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Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors: Band 4
Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors: Band 4
Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors: Band 4
Ebook916 pages11 hours

Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors: Band 4

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About this ebook

Die große Säuberung von 1936 bis 1938 in der Sowjetunion war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch. Es handelte sich vielmehr um präventiven Bürgerkrieg gegen jene sowjetische und ausländische Kommunisten, die potentiell oder tatsächlich eine Alternative zu Stalins totalitärem Regime boten. Wadim Rogowins '1937 – Jahr des Terrors' beschreibt einen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion. Fast alle Kommunisten, die sich aktiv an der Oktoberrevolution beteiligt hatten oder unter ihrem Einfluss in die Politik gekommen waren, fielen dem stalinschen Terror zum Opfer und wurden ersetzt durch Karrieristen, die ihren Aufstieg der aktiven Beteiligung an den Fälschungen, Verfolgungen und Misshandlungen verdankten. Die gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses politischen Völkermords waren verheerend: Die Vernichtung einer Generation von Kommunisten und ihrer Familienangehörigen löschte das soziale und das historische Gedächtnis der Bevölkerung aus; der Terror erstickte auf lange Zeit die Bereitschaft, das Bestreben und die Fähigkeit, auf ehrliche Art nach neuen Ideen zu suchen.
In der Sowjetunion war das Thema des großen Terrors bis Ende der achtziger Jahre für objektive Untersuchungen tabu. Die Werke, die darüber im Westen erschienen, litten unter grundlegenden Mängeln: Sie konnten sich – selbst wenn sie ehrlich waren – nur auf eingeschränkte historische Quellen stützen; die meisten dienten aber schlichtweg den ideologischen Vorgaben des Kalten Krieges. Rogowins umfangreiche Untersuchung über den großen Terror stützt sich auf Materialien aus sowjetischen Archiven sowie eine Vielzahl von neuen Memoirenquellen und begründet damit ein neues Kapitel der Geschichtsschreibung zur großen Säuberung.
LanguageDeutsch
Release dateJan 1, 1998
ISBN9783886347711
Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors: Band 4

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    Gab es eine Alternative? / 1937 - Jahr des Terrors - Wadim S Rogowin

    Impressum

    Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

    Der vorliegende Band ist Band 4 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.

    Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.

    Band 1: »Trotzkismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-080-4

    ePDF: ISBN 978-3-88634-880-0

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-780-3

    Band 2: »Stalins Kriegskommunismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-081-1

    ePDF: ISBN 978-3-88634-881-7

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-781-0

    Band 3: »Vor dem großen Terror – Stalins Neo-NÖP«

    Print: ISBN 978-3-88634-074-3

    ePDF: ISBN 978-3-88634-874-9

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-774-2

    Band 4: »1937 – Das Jahr des Terrors«

    Print: ISBN 978-3-88634-071-2

    ePDF: ISBN 978-3-88634-871-8

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-771-1

    Band 5: »Die Partei der Hingerichteten«

    Print: ISBN 978-3-88634-072-9

    ePDF: ISBN 978-3-88634-872-5

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-772-8

    Band 6: »Weltrevolution und Weltkrieg«

    Print: ISBN 978-3-88634-082-8

    ePDF: ISBN 978-3-88634-882-4

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-782-7

    Band 1 bis 6: »Gab es eine Alternative«

    Print: ISBN 978-3-88634-099-6

    ePDF: ISBN 978-3-88634-899-2

    eBook/MOBIISBN 978-3-88634-799-5

    Einführung

    Historiker –, sagt’ Hegel einstens,

    Propheten sind’s, mit scharfem Blick,

    Vorausschau halten sie, indem sie

    schaun ins Vergangene zurück. (B. Pasternak)

    Nach Chrustschows Bericht an den zwanzigsten Parteitag der KPdSU, der die ganze Welt in Erregung versetzte, waren die konsequentesten Anhänger des Sozialismus der Meinung, dass mit der offiziellen Enthüllung des großen Terrors der Jahre 1936 bis 1938 eine langfristige Arbeit begänne, die dazu führen würde, das Wesen des Stalinismus zu begreifen und ihn in allen sozialistischen Ländern und kommunistischen Parteien vollständig zu überwinden. Unter Verweis auf die überaus große Kompliziertheit dieser Aufgabe schrieb Bertolt Brecht: »Die Liquidierung des Stalinismus kann nur durch eine gigantische Mobilisierung der Weisheit der Massen durch die Partei gelingen. Sie liegt auf der geraden Linie zum Kommunismus.«[[1]]

    Analoge Gedanken äußerte der deutsche Dichter und Kommunist Johannes R. Becher, der konstatierte, dass der tragische Inhalt der Epoche des Stalinismus nicht mit der Tragödie irgendeiner vorangegangenen Epoche vergleichbar sei. »Diese Tragik kann man nur dann überwinden, wenn man sie auch als solche anerkennt und wenn die Kräfte, die auserwählt sind, sie zu überwinden, dieser Tragik Rechnung tragen.« Darin bestehe die Garantie, dass »das System des Sozialismus im gesamten Weltmaßstab in seiner Entwicklung nicht innehält«. Becher war zu Recht der Meinung, dass »diese Tragik nur von solchen Menschen vollständig vermittelt werden kann, die ein Teil dieser Tragik waren und versucht haben, gegen sie anzukämpfen. Von Menschen, die die gesamte Tragödie von innen heraus durchlebt haben, d.h. von denjenigen, die Sozialisten waren und immer Sozialisten geblieben sind.«[[2]]

    Leider war zur Zeit des zwanzigsten Parteitages in der Sowjetunion und in den ausländischen kommunistischen Parteien schon fast niemand mehr übrig geblieben, der sich eine wahrhaft kommunistische Mentalität erhalten hätte und in der Lage gewesen wäre, effektiv gegen den Stalinismus zu kämpfen. Die überwiegende Mehrheit war in den erbarmungslosen Säuberungsaktionen vernichtet worden. Fast alle damaligen Führer der KPdSU und der anderen kommunistischen Parteien waren in irgendeiner Art beschmutzt durch ihre Mitbeteiligung an den Stalinschen Verbrechen oder zumindest durch deren ideologische Rechtfertigung und Begründung, und ihre Denkweise war zutiefst von den Metastasen des Stalinismus zerfressen. Das musste natürlich auch auf den Inhalt von Chrustschows Bericht Auswirkungen haben, der im Prinzip nicht gegen den Stalinismus insgesamt gerichtet war, sondern lediglich gegen die ungeheuerlichsten Verbrechen Stalins. Die Konzeption dieses Berichts fand ihren Ausdruck in Behauptungen, wonach Stalin bis 1934 »… aktiv für den Leninismus gegen die Feinde der Leninschen Lehre eintrat und und diejenigen, die sie entstellten, verteidigte« und den Kampf anführte »gegen jene …, die versuchten, das Land vom einzig richtigen, dem Leninschen Weg abzubringen, … gegen Trotzkisten, Sinowjew-Leute und Rechte, gegen bürgerliche Nationalisten«. Erst nach der Ermordung Kirows, erklärte Chrustschow, begann Stalin, »der die Macht immer mehr missbrauchte, mit hervorragenden Funktionären der Partei und des Staates abzurechnen, terroristische Methoden gegen ehrliche sowjetische Menschen anzuwenden«.[[3]]

    Mehr noch, Chrustschow behauptete, Stalin habe sich bei seinem staatlichen Massenterror leiten lassen von der Verteidigung »der Interessen der Arbeiterklasse, der Interessen der werktätigen Massen, der Interessen des Sieges des Sozialismus und Kommunismus. Man kann nicht sagen, dass die Taten Stalins die eines gedankenlosen Despoten waren. Er meinte, dass man im Interesse der Partei der werktätigen Massen, um der Verteidigung der revolutionären Errungenschaften willen so handeln müsste. Darin liegt die wahre Tragödie!«[[4]]

    Aus diesen Worten folgte, dass der Stalinsche Terror angeblich nicht die Tragödie des sowjetischen Volkes und der bolschewistischen Partei gewesen sei, sondern eine Tragödie … der Person Stalins. Dieser Gedanke fand noch deutlicher seinen Niederschlag im Beschluss des ZK der KPdSU vom 30. Juni 1956 »Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen«, wo direkt gesagt wurde, dass in Ungesetzlichkeiten und der Anwendung »unwürdiger Methoden« die »Tragödie Stalins« bestand.[[5]]

    Von dieser falschen Version, die den sowjetischen Menschen in den Jahren des »Tauwetters« in das Bewusstsein gepflanzt wurde, sagte sich Chrustschow erst in seinen Memoiren Ende der sechziger Jahre los, wo er mehrfach auf die Einschätzung Stalins zurückkam. Hier nannte er Stalin direkt einen Mörder, der »kriminelle Verbrechen begangen hat, die in jedem Staat bestraft werden, ausgenommen diejenigen Staaten, die sich von keinen Gesetzen leiten lassen«.[[6]]

    Chrustschow schrieb zu Recht von einer »ziemlich bornierten Logik« derjenigen, die der Ansicht waren, Stalin hätte seine Verbrechen »nicht zu eigennützigen, persönlichen Zwecken verübt, sondern in Sorge um sein Volk. So ein Unsinn! In der Sorge um sein Volk die besten seiner Söhne umzubringen«.[[7]]

    Dazu sei noch ergänzt, dass Chrustschow seine Ansichten über die »Unsinnigkeit« und »bornierte Logik« durchaus auch auf einige seiner Äußerungen im Bericht an den zwanzigsten Parteitag und in einer Reihe der nachfolgenden Reden und Aufsätze hätte beziehen können, die die drastischsten Einschätzungen dieses Berichts »abschwächten«.

