe scheint mehr Werkzeug und dient allein der Jagd; der Takt menschlicher und tierischer Körper bestimmt den Lebensrhythmus. Der Bruch dieser Ordnung offenbart die Sprachscham.

    Benjamins Begriff setzt einen Sprechgestus ins Bild, der sich im Wortsinn als der eines Exzentrikers bezeichnen ließe, eines Herausgetretenen aus dem gewöhnlichen Zusammenhang, einem Zusammenhang, in dem es keine Notwendigkeit für das Sprechen gibt, weswegen es nicht geübt wird. Der Herausgetretene und zum Sprechen Gekommene findet sich in einem Raum grenzenloser Thematisierbarkeit, für die er keine Form besitzt. Haltlos ist sein Sprechen, dazu durchzogen von Trauer über den Verlust des Schweigens, in dem er heimisch war. Das Zur-Sprache-Kommen bedingt so einen Verlust bäuerlichen Selbstverständnisses, zu dem hier Sprachlosigkeit, Diskurslosigkeit gezählt wird. »Spricht der Bauer, so spricht, ach! schon der Bauer nicht mehr«, ließe sich Schiller umwenden.⁴⁷ In Benjamins Darstellung scheint die bäuerliche Sprache in dieser sozialromantischen Figur aufzugehen. Durch die erfolgreiche eidgenössische Freiheitsbewegung hat sie ein historisches Fundament; weit über die Schweiz hinaus trägt es nicht.

    Rhythmische Arbeit: Ehm Welk, die Umsiedlerin Niet

    Müller stellt jeder Agrarromantik die Verflechtung von Landwirtschaft, Politik/Krieg und Dichtung entgegen. Er weiß um die Gefahr, in eine »Blut und Boden«-Ästhetik abzurutschen, die er auch bei DDR-Schriftstellern erkennt.⁴⁸ Ein Moment nichtkorrumpierter Landwirtschaft enthält einer der frühen journalistischen Texte Müllers für den Sonntag. Es handelt sich um ein Zitat. Im August 1954 schreibt Müller den Artikel »Vom Bauernjungen zum Schriftsteller« über den uckermärkisch-pommerschen Dichter Ehm Welk (1884 – 1966). Müller zitiert darin eine Stelle aus Welks Erzählband Mein Land, das ferne leuchtet (1952). Sie handelt von der Schönheit einer Form landwirtschaftlicher Arbeit, die im Verschwinden begriffen ist:

    Schönste aller Mannesarbeit, da die weitausschwingende Sense den Körper bewegt und nicht der Körper die Sense, da im Rhythmus der Halbkreise eine wellende Girlande über das Feld zieht und das fallende Korn dem Stahl ein besonders abgestimmtes Klingen entlockt, als spiele ein Gigant fern die Harfe. Und darüber, als seien die Töne sichtbar geworden, der zitternde Glast der Sommersonne: herrlichste Symphonie des Friedens.⁴⁹

    Wie Welk Landwirtschaft als organische Arbeit zeigt, bei der es zu einer innigen Anverwandlung ans Werkzeug kommt, zu einem synästhetischen Rhythmus in Bild und Klang, der von göttlicher Harmonie ist, erinnert an die 2.700 Jahre alten Bauernratschläge aus Hesiods Werke und Tage.⁵⁰

    In Müllers literarischen Texten finden sich nur noch brüchige Spuren solcher Bilder. Einem positiven Bauernbild nahe kommt allein die »Umsiedlerin« Niet gegen Ende des Stücks, als sie nach langer Knechtschaft und vielgestaltiger Demütigung gemeinsam mit der gebeutelten Flinte 1 in weiblicher Solidarität eigenständig ein Stück Land bestellen kann und eine neue Abhängigkeit in der Ehe

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1