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Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP: Band 3
Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP: Band 3
Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP: Band 3
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Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP: Band 3

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Der stalinsche Terror Ende der dreißiger Jahre übersteigt, wie auch der Holocaust, in seinen Ausmaßen und Gräueln das menschliche Vorstellungsvermögen. Wadim Rogowin gelingt es mit diesem Buch, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion der Jahre 1934–1936 aufzudecken, die den großen Terror möglich und für die herrschende Bürokratie notwendig machten. Er widerlegt all diejenigen, die das anscheinend Unerklärliche der stalinschen Verbrechen nutzten, um sie als notwendiges Ergebnis der sozialistischen Ideen zu bezeichnen.
Nach dem sechsjährigen Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft, der Zwangskollektivierung, begann die Bürokratie durch die Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Mechanismen, der so genannten stalinschen Neo-NÖP (Neue Ökonomische Politik), privilegierte Schichten zu schaffen, die eine neue soziale Stütze in der Gesellschaft werden sollten.
Wadim Rogowin beschreibt im Einzelnen, wie die soziale Polarisierung zunahm und die 'Welt der Privilegien' die Unterdrückung jeder Kritik und Opposition verlangte. Gestützt auf bisher unzugängliche Dokumente und Augenzeugenberichte zeigt Rogowin, dass die große Säuberung eine Reaktion auf ein starkes Anwachsen der oppositionellen Kräfte in den Jahren 1934–1936 darstellte, denn mit einem präventiven Bürgerkrieg sollte die Herrschaft der stalinschen Bürokratie gesichert werden. Mit diesem Buch liefert Rogowin den Schlüssel zu einem Verständnis der Moskauer Prozesse.
LanguageDeutsch
Release dateJan 1, 2000
ISBN9783886347742
Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP: Band 3

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    Gab es eine Alternative? / Vor dem Grossen Terror - Stalins Neo-NÖP - Wadim S Rogowin

    Lesehinweis: »Gab es eine Alternative?«

    Der vorliegende Band ist Band 3 der sechsbändigen Edition der Publikationen Wadim S. Rogowins unter dem Titel »Gab es eine Alternative?«.

    Alle diese Bände sind sowohl einzeln als Buch oder als ePublikation sowie als Gesamtedition erhältlich.

    Band 1: »Trotzkismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-080-4

    ePDF: ISBN 978-3-88634-880-0

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-780-3

    Band 2: »Stalins Kriegskommunismus«

    Print: ISBN 978-3-88634-081-1

    ePDF: ISBN 978-3-88634-881-7

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-781-0

    Band 3: »Vor dem großen Terror – Stalins Neo-NÖP«

    Print: ISBN 978-3-88634-074-3

    ePDF: ISBN 978-3-88634-874-9

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-774-2

    Band 4: »1937 – Das Jahr des Terrors«

    Print: ISBN 978-3-88634-071-2

    ePDF: ISBN 978-3-88634-871-8

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-771-1

    Band 5: »Die Partei der Hingerichteten«

    Print: ISBN 978-3-88634-072-9

    ePDF: ISBN 978-3-88634-872-5

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-772-8

    Band 6: »Weltrevolution und Weltkrieg«

    Print: ISBN 978-3-88634-082-8

    ePDF: ISBN 978-3-88634-882-4

    eBook/MOBI ISBN 978-3-88634-782-7

    Band 1 bis 6: »Gab es eine Alternative«

    Print: ISBN 978-3-88634-099-6

    ePDF: ISBN 978-3-88634-899-2

    eBook/MOBIISBN 978-3-88634-799-5

    Einführung

    Salzig ist das Wasser, und dein Brot ist bitter,

    schwer ist der Weg durch das Dickicht der vergangenen Jahre,

    für dich, du Historiker, der du unsere Größe beschreibst,

    für dich, du Poet, der du unsere Leiden besingst.

    Doch bitte vermeide Fehler,

    Halbwahrheiten und Lügen;

    und bitte verwechsle nicht Lächeln mit Grimassen

    und Visionen mit der Wirklichkeit.