    Im Kapitel seiner Memoiren »Meine Überlegungen zu Stalin« beurteilte Chrustschow die Ursachen für die »große Säuberung« und »Ausrottung« der Träger oppositioneller Stimmungen in Partei und Land durch Stalin prinzipiell anders als in seinen früheren offiziellen Reden und Aufsätzen. »Nachdem jener fortschrittliche Menschenschlag vernichtet war, der im zaristischen Untergrund unter der Leitung von Lenin gestählt wurde«, schrieb er, »kam es im weiteren zu einer durchgängigen Ausrottung der führenden Kader in der Partei, in den Sowjets, im Staat, in der Wissenschaft und im Militär sowie zur Ausrottung von Millionen einfacher Menschen, deren Lebensweise und Gedanken Stalin nicht gefielen … Einige von ihnen hörten natürlich auf ihn zu unterstützen, als sie sahen, wohin er uns schleppte. Stalin begriff, dass es eine große Gruppe von Personen gab, die ihm gegenüber oppositionell eingestellt waren. Oppositionelle Einstellung bedeutet aber noch keine antisowjetische, antimarxistische, antiparteiliche Einstellung.«[[8]]

    Damit gelangte Chrustschow, der über die Untersuchungsmaterialien zu den Stalinschen Verbrechen tiefreichende Überlegungen angestellt hatte, zu zwei wichtigen Schlussfolgerungen: 1. Innerparteiliche Opposition ist durchaus kein fatales Übel (was man den sowjetischen Menschen mehrere Jahrzehnte lang beizubringen versucht hatte). 2. Die antistalinschen Oppositionskräfte in den dreißiger Jahren waren durchaus zahlreich.

    In seinem Bemühen, die politische Bedeutung der großen Säuberung adäquat zu verstehen, erklärte Chrustschow diese Säuberung damit, dass Stalin mit den Grundlagen der marxistischen Theorie und der bolschewistischen politischen Praxis gebrochen hatte. Er wies direkt darauf hin, dass der Terror von Stalin entfesselt wurde »mit dem Ziel, die Möglichkeit auszuschließen, dass in der Partei irgendwelche Personen oder Gruppen zutage treten könnten, die die Partei zur Leninschen innerparteilichen Demokratie zurückführen und das Land in Richtung demokratischer Gesellschaftsaufbau führen wollten … Stalin sagte, das Volk sei Stalldung, eine gestaltlose Masse, die den Starken hinterherlaufen würde. Und er zeigte diese Stärke, indem er alles vernichtete, was dem wahren Verständnis für die Ereignisse und klugen Überlegungen, die seinem Standpunkt widersprachen, irgendwelche Nahrung hätten geben können. Genau darin bestand die Tragödie der UdSSR.«[[9]]

    Hier nannte Chrustschow zum ersten Mal den großen Terror nicht Stalins Tragödie, sondern eine Tragödie des Landes und des Volkes.

    Davon, wie kompliziert es für Chrustschow war, sich vom Stalinschen Mythos zu befreien, spricht der Umstand, dass er sogar auf diesen Seiten seiner Memoiren einige Fiktionen wiederholte, die in seinem Bericht an den zwanzigsten Parteitag enthalten waren. Er bezeichnete nach wie vor die Tätigkeit Stalins als »positiv in dem Sinne, dass er in seiner grundlegenden Geschichtsauffassung ein Marxist blieb, dass er ein Mensch war, welcher der marxistischen Idee ergeben war«. Da sich Chrustschow nur schwach in der marxistischen Theorie auskannte, traute er sich nur als Hypothese die »trotzkistische« These anzuführen: »Vielleicht war Stalin völlig degeneriert, trat generell gegen die Ideen des Sozialismus auf und richtete deshalb dessen Anhänger zugrunde?« – aber nur, um sogleich die Möglichkeit einer solchen Fragestellung kategorisch zurückzuweisen: »Absolut nicht. Stalin blieb prinzipiell den Ideen des Sozialismus treu.«[[10]]

    Im Endergebnis war Chrustschow in keiner Weise in der Lage, seine Einschätzungen abzuwägen, er blieb gefangen in der rein psychologischen, wenn nicht gar klinischen Erklärung der Stalinschen Terroraktionen: »Waren das etwa die Handlungen eines wirklichen Marxisten? Das war das Verhalten eines Despoten oder kranken Menschen … Für derartige Handlungen kann es keine Rechtfertigung geben … Andererseits blieb Stalin im Prinzip (aber nicht in seinen konkreten Taten) Marxist. Und wenn man sein krankhaftes Misstrauen ausschließt, seine Grausamkeit und seinen Verrat, hat er die Situation richtig und nüchtern eingeschätzt.«[[11]]

    So ließ die stalinistische Vergangenheit den aktivsten Initiator und Realisator der Entstalinisierung nicht los. Man braucht sich nicht zu wundern, dass es nach den langen Jahren, in denen die Breshnew-Suslowsche Führung die Beschäftigung mit dem Thema Stalinismus verboten hatte, und nach dem Chaos der »Perestroika« bei der »Bewältigung« unserer historischen Vergangenheit genau diese Ideen Chrustschows (wie auch überhaupt der Stalinisten) waren, die in den neunziger Jahren in den ehemaligen Sowjetrepubliken von vielen Parteien und Gruppierungen, die sich »kommunistisch« nennen, übernommen wurden.

    Die Version, dass der Argwohn Stalins, »der in Verfolgungswahn überging«, die Hauptursache für die große Säuberung gewesen sei, festigte sich in den historischen Arbeiten der zweiten Hälfte der fünfziger und der ersten Hälfte der sechziger Jahre.[[12]]

    Die Erklärung der »Jeshowstschina« [*]

    durch persönliche pathologische Eigenschaften Stalins war sogar für einige scharfsinnige Kenner der sowjetischen Geschichte unter den westlichen Sowjetologen und Persönlichkeiten der ersten russischen Emigration charakteristisch. Diese Version wurde detailliert erörtert im Briefwechsel zwischen den ehemaligen Menschewiki N. Walentinow und B. Nikolajewski. Ihre briefliche Diskussion zu diesem Thema entfaltete sich in den Jahren 1954 bis 1956, als offensichtlich wurde, dass der Staatsterror, die massenweisen Urteilsvollstreckungen aufgrund erfundener Anklagen durchaus kein notwendiges und untrennbares Attribut eines »kommunistischen Systems« sind. Buchstäblich in den Tagen unmittelbar nach Stalins Tod stoppten seine Nachfolger eine neue Terrorwelle, die in ihrem Ausmaß sogar den Terror der dreißiger Jahre zu übertreffen drohte. Einen weiteren Monat später wurde bekannt gegeben, dass der »Ärzteprozess« auf Fälschungen beruhte – eines der letzten Stalinschen Verbrechen. Anschließend sah man, dass die Nachfolger Stalins damit begannen, die in den Jahren und Jahrzehnten zuvor unschuldig Verurteilten freizulassen und zu rehabilitieren.

    Unter diesen Bedingungen war Walentinow bestrebt, Nikolajewski davon zu überzeugen, dass die »Jeshowstschina« voll und ganz das Produkt der Stalinschen Paranoia gewesen sei, d.h. einer psychischen Erkrankung, die sich darin äußert, dass man immer wiederkehrenden Wahnsinnsideen unterliegt. Zur Untermauerung dieser Version berief sich Walentinow auf eine Aussage, die angeblich von W.I. Meshlauk, einem Mitglied des ZK der KPdSU (B), ausging, der mit Hilfe seines Bruders – dieser reiste 1937 zur Weltausstellung nach Paris – eine Mitteilung über Stalins Krankheit (Paranoia) »mit einer Vielzahl verschiedener wichtiger Details«[[13]]

    ins Ausland übermittelt haben sollte.

    In seiner Antwort an Walentinow stimmte Nikolajewski zu, dass Stalin in seinen letzten Lebensjahren »das Maß der Dinge verlor und sich aus dem ›genialen Dosierer‹, für den ihn Bucharin hielt, in jemanden verwandelte, der das Verständnis für die Realität verloren hatte«. Nikolajewski widersprach nur den Versuchen, »diese Linie in die Vergangenheit zu ziehen, um die ›Jeshowstschina‹ zu erklären, die ein verbrecherischer, aber genau kalkulierter und (aus seiner Sicht) richtig dosierter Akt zur Vernichtung seiner Gegner war, die ihn sonst selbst beseitigt hätten«.[[14]]

    Zur Begründung seiner Version über den Widerstand von Bolschewiki gegen den Stalinismus bezog sich Nikolajewski entweder auf wenig bedeutsame Fakten (die Ernennung Bucharins zum Redakteur der »Iswestija« 1934 und Bucharins Propagierung eines auf den »proletarischen Humanismus« gerichteten Kurses) oder auf deutlich zweifelhafte Informationen (»von 1932 an hatte Stalin keine Mehrheit mehr im Politbüro und auf dem ZK-Plenum«). Jedoch Nikolajewskis Gedanke an sich, »die ganze ›Jeshowstschina‹ war ein teuflisches, genau berechnetes Spiel, eine Greueltat, aber kein Wahnsinn«,[[15]]

    hat wohl seine Berechtigung. In Fortführung dieses Gedankens bemerkte Nikolajewski: »Leuten wie Meshlauk schien es, dass die Säuberung absolut keinen Sinn habe und Stalin verrückt geworden sei. In Wirklichkeit war Stalin nicht verrückt und verfolgte eine ganz bestimmte Linie. Zur Schlussfolgerung, er müsse die Schicht der alten Bolschewiki vernichten, kam Stalin spätestens im Sommer 1934, und er ging sofort an die Vorbereitung dieses Vorhabens.«[[16]]

    Nikolajewski schrieb, er könnte beipflichten, Stalin als Paranoiker einzustufen, wenn dieser im Widerspruch zu seinen Interessen gehandelt hätte. Auf den ersten Blick gab es durchaus einen solchen Widerspruch. Im unmittelbaren Vorfeld des unerbittlich näher rückenden Krieges vernichtete Stalin nicht nur die überwiegende Mehrheit der Partei- und Staatsführer sowie Tausende Betriebsleiter, Ingenieure und Wissenschaftler, die für die Landesverteidigung arbeiteten, sondern auch fast die gesamte oberste Armeeführung, die zur Verteidigung des Landes gegenüber einer ausländischen Invasion gebraucht worden wäre. Eine tiefer reichende Analyse zeigt jedoch, dass die große Säuberung voll und ganz der Aufgabe entsprach, Stalin die uneingeschränkte Macht über die Partei, das Land und die internationale kommunistische Bewegung zu erhalten. Wie Nikolajewski zu Recht feststellte, verfolgte Stalin eine »verbrecherische Politik, aber die einzige, bei der sich die Diktatur halten konnte. Sein Handeln wurde von dieser Politik bestimmt. Er betrieb den Terror nicht mit dem Wahnsinn eines Caligula, sondern weil er ihn zu einem Faktor seiner aktiven Soziologie gemacht hatte … Er brachte Millionen um und löschte insbesondere die gesamte Schicht der alten Bolschewiki aus, da er erkannt hatte, dass diese Schicht gegen seinen ›Kommunismus‹ war … Das ZK des siebzehnten Parteitages und die Teilnehmer dieses Parteitages wurden von Stalin beseitigt, nicht weil er verrückt gewesen wäre, sondern weil er die Absichten seiner Gegner erriet … Als nicht normal möchte ihn jetzt Chrustschow charakterisieren, für den es günstiger ist, alles auf den Wahnsinn einer einzigen Person zu schieben, als zuzugeben, dass er an den Verbrechen der Bande beteiligt war.«[[17]]