    (Margarita Aliger)

    Die Wiederherstellung der historischen Wahrheit über den Stalinismus war ein langwieriger, widersprüchlicher und dramatischer Prozess. Nach Stalins Tod erfolgte die Aufarbeitung des stalinistischen Erbes ausgesprochen halbherzig und war von zahlreichen Rückfällen begleitet. Die herrschende Bürokratie war nicht nur aufgrund ihrer konservativen Haltung und Unwissenheit unfähig, den stalinistischen ideologischen Klischees ihren Nimbus zu nehmen und die wirkliche marxistische Mentalität wiederherzustellen. Ihr sozialer Instinkt und ihr Selbsterhaltungstrieb sagten ihr, dass eine Entglorifizierung der im Laufe von mehreren Jahrzehnten verbreiteten ideologischen und historischen Legenden gefährlich sei: Dadurch werde sie als Usurpator der Partei- und Volksmacht unweigerlich von der politischen Arena verdrängt.

    Jede Ideologie ist nichts anderes als ein Konzept zur Umgestaltung oder zur Konservierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu den ideologischen Mythen zählen falsche Prognosen, illusorische politische Programme, unrealisierbare Sozialprojekte. Die nachstalinschen Regierungen, an deren Spitze beschränkte und überhebliche Partokraten standen, waren ebenso freizügig mit großspurigen und rosigen Versprechungen einer »lichten Zukunft« wie das totalitäre Regime Stalins. Das Scheitern dieser Versprechungen (angefangen damit, dass bis zum Jahre 1980 die kommunistische Gesellschaft errichtet sein sollte, bis hin zur »Revolution von oben« in der Perestrojka-Zeit, die angeblich eine »sozialistische Erneuerung« einleiten sollte) brachte die kommunistische Idee im Bewusstsein von Millionen sowjetischer Menschen auf das Schlimmste in Misskredit. Dies war ein entscheidender Faktor, der es den reaktionären Kräften ermöglichte, nach der Niederschlagung des »seltsamen Putsches« im August 1991 die Kommunistische Partei ungesetzlicherweise aufzulösen und offen ein Programm zur Restauration kapitalistischer Verhältnisse in den Republiken der auseinandergefallenen Sowjetunion zu propagieren.

    Nach diesen tragischen Ereignissen begann die neue, prokapitalistische Macht ideologische Mythen zu verbreiten, wonach die »marktwirtschaftlichen Reformen« schon in der nahen Zukunft positive Ergebnisse zeigen würden. Die unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit wurde erneut von einem üblen Ideologieauswuchs verdrängt: einer aggressiven sozialen Demagogie, die, nach einem gelungenen Ausdruck des sowjetischen Philosophen M. Lifschiz, das »missgestaltete Pendant zur Demokratie«[[1]]

    darstellt.

    Die ideologischen Mythen hätten jedoch keinen so starken desorientierenden Einfluss auf das Massenbewusstsein erlangen können, wenn sie nicht durch historische Mythen untermauert worden wären. Derartige Mythen waren schon immer und besonders in Krisenzeiten eine beliebte geistige Waffe reaktionärer politischer Kräfte. Im Unterschied zu Pseudoprognosen und unrealistischen Versprechungen sind sie nicht das Produkt politischer Verirrung oder sozialer Demagogie, sondern das Ergebnis historischer Unwissenheit bzw. des bewussten Verschweigens oder der tendenziösen Interpretation bestimmter Fakten.

    Im Prinzip lassen sich Mythen, die die Vergangenheit betreffen, leichter widerlegen als demagogische Projekte »schicksalsträchtiger« Umgestaltungen, deren Unhaltbarkeit erst bei ihrer Erprobung in der sozialen Praxis sichtbar wird. Zur Entkräftung historischer Mythen ist es erforderlich, die tatsächlichen Fakten der Vergangenheit ans Licht zu holen, die von interessierten politischen Kräften verheimlicht oder verzerrt dargestellt worden waren. Diesen Weg – den Weg der Säuberung der historischen Wahrheit von den zahlreichen erfundenen Überlagerungen aus der stalinschen Schule der Fälschungen – konnte und wollte die konservative poststalinsche Bürokratie nicht beschreiten.