    Von besonderem Interesse bei Nikolajewskis Überlegungen ist der Gedanke, es habe in der psychischen Verfassung Stalins Unterschiede zwischen dem Ende der dreißiger Jahre und dem Anfang der fünfziger Jahre gegeben. Von Stalins Verfolgungswahn und anderen pathologischen Erscheinungen in den letzten Lebensjahren schrieb und sprach nicht nur Chrustschow, sondern dies erwähnten auch Personen, die Stalin sehr nahestanden und nicht beabsichtigten, ihn zu diskreditieren. Molotow erklärte dem Schriftsteller F. Tschujew mit aller Bestimmtheit, »er (Stalin) litt in seinem letzten Lebensabschnitt an Verfolgungswahn«.[[18]]

    »Im Zenit seines Ruhmes und seiner Macht war mein Vater weder zufrieden noch glücklich gewesen«, schrieb S. Allilujewa. »Siebenundzwanzig Jahre war ich Zeuge der geistigen Zerstörung meines Vaters und beobachtete Tag für Tag, wie ihn alles Menschliche verließ und er immer mehr zu einem finsteren Monument seiner selbst wurde … Er war auf die ganze Welt erbost und traute niemandem mehr.«[[19]]

    Im Gegensatz dazu hielt Stalin 1937 den gesamten riesigen Mechanismus zur Durchsetzung des Staatsterrors unter seiner unablässigen und wirksamen Kontrolle. Ohne auch nur für eine Minute diese Kontrolle zu verlieren oder abzuschwächen, zeigte er in seinem Handeln keine paranoide Ruhelosigkeit und Panik, sondern im Gegenteil eine erstaunliche, übermenschliche Selbstbeherrschung und genauestes Kalkül. »In den dreißiger Jahren führte er die Unternehmung ›Jeshowstschina‹ mit großer Genauigkeit (von seinem Standpunkt aus betrachtet) durch; da er alles vorbereitet hatte und seine Gegner unerwartet packte, konnten diese ihn nicht verstehen«, schrieb Nikolajewski zu Recht. »Selbst viele seiner Anhänger verstanden ihn nicht.«[[20]]

    Das Rätsel um den großen Terror löste auch bei vielen herausragenden Personen, die weit außerhalb der Politik standen, brennendes Interesse aus. Im Roman »Doktor Shiwago« lässt Boris Pasternak seinen Helden folgendes sagen: »Ich meine, die Kollektivierung war eine falsche, eine missglückte Maßnahme, aber den Fehler konnte man schlecht eingestehen. Um den Misserfolg zu verheimlichen, musste man den Menschen mit allen Mitteln der Einschüchterung das Denken und Urteilen abgewöhnen und sie dazu nötigen, Dinge zu sehen, die es gar nicht gab und die dem Augenschein widersprachen. Von hier stammte die beispiellose Härte der Politik, die Proklamation einer Konstitution, die jedoch nie verwirklicht wurde, die Einführung von Wahlen, die aber nicht nach dem Wahlprinzip aufgebaut waren.«[[21]]

    Diese Äußerungen zeigen eine auf den ersten Blick unerwartete Übereinstimmung mit den Ansichten Trotzkis, der mehrfach darauf verwies, dass es zwischen dem großen Terror und der großen Unzufriedenheit im Lande nach der Zwangskollektivierung einen Zusammenhang gebe und dass die barbarische Säuberung mit dem liberalen Dekor der »demokratischsten Verfassung in der Welt« verhüllt werden sollte, die ausschließlich der Propaganda und Maskierung diente.

    Wie Pasternak die Tragödie der Jeshowstschina erklärt, lässt eine eindeutige Nähe auch zu den Prognosen Lenins aus dem Jahre 1921 erkennen. Bei seinen Überlegungen zu den Alternativen, die damals vor Sowjetrussland standen, sah Lenin zwei Auswege aus den angehäuften Widersprüchen: »10–20 Jahre richtige Beziehungen mit der Bauernschaft, und der Sieg ist im Weltmaßstab (sogar bei einer Verzögerung der proletarischen Revolutionen, die anwachsen) gesichert, sonst 20–40 Jahre Qualen weißgardistischen Terrors. Aut – aut. Tertium non datur (Entweder – oder. Ein Drittes gibt es nicht).«[[22]]

    Die Stalinsche Clique war nicht in der Lage, richtige Beziehungen zur Bauernschaft zu garantieren, und rief auf der Suche nach einem Ausweg mit der Zwangskollektivierung die extrem zugespitzte Krise der Jahre 1928–1933 hervor. Anstatt als Vorbild, das als erstes Land der Welt den Weg des Sozialismus beschritten und dabei Stärke gezeigt hatte, anstatt als Musterbeispiel, wie es Lenin als eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Aufschwung der Weltrevolution angesehen hatte, stand die Sowjetunion im Bereich der Wirtschaft, des Sozialwesens, der Politik und des geistigen Lebens als Negativbeispiel da – es kam zu einem drastischen Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion und der Herstellung von Konsumgütern, zu einer Zunahme von Elend und Ungleichheit, zur Festigung des totalitären Regimes und zur Unterdrückung von abweichenden Gedanken, Kritik und ideologischer Suche. All diese Faktoren bewirkten zusammen mit einer fehlerhaften Politik der stalinisierten Komintern ein Abbremsen der sozialistischen Revolutionen in anderen Ländern – gerade in jener historischen Periode, als aufgrund der allumfassenden weltweiten Krise des kapitalistischen Systems die bisher günstigsten Bedingungen für einen Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung entstanden waren.

    Der in seinem Wesen weißgardistische Terror lässt sich etwa in den von Lenin genannten zeitlichen Rahmen von 25 Jahren (1928–1953) einordnen. Dieser Terror, der weitaus mehr Kommunisten vernichtete, als das die faschistischen Regime in Deutschland und Italien vermochten, vollzog sich in einer spezifischen und von den Marxisten nicht vorher gesehenen politischen Form: Er erfolgte aus dem Inneren der bolschewistischen Partei heraus, im Namen und mit den Händen ihrer Führer.

    In dem Maße, wie sich die Partei von den wirklich oppositionellen Elementen reinigte, richtete sich die Spitze dieses Terrors gegen jenen Teil der Bürokratie, der Stalin dazu verholfen hatte, die Höhen der Macht zu erklimmen. Den sozialen Sinn dieses Stadiums der großen Säuberung sah Trotzki darin: »Die regierende Schicht hat alle jene aus ihrer Mitte ausgestoßen, die sie an die revolutionäre Vergangenheit erinnerten, an die Prinzipien des Sozialismus, an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, an die ungelösten Aufgaben der Weltrevolution … In diesem Sinne steigert die Säuberung die Einheitlichkeit der regierenden Schicht und festigt gleichsam Stalins Position.«[[23]]

    Die grausame Säuberung der regierenden Schicht von fremden Elementen, d.h. von Menschen, die in ihrem Bewusstsein den Traditionen des Bolschewismus treu geblieben waren, hatte als Folge eine immer größere Diskrepanz zwischen der Bürokratie und den Massen und einen immer schnelleren Niedergang des intellektuellen und des sittlichen Entwicklungsstands der Parteimitglieder, Heerführer, Wissenschaftler usw. »Alle fortschrittlichen und schöpferischen Elemente, die wirklich den Interessen der Wirtschaft, der Volksbildung oder der nationalen Verteidigung ergeben sind, geraten unweigerlich in Widerspruch zur regierenden Oligarchie«, konstatierte Trotzki. »So war es seinerzeit unter dem Zarismus, so passiert es, allerdings mit unvergleichlich höherer Geschwindigkeit, jetzt unter dem Regime Stalins. Wirtschaft, Kultur und Armee brauchen Initiatoren, Erbauer, schöpferische Menschen, der Kreml braucht treue Vollstrecker, zuverlässige und unbarmherzige Werkzeuge. Diese Menschentypen – Werkzeug und Schöpfer – stehen einander feindlich gegenüber.«[[24]]

    Diese Ablösung sozialer Typen im Verlaufe der großen Säuberung 1936–1938 konstatierten selbst antikommunistische Autoren, welche die Möglichkeit hatten, die Folgen der Stalinschen »Kaderpolitik« zu beobachten. So betonte der frühere sowjetische Apparatschik M. Voslensky, der in den Westen überlief und dort zum Spezialisten für Fragen der Sowjetelite wurde, dass im Verlauf der großen Säuberung jene vernichtet wurden, »die an die Wahrheit des Marxismus und an die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft glaubten. An der Spitze der Gesellschaft wurden die Kommunisten aus Überzeugung durch nominelle ›Kommunisten‹ abgelöst.« Für die Apparatschiki des Jahres 1937 und der darauf folgenden Jahre war »die Frage nach der Richtigkeit der marxistischen Lehre … völlig uninteressant; den Glauben an den Marxismus ersetzten sie durch die marxistische Terminologie und eine Unzahl von Zitaten. Die zur Macht drängenden Stalinschen Karrieristen beteuerten zwar lautstark, dass der Kommunismus die lichte Zukunft der Menschheit sei. Aber in Wirklichkeit strebten sie nichts weniger an, als die Errichtung einer Gesellschaft, in der alle tatsächlich nach ihren Fähigkeiten arbeiten und nach ihren Bedürfnissen entlohnt werden würden.«[[25]]

    In der darauf folgenden Generation erzeugte dieses soziale Milieu gesetzmäßig solche Leute und zog sie groß, die in einem geeigneten Moment zu offenen Renegaten des Kommunismus wurden – Gorbatschow, Jelzin, Jakowlew, ebenso die meisten Präsidenten der neuen Staaten, die auf den Trümmern der Sowjetunion entstanden.

    Die politische Bedeutung und die politischen Ergebnisse der großen Säuberung wurden bereits Ende der dreißiger Jahre von den ernsthaftesten westlichen Analytikern adäquat eingeschätzt. In einem Bericht des englischen Königlichen Instituts für auswärtige Beziehungen vom März 1939 hieß es: »Die innere Entwicklung Russlands tendiert zur Schaffung einer ›Bourgeoisie‹ von Managern und Beamten, die ausreichende Privilegien besitzen, um mit dem Status quo vollkommen zufrieden zu sein … Die verschiedenen Säuberungen können als Teil eines Prozesses betrachtet werden, mit dessen Hilfe alle jene ausgerottet werden, die für eine Veränderung des gegenwärtigen Zustands eintreten. Eine solche Interpretation lässt den Schluss zu, dass die revolutionäre Periode in Russland beendet ist, und die heutigen Herrscher nur danach streben, jene Vorteile, die ihnen die Revolution gebracht hat, zu bewahren.«[[26]]

    Das erklärt in vielem die Ursachen, weshalb das Stalinsche und das poststalinsche Regime immer noch so lebendig sind – ein halbes Jahrhundert nach der großen Säuberung, die das Land ausgeblutet und es seines in langen Jahren aufgebauten gigantischen intellektuellen Potenzials beraubt hat.

    Im Lichte des Gesagten lässt sich leicht einschätzen, was die ideologischen Manipulationen der heutigen »Demokraten« wert sind, die all diejenigen als Bolschewiki und Lenin-Anhänger bezeichnen, die irgendwann einmal führende Positionen in der regierenden Partei der UdSSR bekleideten – bis hin zu Breshnew, Tschernenko und Gorbatschow. Ablass erhalten lediglich die Parteibonzen, die alles verbrannt haben, was sie in der Vergangenheit angebetet hatten, und nun das anbeten, was sie verbrannt haben, d.h. den zoologischen Antikommunismus.

    In der Sowjetunion war das Thema des großen Terrors bis Ende der achtziger Jahre für objektive Untersuchungen tabu. Das Fehlen marxistischer Arbeiten zu dieser Problematik wie auch zum Problem des Stalinismus generell hatte letztendlich dazu geführt, dass die von J.R. Becher in den fünfziger Jahren geäußerte Prognose eintraf: Die Unfähigkeit, diesen drängenden Problemen der neuesten Geschichte eine marxistische Deutung zu geben, brachte Versuche hervor, die Entlarvung Stalins dafür zu nutzen, um »der neuen Gesellschaftsordnung einen Schlag zu versetzen und sie sogar allmählich, nach und nach zu beseitigen«.[[27]]

    Das geschah Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, als diese Versuche von Erfolg auf der ganzen Linie gekrönt waren.

    Solange derartige Themen in der sowjetischen offiziellen Wissenschaft tabuisiert waren, wurden sie von westlichen Sowjetologen und russischen Dissidenten verstärkt aufgearbeitet – auf deren Art. Jedem dieser Autoren könnte man unschwer zahlreiche faktische Fehler, Ungenauigkeiten, direkte Verfälschungen und Verzerrungen von Tatsachen nachweisen. Das lässt sich im wesentlichen durch zwei Ursachen erklären. Erstens dadurch, dass die historischen Quellen, über die diese Autoren verfügten, eingeschränkt waren. So beruht die umfangreiche Untersuchung R. Conquests »Der große Terror« im wesentlichen auf der Analyse sowjetischer Zeitungen und anderer offizieller Publikationen, ergänzt durch Verweise auf Erinnerungen einiger Personen, die sich aus der UdSSR absetzen konnten. Die zweite Ursache besteht darin, dass die meisten Sowjetologen und Dissidenten einen bestimmten sozialen und politischen Auftrag erfüllten – sie nutzten diese große historische Tragödie aus, um zu beweisen, dass es durch die »utopische« kommunistische Idee und die revolutionäre Praxis des Bolschewismus einfach zu dieser Tragödie hatte kommen müssen. Das veranlasste diese Forscher, jene historischen Quellen zu ignorieren, die im Widerspruch zu ihrer jeweiligen Konzeption und dem damit verbundenen Denkschema standen. Keiner der Antikommunisten, die die Moskauer Prozesse der Jahre 1936–1938 analysierten, machte sich die Mühe und berücksichtigte die »Aussagen« des Mannes, gegen den sich die Hauptanklage in allen Prozessen richtete, obwohl er nicht im Gerichtssaal anwesend war. In Solshenizyns »Archipel GULAG« gibt es beispielsweise absolut keine Verweise auf Arbeiten von Trotzki. Dieses Buch wie auch die näher an der Objektivität liegenden Werke Roy Medwedews, gehören zu einem Genre, das im Westen als »oral history« bezeichnet wird, d.h. zu Untersuchungen, die fast ausschließlich auf Berichten von Beteiligten an den beschriebenen Ereignisse beruhen. Dabei nutzte Solshenizyn den Umstand, dass viele der ihm zur Verfügung stehenden Erinnerungen von Insassen Stalinscher Lager nie veröffentlicht wurden, um sie ziemlich frei und nach seinem Dafürhalten zu interpretieren.

    Neben den Legenden, die von offenen Antikommunisten verbreitet wurden, existieren Legenden, die aus dem Lager der sogenannten »Nationalpatrioten« stammen und darauf hinauslaufen, dass man die Oktoberrevolution und den Bolschewismus ablehnt, während man Stalin anbetet und dessen Terroraktionen zu rechtfertigen versucht. Eine derartige »Weltanschauung«, die in den Jahren der »Perestroika« und des Jelzin-Regimes die Seiten der sowjetischen Presse überschwemmte, hatte sich seit dem Ende der sechziger Jahre in bestimmten Kreisen der sowjetischen Intellektuellen herausgebildet. Zu einer Art ideologischem Manifest dieser Strömung wurde der 1970 in der Zeitschrift »Molodaja gwardija« [»Junge Garde«] veröffentlichte Artikel von S. Semanow »Über relative und ewige Werte«. Der Autor, der damals noch keine Möglichkeit hatte, seine Treue zu den Idealen von »Autokratie, Orthodoxie und Volksverbundenheit« (die von den »Nationalpatrioten« als »ewige« »wahrhaft russische« Werte betrachtet werden) offen zu deklarieren, beschränkte sich darauf, die »nihilistischen« zwanziger den »patriotischen« dreißiger Jahren gegenüberzustellen.

    »Nunmehr ist klar ersichtlich«, schrieb Semanow, »dass sich im Kampf gegen die Zerstörer und Nihilisten in der Mitte der dreißiger Jahre ein Bruch vollzog. Wie viele Schimpftiraden prasselten rückwirkend auf diese geschichtliche Epoche nieder! … Mir scheint, dass wir uns bis jetzt noch nicht ganz bewusst sind, wie bedeutsam die gigantischen Veränderungen jener Zeit sind. Diese Veränderungen hatten einen äußerst vorteilhaften Einfluss auf die Entwicklung unserer Kultur.« Ohne dass es ihm auch nur eine Spur peinlich war, behauptete Semanow: »Gerade nachdem unsere Verfassung beschlossen worden war, die gewaltige soziale Fortschritte in Land und Gesellschaft legislativ verankerte, entstand die allgemeine Gleichheit der Sowjetbürger vor dem Gesetz. Und das war eine gigantische Errungenschaft! Alle ehrlichen Werktätigen unseres Landes waren nunmehr und für immer zu einem einheitlichen und monolithischen Ganzen zusammengefügt.«[[28]]

    In seinem Artikel nannte Semanow auch das »wichtigste Kriterium zur Einschätzung der heute ablaufenden gesellschaftlichen Erscheinungen«. Es bestand dem Autor zufolge darin, »ob die jeweilige Erscheinung zur Festigung unseres Staates beitrage oder nicht«.[[29]]

    Die Ideologie, die auf diesem »Kriterium zur Einschätzung« beruht, wurde in den Jahren der »Perestroika« und der »Reformen« auf den Seiten der Zeitschriften »Nasch sowremennik« [»Unser Zeitgenosse«], »Moskwa« und »Molodaja gwardija« umfassend dargelegt, und ihre Autoren nannten sich »Staatlichkeitsverfechter« [»Gosudarstwenniki«]. In ihren historisch-publizistischen Artikeln vereinten sich naturgemäß Hass auf den Bolschewismus und Begeisterung für Stalin. In seiner weiteren Entwicklung fügte sich dieses System von Ansichten organisch in die Ideologie der nationalen Bourgeoisie ein, die sich im Gegensatz zur Kompradorbourgeoisie und deren politischen Parteigängern sah. Der Kampf dieser beiden Fraktionen der sich herausbildenden russischen Bourgeoisie in den neunziger Jahren rückte alle sonstigen ideologischen Strömungen in den Hintergrund.

    Semanow wie auch die heutigen Funktionäre der »unversöhnlichen Opposition«, die ein Vierteljahrhundert später an seine Ideologie anknüpften, hatten genau erfasst, an welchem Punkt es in der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft zu einem sozialen, politischen und ideologischen Bruch kam. Die Einschätzung dieses Bruches trug bei ihnen jedoch einen ganz besonderen Charakter. Laut Semanows Logik war das erste glückliche Jahr in der sowjetischen Geschichte das Jahr 1937, als »die allgemeine Gleichheit der Sowjetbürger vor dem Gesetz« entstand und parallel zu dieser »Gleichheit« die Konsolidierung der Gesellschaft zu einem »einheitlichen und monolithischen Ganzen«. Zu jener Zeit konnte man eine solche »Gleichheit« jedoch nur im GULAG beobachten, wie A. Twardowski schrieb:

    »Wes Sohn, hat keine Bedeutung mehr,

    das Schicksal macht sie alle gleich,

    sei der Vater Minister oder Militär,

    Kulak oder Priester, arm oder reich.«[[30]]

    Wenn man die Vertreter der relativ kleinen Strömungen von »Staatlichkeitsverfechtern« außer acht lässt, sahen bis zu dem Zeitpunkt, als die Dissidenten der siebziger Jahre auftraten, die meisten sowjetischen Intellektuellen die Erscheinungen, die gemeinhin mit »1937« oder »Jeshowstschina« bezeichnet werden, als Tragödie des Landes und des Volkes an, nicht jedoch die Oktoberrevolution.