    Selbst in den besten Zeiten von Chrustschows »Tauwetter« enthielten die »Parteidokumente« und die historischen Arbeiten über den damals so genannten »Personenkult und seine Folgen« zahlreiche Rechtfertigungen der Fehler und Verbrechen der Stalin-Clique. Es konnte letztlich auch nicht anders sein, wenn an den Hebeln der Macht nach wie vor die durch ihre Mitwirkung bei den stalinschen Verbrechen belasteten Vertreter dieser Clique und durch sie hochgepäppelte Partokraten saßen, die ihren Aufstieg dem »großen Terror« zu verdanken hatten.

    Chrustschow prangerte zwar die infamsten und wirklich kriminellen Taten Stalins an, aber er konnte sich nicht dazu entschließen, in seinen Enthüllungen bis zur Überprüfung der Prozessfälschungen in den dreißiger Jahren vorzudringen, und ließ die verbrecherische Tätigkeit Stalins nach dem Mord an Kirow beginnen. Die sowjetische Geschichtsschreibung aus Chrustschows Zeit ließ die Version vom innerparteilichen Kampf der zwanziger und dreißiger Jahre unangetastet, nach der Stalin im Kampf gegen »parteifeindliche« Strömungen in der KPdSU (B) »den Leninismus behauptete«. Sie unternahm nichts in Richtung Neubewertung des ideologischen Erbes und der politischen Rolle oppositioneller Kräfte in der KPdSU (B) und in der internationalen kommunistischen Bewegung. Für mehrere Generationen sowjetischer Wissenschaftler galt weiterhin das Verbot, diese Problematik auch nur in irgendeiner Weise objektiv zu erforschen und zu beleuchten.

    Die Machtenthebung Chrustschows im Jahre 1964 bedeutete den Sieg der konservativen Kräfte innerhalb der KPdSU für lange Zeit. Die Führung Breshnews und Suslows verhängte ein Tabu gegen jegliche Kritik an Stalin und am Stalinismus sowie gegen eine Überprüfung der zahlreichen ideologischen und juristischen Fälschungen.

    Erst 1987, auf dem Höhepunkt der trügerischen »Perestrojka«, wurde in der offiziellen sowjetischen Ideologie der amorphe Begriff »Personenkult um Stalin«, der für das Verständnis der Tragödie der bolschewistischen Partei und des Sowjetvolkes wenig erbrachte, durch den erstmals von der linken Opposition in den dreißiger Jahren verwendeten Terminus »Stalinismus« ersetzt. Die begonnene Wiederherstellung der historischen Wahrheit eröffnete die Möglichkeit, die logische Kette von Fehlern und Verbrechen des Stalinismus zu rekonstruieren und die wahrhaft sozialistische Alternative zum historischen Verlauf der Ereignisse aufzuzeigen, wie sie von der linken Opposition in der KPdSU (B) begründet worden war.

    Im Jahre 1989 jedoch ersetzten die prokapitalistischen Kräfte, die führende politische und ideologische Positionen in der UdSSR eingenommen hatten, die Kritik am Stalinismus durch eine üble Verzerrung der marxistischen Theorie und der revolutionären Praxis des Bolschewismus. Im Ergebnis dessen kam es zur Restauration (wenngleich auch mit umgekehrtem, negativem Vorzeichen) der Hauptthese der stalinschen Propaganda: »Stalin ist der getreue Fortführer der Sache Lenins und der Oktoberrevolution.«

    Damit wurden erneut die Wege zu einer objektiven Erforschung der Hauptetappen und des Wesens des von der Stalin-Clique durchgeführten antibolschewistischen, bonapartistischen Umsturzes verbaut. An die Stelle der früheren rückten nun neue Mythen und historische Fälschungen, die nicht weniger willkürlich und erfunden waren als die alten.

    Führend unter den Fälschern der achtziger und neunziger Jahre waren die Renegaten des Kommunismus aus den Reihen der Partokraten und Pseudowissenschaftler, die mit der Apologetik des »realen Sozialismus« und des »Kampfes gegen die bürgerliche Ideologie« Karriere gemacht hatten. Solcherart Abtrünnigkeit von den kommunistischen Überzeugungen begegnet man in der Geschichte nicht zum ersten Mal. Die Abtrünnigen waren jedoch auf unterschiedliche Weise zu ihrem neuen ideologischen Credo gelangt. Man braucht beispielsweise mit den Ideen von M. Djilas nicht einverstanden zu sein, aber man muss zugeben, dass sie in einem Prozess qualvollen geistigen Suchens hervorgebracht wurden und dass ihr Autor die Propagierung dieser Ideen mit jahrelangem Aufenthalt in einem »kommunistischen« Gefängnis bezahlte. Über ehemalige hochrangige Partokraten wie Jelzin oder Jakowlew und ehemalige orthodoxe Historiker und Philosophen wie Wolkogonow oder Zipko lässt sich so etwas nicht sagen. Ihre eilige Inkriminierung des »kommunistischen Regimes« beruht nicht auf einer eigenständigen ideologischen Suche, sondern auf der mechanischen Reproduzierung historischer Auffassungen, wie sie von den reaktionärsten Publizisten der weißen Emigranten in den zwanziger Jahren, von westlichen Sowjetologen in den Zeiten des Kalten Krieges und von sowjetischen Dissidenten in den siebziger und achtziger Jahren in Umlauf gebracht worden waren.

    Auf den ersten Blick hinterlassen die Arbeiten der Berufshistoriker antikommunistischer Couleur, aus denen die heutigen russischen »Demokraten« ihre Argumente schöpfen, einen besseren Eindruck als die stalinistischen und poststalinistischen Geschichtslehrbücher. Ihre Verfasser vermeiden grobe und augenfällige Geschichtsverfälschungen, verwenden umfänglicheres Quellenmaterial und führen glaubwürdigere statistische Angaben und Berechnungen an als die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung der dreißiger bis achtziger Jahre. Diesen antikommunistischen Werken liegt jedoch ebenfalls ein bestimmter politischer Auftrag zugrunde. Was die gegenwärtige antikommunistische Publizistik in Russland betrifft, so ist sie noch tendenziöser und voreingenommener: Ihre gesamte »Argumentation« läuft auf eine lautstarke Verteufelung des Kommunismus hinaus. Ähnlich wie die Stalinisten vielfach versuchten, dem ihnen verhassten »Trotzkismus« »endgültig einen Grabstein« zu setzen, so sind auch die heutigen Demokraten bestrebt, das gesamte »kommunistische Experiment« und die »utopische« kommunistische Idee unter einem solchen »Grabstein« verschwinden zu lassen.

    In diesem Buch begebe ich mich nicht in eine direkte polemische Auseinandersetzung mit der heutigen Mythenbildung in der Geschichte, weil ich denke, dass eine wahrheitsgetreue Darstellung und Beleuchtung der Ereignisse in einer der tragischsten Perioden der neueren sowjetischen und der Weltgeschichte den Leser selbst erkennen lässt, welchen Wert die Argumente jener besitzen, die voller Begeisterung in die antikommunistische Hysterie eingestimmt haben. An dieser Stelle möchte ich mich nur darauf beschränken, die wichtigsten Geschichtsmythen zu nennen, die im vorliegenden Buch widerlegt werden sollen.

    Der erste Mythos umfasst die Ansicht, dass das »Kommando- und Administrationssystem« in allen Entwicklungsstadien der sowjetischen Gesellschaft absolut vorherrschend gewesen wäre. Dieser Begriff fällt jedoch nicht einmal mit dem Begriff »Stalinismus« zusammen: Das zu Lebzeiten Stalins existierende sozialökonomische System war nicht absolut und auch nicht durchgängig administrativ. Dies gilt insbesondere für den in diesem Buch betrachteten Zeitraum. Die »stalinsche Neo-NÖP« der Jahre 1934–1936 ist gekennzeichnet durch eine gewisse Liberalisierung der Wirtschaftbeziehungen, durch eine teilweise Rückkehr zu den in den vorangegangenen Jahren zerstörten marktwirtschaftlichen Mechanismen.