    In der Sowjetunion waren die Enthüllungen, die auf dem zwanzigsten Parteitag der KPdSU vorgebracht wurden, für kaum jemanden eine völlig neue Offenbarung. Sowohl das Ausmaß als auch der Charakter der Stalinschen Grausamkeiten waren Millionen sowjetischer Menschen bekannt. In den Jahren des Stalinismus retteten sich viele durch Selbstbetrug, der zum Überleben notwendig war, indem sie in ihrem Bewusstsein eine Kette von rationalen Begründungen knüpften, d.h. indem sie – wenn nicht ganz, so doch teilweise – den Stalinschen Terror mit einer gewissen politischen Zweckdienlichkeit rechtfertigten. In diesem Zusammenhang sei betont, dass eines der Ziele (und folglich auch eine Folge, ein Ergebnis) der »Jeshowstschina« darin bestand, das soziale, historische Gedächtnis des Volkes auszulöschen, das von Generation zu Generation durch die lebendigen Menschen weitergegeben wird. Im Umkreis der vernichteten Führer des Bolschewismus bildete sich eine menschenleere Ödnis, da nach ihnen auch ihre Frauen, Kinder und engsten Mitarbeiter beseitigt wurden. Die Furcht, die der Stalinsche Terror auslöste, hinterließ ihre Spuren im Bewusstsein und Verhalten mehrerer Generationen von Sowjetbürgern, nahm vielen die Bereitschaft, das Bestreben und die Fähigkeit, nach ehrlichen neuen Ideen zu suchen. Zugleich machten die Henker und Denunzianten der Stalinschen Periode weiter Karriere, die ihr eigenes Wohlergehen und das ihrer Nachkommen darauf begründeten, dass sie sich aktiv an Fälschungen, Parteiausschlüssen, Misshandlungen usw. beteiligt hatten.

    Man kann jedoch die Veränderungen im Bewusstsein der Massen nicht hoch genug einschätzen, die durch die zwei Wellen der Enthüllungen des Stalinismus ausgelöst wurden: einmal auf dem zwanzigsten Parteitag und im Anschluss daran und zum zweiten auf dem zweiundzwanzigsten Parteitag und im Anschluss daran. Die zweite Welle wurde von der Breshnew-Suslow-Führung gestoppt, bald nachdem Chrustschow gestürzt worden war. Die letzten Werke der Belletristik, Forschungsberichte und publizistischen Artikel, die dem Thema des großen Terrors gewidmet waren, erschienen in der UdSSR in den Jahren 1965 und 1966.

    In die kurze historische Zeitspanne, die den zweiundzwanzigsten Parteitag von der Machtenthebung Chrustschows trennt, fällt die endgültige Herausbildung der sogenannten Generation der »Schestidesjatniki« [»Leute der sechziger Jahre«]. Herrscher über den Geist dieser Generation wurde nicht nur Solshenizyn, sondern auch eine junge Generation von Dichtern, die auf den berühmten Abendveranstaltungen im Polytechnischen Museum auftraten. In ihrer weiteren Entwicklung orientierten sich die meisten »Schestidesjatniki«, nachdem sie mehrere Stufen der ideellen Degeneration durchlaufen hatten, in Richtung Antikommunismus um und sagten sich von ihren vorangegangenen Werken als »Jugendsünden« los. Diese Umorientierung, die nichts hervorbrachte außer bösen und vulgären antibolschewistischen Verleumdungen, kann jedoch die unvergängliche Bedeutung ihrer frühen Werke nicht auslöschen, in denen die Ergebenheit gegenüber den Ideen der Oktoberrevolution und des Bolschewismus vorherrschend war. Gerade Anfang der sechziger Jahre schuf A. Wosnesenski sein Poem »Longjumeau«, das durchgängig im gesamten Text den Leninismus dem Stalinismus entgegenstellt. B. Okudshawa beschloss eines seiner besten Lieder mit den Zeilen:

    »Wenn’s aber plötzlich irgendwann

    mir nicht gelingt, mich zu beschützen,

    weil eine neue Schlacht nun wütet,

    von der der Erdball bebt und bricht –

    ich werde fall’n im Bürgerkrieg,

    der viele Jahre schon zurückliegt;

    ein Kommissar mit Helm und Stiefeln,

    der beugt sich schweigend über mich.«[[31]]

    Sogar Solshenizyn verfasste in den sechziger Jahren die antistalinistischen, aber durchaus nicht antikommunistischen Romane »Krebsstation« und »Im ersten Kreis der Hölle« (wobei sich die Version des zweiten Romans, die im Ausland erschienen ist, in ihrer ideologischen Ausrichtung von der Fassung unterscheidet, die in einer Samisdat-Ausgabe von Hand zu Hand ging und für die Veröffentlichung in der Zeitschrift »Novyj mir« [»Neue Welt«] vorgesehen war).

    Selbst in den besten Jahren des Tauwetters waren sich die denkenden Menschen im klaren darüber, dass die veröffentlichte und erlaubte Wahrheit über die Verbrechen des Stalinismus unvollständig war. In den fünfziger Jahren begegnete der Autor dieses Buches in persönlichen Gesprächen mehrfach der Meinung, dass die ganze Wahrheit über den großen Terror frühestens hundert Jahre später bekannt werden würde.

    Der Breshnew-Clique, die Chrustschow ablöste, erschien sogar die Interpretation des großen Terrors, wie sie in den Jahren des Tauwetters überwog, gefährlich. Deshalb tabuisierte sie einfach die Erörterung dieses Themas und die Bearbeitung der entsprechenden Stoffe in der belletristischen und historischen Literatur.

    Natürlich schrieben die Augenzeugen der Ereignisse aus den dreißiger Jahren auch weiterhin ihre Memoiren und die Schriftsteller, Wissenschaftler und Publizisten verfassten weiterhin Arbeiten zu diesen Themen. Die Wunde, die das Jahr 1937 gerissen hatte, war noch so weit offen und der Schmerz der Erinnerungen an den Stalinschen Terror brannte noch so stark, dass viele hervorragende Literaten und Memoirenschreiber jahrelang an Werken arbeiteten, die schließlich »in der Schublade« landeten, d.h. für die es keine Hoffnung gab, in absehbarer Zeit veröffentlicht zu werden. Dennoch kursierten in Samisdat bereits Ende der sechziger Jahre in großem Umfang Memoiren und schöngeistige Literatur, deren Veröffentlichung in der UdSSR offiziell verboten war. Danach begannen viele sowjetische Autoren ihre Werke zur Veröffentlichung ins Ausland zu geben.

    Die Rückkehr zum Thema Stalinsche Repressionen erfolgte in der offiziellen sowjetischen Presse erst ab dem Jahr 1986. Wie in den fünfziger und sechziger Jahren, so war die offizielle Sanktion der Hinwendung zu diesem Thema jedoch auch jetzt bei weitem nicht allein durch das Bestreben diktiert, die historische Wahrheit wiederherzustellen und sich vom Geschwür des Stalinismus zu befreien. Während beide »chrustschowsche« Enthüllungswellen in vielem durch Überlegungen im Kampf gegen die »antiparteiliche Gruppe« Molotow, Kaganowitsch und Malenkow ausgelöst worden waren, wurde die »Perestroika«-Welle durch andere konjunkturelle Erwägungen hervorgerufen: Man wollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den offenkundigen Misserfolgen der so großzügig gepriesenen »Perestroika« ablenken hin zu den tragischen Ereignissen der Vergangenheit, für die die neue Generation der Parteiführer keine Verantwortung trug.

    Der im Zuge der »Glasnost« hervorgebrochene Strom von Enthüllungen war in der ersten Zeit so gewaltig, dass die Öffentlichkeit in den Jahren 1987–1988 fast gänzlich von den Problemen der sowjetischen Geschichte aus der Stalinzeit in Anspruch genommen war. Daraus erklärt sich zum Großteil, weshalb plötzlich viel mehr Zeitungen abonniert wurden und folglich auch die Auflagenhöhe der Massenzeitungen sowie der belletristischen und gesellschaftlich-politischen Zeitschriften drastisch in die Höhe schnellte, die beständig immer neue Werke über die Stalinschen Verbrechen veröffentlichten.

    Sehr schnell zeigte sich jedoch, dass die Themen des großen Terrors und des Stalinismus von vielen Autoren und Presseorganen verwendet wurden, um die Idee des Sozialismus zu verunglimpfen und abzuwerten. Dieses antikommunistische, antibolschewistische Vorgehen war in vielfacher Hinsicht durch die Tätigkeit westlicher Sowjetologen und sowjetischer Dissidenten in den sechziger bis achtziger Jahren vorbereitet worden, die eine ganze Reihe historischer Legenden in Umlauf gesetzt hatten.

    Die historische Legendenbildung war immer ein ideologisches Hauptwerkzeug reaktionärer Kräfte. In der gegenwärtigen Epoche jedoch sind die historischen Legenden gezwungen, sich als Wissenschaft auszugeben, und für ihre Untermauerung müssen pseudowissenschaftliche Argumente gefunden werden. Ende der achtziger Jahre erhielten Legenden aus den ersten Jahrzehnten der Sowjetmacht ein zweites Leben in der sowjetischen Presse. Eine davon wiederholte de facto die Stalinsche Version aus dem Jahre 1936, wonach es pure Machtgier gewesen sei, die angeblich den Kampf Trotzkis und der »Trotzkisten« gegen den Stalinismus bestimmt habe. Wie diese Legende behauptet, habe sich die politische Doktrin des »Trotzkismus« nicht wesentlich von der »Generallinie« unterschieden, und falls im parteiinternen Kampf die Opposition gesiegt hätte, hätte sich deren Politik im Prinzip nicht von der Stalinschen abgehoben.