    Der zweite Mythos betrifft das politische Leben und den politischen Kampf in der sowjetischen Gesellschaft: Alle Opfer der stalinschen Repressalien wurden zu »Kaninchen« (um einen Ausdruck von A. Solschenizyn zu gebrauchen) erklärt, die dem totalitären Regime keinerlei Widerstand entgegengesetzt hätten. Dieser Mythos wurde sowohl von der antikom­mu­nistischen Geschichtsschreibung vertreten, die behauptete, in den dreißiger Jahren hätte es in der Partei keine ernsthafte Opposition gegeben, als auch von Chrustschow und dessen Nachbetern, die ihren einstigen Glauben an die »Größe« Stalins auf die gesamte Partei ausweiteten. In gewisser Weise erhielt dieser Mythos auch Unterstützung durch die Rehabilitierungskampagnen der fünfziger bis achtziger Jahre, in denen geschlussfolgert wurde, alle politischen Anschuldigungen gegen die Opfer des stalinschen Terrors seien willkürlich und konstruiert gewesen.

    Für die Version, dass die Partei in den dreißiger Jahren absolut »geschlossen« und alle Kommunisten jener Jahre vom Stalinkult geblendet gewesen wären, sprechen scheinbar die in breiten Kreisen bekannten Memoiren von Zeitzeugen, unter anderem von Häftlingen des stalinschen Regimes, die erst in den Gefängnissen und Lagern zu begreifen begannen. Dies sind jedoch in der Regel Erinnerungen von Vertretern der jüngeren Generation elitärer Schichten der damaligen Sowjetgesellschaft (z.B. J. Ginsburg, O. Adamowa-Sliosberg), die vor ihrer Verhaftung weit von einer oppositionellen Einstellung entfernt gewesen waren. Diejenigen, die wirklich mit oppositionellen Elementen der Partei zu tun hatten, konnten keine Zeugnisse über die Stimmungen und das Verhalten in ihrem Umkreis hinterlassen, da sie in den Jahren der großen Säuberung fast vollständig ausgelöscht worden waren. Lediglich in den letzten Jahren sind Erinnerungen einiger verschont gebliebener »Trotzkisten« erschienen, die die Schilderungen von altbolschewistischen »Nichtrückkehrern« ergänzen. Es gibt keinen Grund zu zweifeln, dass die ideologische Einstellung dieser Menschen, die aus der UdSSR entkommen und so dem Tod in Stalins Verliesen entgehen konnten (Raskolnikow, Reiss, Kriwitzki, Barmin, Orlow) von den meisten Funktionären der in den dreißiger Jahren vernichteten alten Parteigarde geteilt wurde.

    Zur Rekonstruktion der in jenen Jahren in der Partei und im Land ablaufenden realen politischen Prozesse trägt auch die Analyse der kürzlich offengelegten Archivmaterialien bei, die es ermöglichen, die Tätigkeit der antistalinschen Oppositionsströmungen in den dreißiger Jahren vollständiger darzustellen. Diese Analyse zeigt, dass neben neuen Oppositionsgruppen (Syrzow-Lominadse, Rjutin-Kajurow, A.P. Smirnow-Eismont u.a.) in der UdSSR auch weiterhin eine linke Opposition agierte, die die größte politische Massenbewegung gegen den Stalinismus blieb. Wie sich der Leser des vorliegenden Buches wird überzeugen können, gelangten Arbeiten von Oppositionellen, die nicht kapitulierten und die nicht vom totalitären Regime gebrochen wurden, auf Stalins Geheimdienstlern verborgenen Wegen zu Trotzki und wurden im »Bulletin der Opposition« veröffentlicht. Der kommunistische oppositionelle Untergrund besaß in allen grundlegenden Fragen der revolutionären Weltbewegung und des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR ein alternatives Programm zum Stalinismus. Mit Furcht vor einem möglicherweise zunehmenden Einfluss dieser Bewegung in der Partei und im Land wurde schließlich das immer grausamere Wüten der stalinschen Repressionsmaschine gegen die »Trotzkisten« erklärt.

    Das Spezifikum des von Stalin vollzogenen antibolschewistischen Umsturzes, der sich zu einem präventiven Bürgerkrieg gegen alle lenintreuen Bolschewisten entwickelte, bestand darin, dass er begleitet wurde von ständigen Beteuerungen der Treue gegenüber der Sache Lenins und der Oktoberrevolution. Stalin, der selbst vor seinem engsten Umkreis die wahren Motive und Ziele seines politischen Verhaltens sorgfältig verbarg, maskierte seine politischen Aktionen mit pseudomarxistischen Floskeln und grob aus dem Text gerissenen Lenin-Zitaten.

    Zur Festigung der Alleinherrschaft Stalins in der UdSSR und in der internationalen kommunistischen Bewegung trugen auch objektive historische Umstände bei, die Stalin geschickt für seine Zwecke ausnutzte. Wesentlich dabei war, dass sich die Sowjetunion in einer feindlichen kapitalistischen Umgebung befand. Dies diente Stalin als Begründung für die Abschottung der sowjetischen Gesellschaft, für die extreme Einengung der Informationen im Land und die Schaffung eines Klimas des Schweigens und der Geheimhaltung. Infolgedessen konnten sich die meisten Sowjetmenschen das wahre Ausmaß der politischen Repression überhaupt nicht vorstellen, sie hatten keinerlei Information über die Schwierigkeiten und Nöte, denen andere ausgesetzt waren. Stalin hätte es zweifellos weitaus schwerer gehabt, seine übelsten Aktionen zu realisieren, wenn in den dreißiger Jahren ein System ausländischer Rundfunkübertragungen vorhanden gewesen wäre, in denen die Sowjetmenschen von den Ideen und Enthüllungen Trotzkis erfahren hätten.

    Durch die totale Desinformation war es Stalin gelungen, die in Opposition zu ihm stehenden Kräfte als Verschwörer hinzustellen, die eine Restauration kapitalistischer Verhältnisse anstrebten. Die offizielle Propaganda identifizierte immer mehr die Einheit der Partei mit der bedingungslosen Unterordnung unter den Willen des Führers und bearbeitete das Massenbewusstsein mit Nachdruck im Geiste des Stalinkults. Der Erfolg dieser ideologischen Manipulationen wurde begünstigt durch die niedrige politische Kultur der Massen, deren soziales Bewusstsein durch das jahrhundertealte Erbe kultureller Rückständigkeit belastet war. Wie die späteren Erfahrungen des maoistischen Chinas zeigten, lässt sich das im Ergebnis eines Zusammenbruchs des traditionellen religiös-patriarchalischen Bewusstseins entstehende ideologische und moralische Vakuum leicht ausfüllen mit dem, was K. Marx »weltliche Religion« und M. Weber »Charisma« nannten, d.h. mit einer Vergöttlichung des allwissenden und allmächtigen »Führers«. Im übrigen konsolidierten sich, wie die historische Erfahrung zeigt, führergeprägte Regime in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber auch in Ländern mit Traditionen einer demokratischen politischen Kultur relativ leicht.

    Für Menschen mit schwach ausgeprägtem sozialen und politischen Selbstbewusstsein ist es psychologisch leichter, vereinfachten, durch die Autorität eines unfehlbaren Führers geheiligten Dogmen und Mythen Glauben zu schenken, als sich in dem komplizierten Spektrum von Argumenten und Beweisen, mit denen die Opposition operiert, zurechtzufinden.

    Der Triumph des bürokratischen Absolutismus wurde zur Tragödie nicht nur der bolschewistischen Partei und des sowjetischen Volkes, sondern auch der gesamten kommunistischen Weltbewegung – der größten politischen Massenbewegung in der Menschheitsgeschichte.

    Die bolschewistische Prognose vom Sieg der sozialistischen Weltrevolution am Ende des Ersten Weltkriegs hat sich nicht bestätigt. Das heißt jedoch nicht, dass diese Prognose, bezogen auf einen längeren geschichtlichen Zeitraum, utopisch gewesen wäre. Nach der Niederlage der revolutionären Welle in Westeuropa in den Jahren 1918–1923 und der kurzen »Prosperität« des Kapitalismus in den zwanziger Jahren eröffneten sich neue revolutionäre Möglichkeiten mit dem Ausbruch der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise 1929–1933, die hinsichtlich ihrer Dauer und Tiefenwirkung in der Geschichte des Kapitalismus nichts Gleichwertiges kannte. Zu dieser allumfassenden Krise der kapitalistischen Wirtschaft kam Mitte der dreißiger Jahre die politische Krise des gesamten kapitalistischen Systems, die äußerste Verschärfung der imperialistischen Widersprüche und die Spaltung der kapitalistischen Welt in zwei feindliche militärpolitische Blöcke, hinzu. Die Widersprüche zwischen den führenden kapitalistischen Ländern spitzten sich stärker zu als die Widersprüche zwischen der UdSSR und ihrer kapitalistischen Umgebung. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion die einzige europäische Großmacht, die nicht in einen militärischen Konflikt verwickelt war.