    Andere Legenden, deren Anfänge man bei den Ideologen der ersten russischen Emigration und den Renegaten des Kommunismus der zwanziger und dreißiger Jahre suchen muss, sind darauf gerichtet, die heroische Zeit der russischen Revolution in Misskredit zu bringen und mit Schmutz zu bewerfen. Um den Weg für die Wiederherstellung des Kapitalismus in der UdSSR ideologisch freizumachen, war es erforderlich, eine erhebliche Schicht des Massenbewusstseins abzutragen und Plus und Minus auszutauschen bei der Interpretation solcher Erscheinungen, die sich im Bewusstsein von Millionen sowjetischer Menschen mit Größe und Heldentum assoziieren, wie Oktoberrevolution und Bürgerkrieg. Es ist kein Zufall, dass sich etwa von 1990 an der Schwerpunkt der Enthüllungen bei der Kritik unserer historischen Vergangenheit von der Epoche des Stalinismus auf die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution verlagerte. Zum größten Schimpfwort wurde in den Werken sowohl der »Demokraten« als auch der »Nationalpatrioten« der unerwartet wieder aufgetauchte, halb in Vergessenheit geratene Begriff »Bolschewik«, den man mit voller Berechtigung eigentlich nur auf die Leninsche Generation der Partei und deren Mitglieder, die in den nachfolgenden Jahren nicht degenerierten, anwenden kann.

    Einen nicht geringen Beitrag zur Herausbildung dieser Legende leistete Solshenizyn, der in seinem Buch »Archipel GULAG« behauptete, bei der »Jeshowstschina« handle es sich um nur eine Strömung des »bolschewistischen Terrors«; nicht weniger schrecklich und von der gleichen Art seien Bürgerkrieg, Kollektivierung und Repressionen der Nachkriegsjahre gewesen.

    Es ist jedoch unumstritten, dass der Kampf des Volkes gegen den offenen Klassenfeind und gegen gut bewaffnete Verschwörungen, die im Bürgerkrieg, wo man die Front nur schwer vom Hinterland unterscheiden kann, unvermeidlich sind, – dass dies etwas ganz anderes war als der Kampf der herrschenden Bürokratie gegen die Bauern, die den größten Teil der Bevölkerung des Landes darstellten (und gerade zu einem solchen Kampf entwickelte sich die »durchgängige Kollektivierung« und die »Beseitigung der Kulaken als Klasse«). Der Kampf gegen die Bauern wiederum, die nicht selten auf die gewaltsame Kollektivierung mit bewaffneten Aufständen reagierten (solche Aufstände gab es in den Jahren 1928–1933 ständig), war etwas ganz anderes als die Vernichtung unbewaffneter Menschen, die in ihrer Mehrzahl der Idee und der Sache des Sozialismus ergeben waren. Was die Repressionen der letzten Kriegsjahre angeht, so waren diese nicht nur gegen unschuldige Menschen gerichtet, sondern auch gegen Tausende Kollaborateure und Angehörige von Banden (strenge Strafen gegen die Helfershelfer Hitlers wurden damals genauso in allen von der faschistischen Okkupation befreiten Ländern Westeuropas verhängt).

    Wenn die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg 1918–1920 ihr Ziel erreicht hätten, würde jeder unvoreingenommene Mensch die dargebrachten Opfer als gerechtfertigt ansehen – ähnlich wie ein Amerikaner von heute die Opfer als gerechtfertigt betrachtet, die in den revolutionären Kämpfen des 18. und des 19. Jahrhunderts gebracht werden mussten. In der UdSSR jedoch begann einige Jahre nach dem Bürgerkrieg, der zum Sieg der Sowjetmacht geführt hatte, de facto ein neuer Bürgerkrieg gegen die Bauern, der weniger von objektiven Klassengegensätzen ausgelöst wurde, als vielmehr von der fehlerhaften Politik der Stalinschen Führung. Gleichzeitig entfesselte die herrschende Bürokratie mehrere kleine Bürgerkriege gegen die kommunistische Opposition, die in den großen Terror der Jahre 1936–1938 mündeten.

    In der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft haben wir es also nicht mit einem, sondern mit mindestens drei Bürgerkriegen zu tun, die sich in ihrem Charakter und in ihren Folgen prinzipiell voneinander unterscheiden. Der Bürgerkrieg 1918–1920 führte das Land aus seinem Zustand der Zerrüttung, der Anarchie und des Chaos heraus, die nach der Februarrevolution immer mehr zugenommen hatten (diese Tatsache wurde sogar von Personen anerkannt, die den Bolschewiki nicht wohlgesonnen waren, wie Berdjajew und Denikin). Der Bürgerkrieg 1928–1933 war ein Krieg, der die UdSSR grundsätzlich schwächte, wenngleich er auch mit einer »Unterwerfung« der Bauern endete. Die »Jeshowstschina« war ein präventiver Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki Leninscher Prägung, die für die Erhaltung und Festigung der Errungenschaften der Oktoberrevolution kämpften. Dieser letzte Bürgerkrieg in der UdSSR (bis zum »schleichenden Bürgerkrieg«, mit dem die »Perestroika« zu Ende ging und der bis zum heutigen Tag andauert) forderte mehr Opfer als der Bürgerkrieg 1918–1920 und alle vorherigen und nachfolgenden Stalinschen Repressionen zusammengenommen.

    Um das Wesen großer historischer Ereignisse verstehen zu können, helfen gewöhnlich historische Analogien. Den Bürgerkrieg 1918–1920 kann man mit den Bürgerkriegen in anderen Ländern vergleichen, besonders mit dem Bürgerkrieg der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts in den USA. Trotzki fand so viele Gemeinsamkeiten in diesen Kriegen, dass er sogar die Absicht hatte, ein Buch zu schreiben, in dem er sie vergleichen wollte. Der Kampf gegen die aufständische Bauernschaft in den Jahren der Zwangskollektivierung erinnerte an den Kampf der revolutionären Armeen Frankreichs gegen die »Vendée«.

    Für die Erscheinung jedoch, die mit den Begriffen »1937«, »Jeshowstschina«, »großer Terror« und »große Säuberung« bezeichnet wird, lassen sich in der vorangegangenen Geschichte keine Analogien finden. Ähnliche Erscheinungen waren lediglich nach dem zweiten Weltkrieg in anderen Ländern zu beobachten, die sich sozialistisch nannten. Dazu zählen erstens die von Moskau aus inszenierten Säuberungen der regierenden kommunistischen Parteien, die um kein »volksdemokratisches« Land einen Bogen machten. Zweitens die sogenannte »Kulturrevolution« in China, die schon ohne irgendwelchen Druck seitens der Sowjetunion entstand. Die »Kulturrevolution«, die wie auch die »Jeshowstschina« zwanzig Jahre nach dem Sieg der sozialistischen Revolution begann, erzeugte die Vorstellung, es sei unvermeidlich, dass jedes sozialistische Land eine Etappe staatlichen Massenterrors durchmache.

    Die »große Säuberung« in der UdSSR und die »Kulturrevolution« in China unterscheiden sich sehr stark in den Formen, wie der Terror ausgeübt wurde. In China wurde er als das Aufflammen der spontanen Empörung der Massen, und besonders der Jugend, über das Verhalten der »mit Macht Ausgestatteten und einen kapitalistischen Weg Beschreitenden« dargestellt. Misshandlungen, Prügel und andere Formen der Gewaltanwendung an den Opfern der »Kulturrevolution«, hohe Partei- und Staatsfunktionäre eingeschlossen, erfolgten öffentlich, unter den Augen einer großen Volksmenge – durch die Hände der »Hun-Weij-Bin«, [**]

    denen alles erlaubt war und die gleichsam den Verstand verloren hatten angesichts der Macht, die sie über unbewaffnete Menschen besaßen. Die Hun-Weij-Bin kann man allerdings eher mit den Sturmtrupps Hitlers vergleichen als mit den Stalinschen Inquisitoren, die ihre blutigen Taten in den Folterkammern der Gefängnisse verübten.

    Trotzki, der einräumte, dass der große Terror auch in Form einer öffentlichen Urteilsvollstreckung an den »Volksfeinden« hätte ausgeübt werden können, konstatierte, dass es Stalin dieser »asiatisch grausamen« Variante gegenüber vorzog, seine Opfer zu beseitigen, indem er sowohl das Ausmaß als auch die bestialischen Formen der Repressionen vor dem Volk verheimlichte. »Für die Stalinsche Bürokratie«, schrieb er, »hätte es keine Mühe bedeutet, den Zorn des Volkes zu organisieren. Aber das hatte sie nicht nötig, im Gegenteil, sie sah in solchen, wenngleich auch von oben bestellten, eigenmächtigen Handlungen eine Gefahr für die öffentliche Ordnung. Misshandlungen in den Gefängnissen, Ermordungen – all das konnten die Thermidorianer des Kreml in streng geplanter Weise durchführen, über die GPU und deren Organe … Dies war möglich dank dem totalitären Charakter des Regimes, das über alle materiellen Mittel und Kräfte der Nation verfügte.[[32]]

    Das Jahr 1937 bestimmte die Entwicklung der historischen Ereignisse auf viele Jahre und Jahrzehnte im voraus. Dieses Jahr können wir sogar in noch größerem Maße »schicksalsträchtig« nennen (dieses Attribut ist gerechtfertigt, obwohl es von Gorbatschow ziemlich banalisiert wurde, der seine konfusen und ohne System ablaufenden Aktionen der »Perestroikazeit« als schicksalsträchtig bezeichnete) als die Oktoberrevolution. Wenn es die Oktoberrevolution nicht gegeben hätte, [***]

    wären sozialistische Revolutionen etwas später in Russland oder in anderen, entwickelteren Ländern ausgebrochen – infolge der extremen Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche in den zwanziger bis vierziger Jahren. Dabei hätte sich der revolutionäre Prozess erfolgreicher entwickelt, als es in der Realität der Fall gewesen ist, da die revolutionären Kräfte nicht von den stalinisierten kommunistischen Parteien gehemmt, demoralisiert und geschwächt worden wären.

    Das Jahr 1937 wurde schicksalsträchtig in einem zutiefst tragischen Sinn. Es fügte der kommunistischen Bewegung in der UdSSR und in der ganzen Welt Verluste zu, von denen sie sich bis heute noch nicht erholt hat.

    Die Tragödie von 1937 lässt sich nicht mit dem gängigen Aphorismus »jede Revolution frisst ihre Kinder« erklären, der durchaus keinen so tiefen Sinn hat, wie man ihm gemeinhin zuschreibt. So haben die bürgerlichen Revolutionen in Amerika ihre Kinder durchaus nicht gefressen und die von ihren Führern aufgestellten Ziele erreicht. Auch die Oktoberrevolution mit dem Bürgerkrieg als Begleiterscheinung fraß ihre Kinder nicht. Alle ihre Organisatoren, ausgenommen diejenigen, die durch den Feind umkamen, überlebten diese heldenhafte Epoche. Zum Untergang der Generation von Bolschewiki, welche die Volksrevolution angeführt hatten, kam es erst zwanzig Jahre nach ihrem Sieg.

    In diesem Buch werde ich nicht näher auf die Stoffe eingehen, die in anderen Untersuchungen hinreichend beleuchtet sind: die Anwendung physischer Folterungen bei der Ermittlung, die allgemeinen Lebensbedingungen in den Stalinschen Lagern u.ä. Besondere Beachtung finden hier jene Aspekte des großen Terrors, die in vieler Hinsicht bis zum heutigen Tage ein Rätsel geblieben sind: Wie war es möglich, dass in Friedenszeiten eine derart große Zahl von Menschen vernichtet werden konnte? Warum hat die herrschende Schicht zugelassen, dass man sie im Feuer der großen Säuberung fast vollständig vernichtete? Gab es in der Partei Kräfte, die versuchten, den Terror zu verhindern?

    Entsprechend dieser Aufgabenstellung umfasst das vorliegende Buch einen Zeitraum, der mit dem ersten Schauprozess beginnt (August 1936) und mit dem Plenum des ZK im Juni 1937 endet.

    Es erscheint als zweckmäßig, der konkreten Darstellung des historischen Materials eine gedrängte Darstellung der Konzeption dieses Buches vorauszuschicken. Der Leser hat somit die Möglichkeit, die Richtigkeit dieser Konzeption zu überprüfen, indem er die angeführten historischen Fakten durchdenkt und ihnen eine Wertung gibt.

    Die Oktoberrevolution als untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Weltrevolution war ein derart machtvolles historisches Ereignis, dass die bürokratische Reaktion darauf (der Stalinismus) ebenfalls monumentalen Charakter annahm, indem sie eine in der Geschichte noch nie da gewesene Anhäufung von Lügen und Repressionen hervorbrachte. Ihrerseits löste die Schmähung der Prinzipien und Ideale der Oktoberrevolution durch den Stalinismus in der UdSSR und im Ausland einen gewaltigen heroischen Widerstand seitens der politischen Kräfte aus, die der marxistischen Theorie und den revolutionären Traditionen des Bolschewismus treu geblieben waren. Und zur Unterdrückung dieses Widerstandes brauchte man eben den Terror, der in der Geschichte keine Analogien hinsichtlich seiner Ausmaße und seiner Bestialität kennt.

    Die Antikommunisten ignorieren diese tragische Dialektik, was dazu führt, dass sie den großen Terror als irrationales Phänomen interpretieren, hervorgebracht durch das »teuflische« Naturell der Bolschewiki, die angeblich besessen waren vom Verlangen nach sinnloser Gewalt, die auch die Ausrottung ihrer selbst einschloss.

    Die – wenngleich auch bei weitem noch nicht in vollem Umfang – in den letzten Jahren zugänglich gewordenen Materialien sowjetischer Archive ebenso wie die Veröffentlichung einer Vielzahl von neuen Memoirenquellen erleichterten dem Autor des vorliegenden Buches seine Aufgabe, den Mechanismus zu verfolgen, wie der große Terror entstand und sich ungestüm ausbreitete, und die Ursachen aufzudecken, infolge derer dieser Massenterror möglich wurde und Erfolg haben konnte.

    Der Autor ist sich darüber im klaren, dass er diese Forschungsaufgabe bei weitem nicht erschöpfend gelöst hat. Trotz zahlreicher und weiter zunehmender Veröffentlichungen von Archivmaterialien bleiben bei der Beleuchtung vieler Ereignisse des Jahres 1937 noch große Lücken. Der Autor hatte keinen Zugang zu den Untersuchungsakten, deren Analyse es möglich machen würde, das Stalinsche Amalgam auseinanderzunehmen – zu trennen, was in Wahrheit stattgefunden hat und was sich Stalin und seine Inquisitoren ausgedacht haben. Infolge fehlender Quellen sind einige Überlegungen des Autors historische Hypothesen, die er in seinen späteren Arbeiten umfassender zu begründen hofft. Der Autor bedankt sich im voraus bei den Lesern, die ihm helfen werden, diese Hypothesen auf der Grundlage neuer Materialien und Überlegungen zu präzisieren, zu konkretisieren oder zu dementieren.

    ***

    Bei der Sammlung des Materials für dieses Buch erhielten wir von russischen und ausländischen Lesern der vorhergehenden Bände aus der Serie »Gab es eine Alternative?« große Hilfe. Der Autor dankt M.W. Golowisnin, T.I. Isajewa-Woronskaja, J.W. Primakow, R.A. Medwedew (Moskau), S. Samulenkow (Riga), Michel Le Hevel (Paris), Frederic Choate (San Francisco), Felix Kreisel (Boston) und Frank Goodwin (Los Angeles).

    Kapitel 10 und 52 wurden unter Beteiligung von N.F. Naumowa, Kapitel 14 und 55 unter Beteiligung von M.W. Golowisnin verfasst.

    [*]

    Volkstümliche Bezeichnung für die Periode des großen Terrors nach dem NKWD-Chef Jeshow. – d.V.

    [**]

    Chinesische Bezeichnung für Rotgardisten – d.Ü.

    [***]

    Ein solcher historischer Verlauf wäre, wie Trotzki feststellte, möglich gewesen, wenn einige Zufälle eingetroffen wären: Wenn zum Beispiel Lenin im Oktober 1917 nicht in Petrograd gewesen wäre, dank dessen Autorität der Widerstand vieler führender Parteifunktionäre gegen den Kurs zur sozialistischen Revolution erfolgreich überwunden wurde. – d.V.

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    B. Brecht, Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. VIII, Schriften 2, Frankfurt /Main 1967, S. 882.

    2

    Literaturnaja gazeta, 27.7.1988, russ.

    3

    Dokumente aus dem Jahre 1956. Berlin 1990, S. 62.

    4

    Ebenda, S. 65.

    5

    Ebenda, S. 79-80.

    6

    Voprosy istorii, 6–7/1992, S. 83.

    7

    Ebenda, S. 87.

    8

    Voprosy istorii, 2-3/1992, S. 76.

    9

    Voprosy istorii, 12/1991, S. 62-63.

    10

    Voprosy istorii, 2-3/1992, S. 76, 80.

    11

    Ebenda, S. 79.

    12

    Siehe u.a.: Velikaja Otečestvennaja vojna Sovetskogo Sojuza. 1941–1945. Kratkaja istorija. Moskau 1965, S. 39.

    13

    N. V. Valentinov: Nasledniki Lenina. Moskau 1991, S. 215-216.

    14

    Ebenda, S. 215.

    15

    Ebenda, S. 214.

    16

    Ebenda, S. 216.

    17

    Ebenda, S. 218–219, 223.

    18

    F. Čujev: Sto sorok besed s Molotovym. Moskau 1990, S. 474.

    19

    Swetlana Allilujewa: Das erste Jahr. Wien-München-Zürich 1969, S. 160, 131, 142.

    20

    Valentinov, S. 219.

    21

    B. Pasternak, »Doktor Schiwago«, Frankfurt / Main 1958, S. 601.

    22

    W. I. Lenin: Werke. Berlin 1961, Band 32, S. 335.

    23

    Leo Trotzki: Stalins Verbrechen. Berlin 1990, S. 326.

    24

    Bjulleten’ oppozicii, 68–69/1938.

    25

    Michael Voslensky: Nomenklatura. Wien-München-Zürich-Innsbruck 1980, S. 149–151.

    26

    Zitiert nach: Trotzki, Leo. Schriften 1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur. Band 1.2 (1936–1940). Hamburg: Rasch und Röhring, 1988. S. 1320.

    27

    Literaturnaja gazeta, 27.7.1988.

    28

    Molodaja gvardija, 8/1970, S. 319.

    29

    Ebenda, S. 317.

    30

    A. Tvardovskij: Poemy. Moskau 1988, S. 325.

    31

    B. Okudšava: Stichotvorenija. Moskau 1984, S. 11–12.

    32

    L. D. Trockij: Stalin. T. II. Moskau 1990, S. 215–216.

    1. Kapitel:

    Die Vorbereitungen zum ersten Schauprozess

    Mit den Prozessen, die der Ermordung Kirows folgten, hatte Stalin seine Ziele längst noch nicht erreicht. Zum unmittelbaren Organisator der Ermordung wurde eine Gruppe aus 13 jungen »Sinowjew-Leuten« erklärt, die im Dezember 1934 im Verfahren gegen das sogenannte »Leningrader Zentrum« erschossen worden war. Sinowjew, Kamenew und andere Führer der ehemaligen Leningrader Opposition, die im Januar 1935 im Verfahren gegen das »Moskauer Zentrum« verurteilt wurden, sprach man nur in der Hinsicht schuldig, dass sie mit ihren »konterrevolutionären« Gesprächen »objektiv« dazu beigetragen hätten, terroristische Stimmung unter ihren Leningrader Gleichgesinnten zu entfachen.