    Das unermesslich angewachsene Elend der Volksmassen vervielfachte selbst in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern die Zahl derjenigen, die einen Sturz der kapitalistischen Ordnung herbeiführen wollten. Die revolutionäre Bewegung jedoch, die über ein mächtiges Potenzial verfügte, war von innen her aufgeweicht, und zwar durch die Politik der von Stalin geprägten Komintern, die die gesamte Tätigkeit der kommunistischen Parteien den Staatsinteressen der UdSSR unterordnete und dem »Kampf gegen den Trotzkismus« weitaus mehr Beachtung schenkte als dem antiimperialistischen und antifaschistischen Kampf. Die permanenten Säuberungen der kommunistischen Parteien und die Abkehr tausender und abertausender Menschen von der kommunistischen Bewegung, weil sie von dem durch den Stalinismus in Misskredit gebrachten »sowjetischen Experiment« enttäuscht waren, schwächten die revolutionären Kräfte gerade zu dem historischen Zeitpunkt, als sich die objektiven Möglichkeiten für einen machtvollen Aufschwung in der ganzen Welt herausgebildet hatten.

    Die Niederlage der revolutionären Kräfte zunächst in Deutschland und anschließend in Frankreich und Spanien war in vielem das Ergebnis einer fehlerhaften Politik der Komintern, die wiederum dadurch bedingt war, dass Stalin Furcht hatte vor einem möglichen Ausbruch sozialistischer Revolutionen in anderen Ländern. Ein Sieg solcher Revolutionen in Europa hätte das Zentrum der revolutionären Bewegung aus der Sowjetunion in weiterentwickelte Länder verlagern, einen Aufschwung der gegen Stalin gerichteten kommunistischen und sozialistischen Kräfte auslösen (wie das in den ersten Stadien des Bürgerkriegs in Spanien der Fall war) und letztendlich Stalin die Macht über die ausländischen kommunistischen Parteien entreißen können. Für Stalin waren nur solche kommunistische Regime akzeptabel, die sein geopolitisches Kalkül entstehen ließ und die unter seiner vollständigen Kontrolle standen. [*]

    Der Zweite Weltkrieg war nicht nur eine Folge der scharfen Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten, sondern auch der Preis für den Verrat des Stalinismus an der sozialistischen Revolution im internationalen Maßstab. Die Niederlage des Faschismus in diesem Krieg wurde, so André Gide, »dank dem antinazistischen Totalitarismus«[[2]]

    erreicht. Nach dem Krieg war der stalinsche Totalitarismus, wie P. Togliatti sagte, »eine Art Zwangsjacke, die die kommunistische Bewegung daran hinderte, in dem Moment, als der Krieg zu Ende war und sie so viele neue Positionen errungen hatte, ihre gesamte Kraft zu demonstrieren, ihre schöpferischen Fähigkeiten zu entwickeln und der gesamten Welt zu zeigen, dass die sozialistische Gesellschaftsordnung, für die wir kämpfen, eine Ordnung der wirklichen Demokratie in allen Bereichen des sozialen Lebens ist«.[[3]]