    Die »Nach-Kirow-Prozesse« der Jahre 1934–1935 konnten keine Verbindung zwischen den »Sinowjew-Leuten« und den »Trotzkisten« und vor allem zu Trotzki selbst herstellen. Dabei musste aber Stalin um jeden Preis Trotzki und die Trotzkisten der terroristischen Tätigkeit anklagen. Diese Version wurde in Jeshows Manuskript »Von der Fraktionstätigkeit zur offenen Konterrevolution« entwickelt, wo es hieß: »Es besteht überhaupt kein Zweifel, dass die Trotzkisten auch über die terroristische Seite der Tätigkeit der Sinowjewschen Organisation informiert wurden. Mehr noch, durch Aussagen einzelner Sinowjew-Leute bei den Ermittlungen über die Ermordung des Gen. Kirow und bei den folgenden Verhaftungen von Sinowjew-Leuten und Trotzkisten wurde festgestellt, dass die letzteren ebenfalls den Weg terroristischer Gruppen eingeschlagen haben.«[[1]]

    Jeshows »Werk«, das Stalin im Mai 1935 vorgelegt und von diesem redigiert wurde, gelangte nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Seine grundlegenden Richtlinien wurden jedoch den Weisungen an die NKWD-Organe zugrunde gelegt. Mitte des Jahres 1935 erklärte Jeshow dem stellvertretenden Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Agranow, »seiner Meinung nach und nach Meinung des ZK der Partei« existiere »im Lande ein nicht aufgedecktes Zentrum von Trotzkisten«, und »gab seine Sanktion zur Durchführung einer Aktion gegen die Trotzkisten in Moskau«. Laut Agranow habe der Chef der geheimdienstlich-politischen Abteilung des NKWD Moltschanow, der mit der Erledigung dieser Aufgabe betraut war, ohne die für die »Organe« charakteristische Effektivität gehandelt, da er der Meinung war, »in Moskau gibt es keinen ernsthaften trotzkistischen Untergrund«.[[2]]

    Am 9. Februar hatte der stellvertretende Volkskommissar für Innere Angelegenheiten, Prokofjew, an die örtlichen NKWD-Organe eine Direktive gesandt, in der die Rede war von einer »gewachsenen Aktivität des trotzkistisch-sinowjewschen konterrevolutionären Untergrunds und von einem Vorhandensein illegaler terroristischer Formationen unter ihnen«. Die Direktive verlangte die »restlose Liquidierung des gesamten trotzkistisch-sinowjewschen Untergrunds« und das Aufdecken »aller organisatorischen Verbindungen der Trotzkisten und Sinowjew-Leute«.[[3]]

    Nachdem Stalin am 23. Februar Prokofjews Bericht über eine neue Serie von Verhaftungen und über die Beschlagnahmung von Trotzkis Archiv aus dem Jahre 1927 bei einem der Verhafteten erhalten hatte, legte er in einem Politbüro-Beschluss fest, Jeshow solle in die Untersuchungen einbezogen werden. Wie Jeshow auf dem Plenum des ZK vom Februar und März 1937 mitteilte, »war der Verantwortliche dafür, dass dieser Fall (des »trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« – W.R.) aufgerollt wurde, im Prinzip der Gen. Stalin, der, nachdem er … die Unterlagen erhalten hatte, in seiner Anordnung schrieb: ›Eine außerordentlich wichtige Angelegenheit, ich schlage vor, das trotzkistische Archiv Jeshow zu übergeben, zweitens, Jeshow zu ernennen, die Ermittlung zu beaufsichtigen; die Ermittlung ist von der Tscheka gemeinsam mit Jeshow zu führen.‹« »Ich verstand diese Direktive so«, fügte Jeshow hinzu, »dass man sie um jeden Preis realisieren musste, und soweit meine Kräfte ausreichten, habe ich entsprechenden Druck ausgeübt. Ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich nicht nur loyalem Widerstand begegnet bin (so steht es im Text – W.R.), sondern manchmal auch direkter Auflehnung.«[[4]]

    Diese »Auflehnung« ging vor allem von Jagoda aus, der beunruhigt war, weil die Anstrengungen Jeshows sich darauf richteten, das Vorhandensein einer trotzkistischen Verschwörung von Beginn der dreißiger Jahre an und folglich auch ein »Versagen« in der Arbeit von Jagodas Apparat zu »beweisen«. Jagoda, der die Einbeziehung Jeshows in die Untersuchung als Misstrauen Stalins gegenüber der NKWD-Führung auffasste, richtete an die Organe der Staatssicherheit eine Direktive zur Verschärfung der Repressionen in bezug auf die »Trotzkisten«. Zu jener Zeit war die Absicht Stalins, einen Prozess gegen das »trotzkistisch-sinowjewsche Zentrum« anzustrengen, offensichtlich nicht nur für die Mitglieder des Politbüros noch ein Geheimnis, sondern auch für Jagoda.

    Als erster der im späteren Prozess Angeklagten wurde der politische Emigrant Walentin Olberg verhaftet. Im Unterschied zu anderen Emigranten, die ebenfalls vor Gericht gestellt wurden, hatte er sich tatsächlich mit Sedow getroffen und stand in Briefwechsel mit Trotzki. Im Archiv von Harvard lagert der Briefwechsel von Trotzki und Sedow mit Olberg, in dem es um die Verbreitung des »Bulletins der Opposition« in verschiedenen Ländern, einschließlich der UdSSR, und um die Tätigkeit der deutschen Gruppe der linken Opposition[[5]]

    geht. Jedoch schon 1930 lehnte Trotzki den Vorschlag Olbergs ab, der nach Prinkipo kommen wollte, um sein Sekretär zu werden. Grund für die Ablehnung war, dass Berliner Freunde Trotzkis, die Olberg gut kannten, diesen »wenn nicht für einen Agenten der GPU, so für einen Kandidaten auf diesen Posten«[[6]]

    hielten.

    Nach Aussage von A. Orlow wurde Olberg noch Ende der zwanziger Jahre von der OGPU angeworben und war als Agent unter den Gruppen der linken Opposition im Ausland tätig. Anschließend wurde er in die Sowjetunion zurückbeordert und im Jahre 1935 an die Pädagogische Hochschule nach Gorki geschickt, wo die »Organe« einem illegalen Zirkel auf die Spur gekommen waren, der sich mit dem Studium der Arbeiten von Lenin und Trotzki beschäftigte.

    1937 erhielt die Pariser Kommission zur Gegenuntersuchung der Moskauer Prozesse Angaben von der Mutter Olbergs. Aus diesen geht hervor, dass neben Walentin Olberg auch dessen Bruder Pawel in die UdSSR emigriert war und in Gorki als Ingenieur arbeitete. In den Briefen an seine Mutter berichtete Pawel Olberg mit Begeisterung von seinen Eindrücken über die UdSSR und über die sowjetische Staatsbürgerschaft, die ihm zugesprochen worden war.[[7]]

    Am 5. Januar 1936 (am selben Tag wie sein Bruder) wurde er verhaftet und im Oktober des gleichen Jahres zusammen mit einer großen Gruppe von »Trotzkisten« aus Moskau, Gorki und anderen Städten erschossen (zu dieser Gruppe gehörte auch Trotzkis Schwiegersohn Platon Wolkow – bei seiner Verhaftung Arbeiter in Omsk).[[8]]

    Walentin Olberg war, wie auf dem Februar-März-Plenum gesagt wurde, »den Organen des NKWD schon 1931 bekannt«. Mehr noch, die »Organe« besaßen Briefe Trotzkis an Olberg, die ein ausländischer GPU-Agent in jenem Jahr übergeben hatte.[[9]]

    Die Tatsache, dass Olberg nach all dem nicht verhaftet worden war, lässt sich nur so erklären, dass ihn die OGPU als überaus wertvollen Agenten betrachtete und hoffte, er würde noch mehr in Trotzkis Umgebung eindringen.

    Nach den ersten Verhören schickte W. Olberg ein Gesuch an den Untersuchungsrichter, in dem er schrieb: »Ich kann, scheint es, mich selbst bezichtigen und alles tun, nur um den Qualen ein Ende zu bereiten. Aber ich habe offensichtlich nicht die Kraft, mich selbst zu verleumden und absichtlich zu lügen, d.h., dass ich Trotzkist sei, ein Emissär Trotzkis usw.«[[10]]

    Einen Monat später jedoch »gab« Olberg »zu«, dass er mit einem Auftrag Trotzkis aus dem Ausland gekommen sei und viele Lehrer und Studenten aus der Pädagogischen Hochschule in eine Terrororganisation angeworben habe. Alle von ihm genannten Personen wurden nach Moskau gebracht und am 3. Oktober 1936 erschossen.

    Auf dem Februar-März-Plenum gab Jeshow als Beginn der Untersuchung zum Fall des »vereinigten trotzkistisch-sinowjewschen Zentrums« den Dezember 1935 an. Anfang 1936 wurde dieser Fall »langsam aufgerollt, dann gelangten erste Materialien (aus dem NKWD) an das ZK«. Aber Moltschanow, der für die Ermittlungen gegen die Trotzkisten unmittelbar verantwortlich war, hielt Olberg für einen »vereinzelten Emissär«. Deshalb hatte er die Absicht, Olberg vor Gericht zu stellen und diesen Fall mit seiner Verurteilung abzuschließen.[[11]]

    Einige Zeit später waren Jagoda und Moltschanow der Meinung, es reiche aus, »eine Verbindung herzustellen« zwischen Olberg und I.N. Smirnow, der im April 1936 aus der politischen Einzelhaft in das innere Gefängnis der GPU überführt worden war. Agranow zufolge wollte Moltschanow »die Untersuchung noch im April 1936 mit dem Beweis abschließen, dass die enttarnte terroristische Gruppe Schemeljow – Olberg – Safonowa, die mit I.N. Smirnow in Zusammenhang stand, eben dieses gesamtsowjetische trotzkistische Zentrum darstelle und dass mit der Enttarnung dieses Zentrums die politisch aktiven Trotzkisten schon beseitigt seien. Jagoda und anschließend auch Moltschanow bekräftigten darüber hinaus, dass ohne Zweifel Trotzki persönlich keinerlei unmittelbare Verbindung mit den Vertretern des trotzkistischen Zentrums in der UdSSR hatte.«[[12]]

    Als Stalin von dieser Haltung Moltschanows und Jagodas erfuhr, »hatte er das Gefühl, etwas stimme nicht, und gab die Weisung, den Fall weiterzuführen«. In Ausführung dieser Weisung organisierte Jeshow ein Treffen mit Agranow, das vor Jagoda und Moltschanow geheimgehalten wurde (»Ich bestellte Agranow an einem freien Tag zu mir auf die Datsche unter dem Vorwand, spazieren gehen zu wollen«). Bei diesem Treffen übermittelte Jeshow Agranow: »Gen. Stalin hat auf Fehler der Untersuchung im Fall der Trotzkisten hingewiesen und Auftrag gegeben, Maßnahmen zur Enttarnung des wahren trotzkistischen Zentrums zu treffen sowie die noch nicht enttarnte terroristische Bande und die persönliche Rolle Trotzkis bei dieser Sache aufzudecken.« Jeshow nannte Agranow die Namen von »direkten Kadern Trotzkis«, vor allem den Namen Dreizer. »Nach einem langen und konkreten Gespräch gelangten wir zu einem Entschluss – er (Agranow) ging in das Gebiet Moskau (d.h.

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