    Die stalinistische Degeneration der sowjetischen Gesellschaft und der internationalen kommunistischen Bewegung führte dazu, dass sich die historischen Gesetzmäßigkeiten auf andere Weise Bahn brachen. Bereits in den dreißiger Jahren wurde deutlich, dass die Oktoberrevolution den Werktätigen der kapitalistischen Länder mehr Rechte und Freiheiten gebracht hatte als den Völkern der Sowjetunion. Angesichts der sozialen Herausforderung des Sozialismus waren die regierenden Kreise der bürgerlich-demokratischen Staaten gezwungen, den Werktätigen ihrer Länder (und anschließend auch den Völkern in den Kolonien) größere Zugeständnisse zu machen, die das gesamte kapitalistische System wesentlich veränderten. »Wenn am Tag nach der Oktoberrevolution auch nicht die Weltrevolution stattfand, auf die die Massen inmitten von Bürgerkrieg und Zerstörung verzweifelt gewartet hatten, so hatte sich doch eine weltweite Reform vollzogen, und dies war das Nebenergebnis der unermesslichen Opfer, die unser Volk für die gemeinsame Sache des Sozialismus dargebracht hatte.«[[4]]

    Der Beginn dieser »weltweiten Reform« bzw. der sozialen Transformation des Kapitalismus fällt in die Mitte der dreißiger Jahre, als in mehreren großen kapitalistischen Staaten eine progressive Gesetzgebung im Sozialbereich eingeführt (Gesetze über eine Sozialversicherung, bezahlten Urlaub, die Rechte der Gewerkschaften, staatliche Unterstützung für Arbeitslose, »gerechte« Entlohnung der Arbeitskraft usw.) und die staatliche Regelung der Wirtschaft unter Anwendung von Grundlagen einer Planwirtschaft stark ausgedehnt wurde. In manchen Ländern (z.B. in Frankreich) wurden diese Reformen durch revolutionäre Erhebungen der Arbeiterklasse ausgelöst, in anderen (vor allem in den USA) waren sie das Ergebnis einer flexiblen und vorausschauenden Politik der bürgerlichen Regierungen, die bestrebt waren, eine soziale Explosion, die das vorherrschende System erschüttern und zerstören könnte, zu verhindern. Doch in jedem Fall bedeuteten solche Reformen die Einführung einiger sozialistischer Prinzipien unter Beibehaltung der Grundlagen für eine kapitalistische Ordnung.

    Die im vorliegenden Buch betrachtete relativ kurze historische Periode war eine Zeit stürmischer sozialer Veränderungen nicht nur in den kapitalistischen Ländern, sondern auch in der Sowjetunion. Die innerhalb dieser drei Jahre in unserem Land vollzogene historische Entwicklung zeigte, dass der ungestüme Rhythmus des gesellschaftlichen Lebens nicht nur für revolutionäre Epochen charakteristisch sein kann, sondern auch für Epochen des siegreichen Vorwärtsschreitens der Reaktion.

    Beim aufmerksamen Lesen von Stalins Reden und Aufsätzen jener Zeit wird man feststellen, dass Stalin zwar immer neue politische Kampagnen gegen den »konterrevolutionären Trotzkismus« inszenierte, aber zugleich die neuen Arbeiten Trotzkis interessiert zur Kenntnis nahm und einige der dort enthaltenen Gedanken in seiner praktischen Politik verwendete. So wurde der Ausweg aus der Periode der »wirtschaftlichen Überspitzungen« gefunden, indem die Innenpolitik auf Maßnahmen ausgerichtet wurde, wie sie Trotzki in den Jahren des ersten Fünfjahrplans nachdrücklich empfohlen hatte: Für den zweiten Fünfjahrplan sollten niedrigere und realistischere Aufgaben gestellt werden. Wesentlichen Einfluss hatten Trotzkis Ideen auch auf den außenpolitischen Kurs Stalins, der es nun vermied, die Sozialdemokratie als »Sozialfaschismus« zu interpretieren, und die sowjetische Diplomatie sowie die Komintern auf die Errichtung breiter antifaschistischer Bündnisse orientierte: »Wo die Sicherheit seiner eigenen Regierung betroffen war, profitierte Stalin gern vom Rat seines Gegners, selbst wenn er ihm oft verspätet und immer auf seine eigene, grob verzerrte Weise Folge leistete.«[[5]]

    Diese entstellte Realisierung selbst richtiger Ideen resultierte daraus, dass Stalin in Fragen der großen Politik immer ein grober Pragmatiker und Empiriker blieb, unfähig zu tiefgründigen wissenschaftlichen Generalisierungen und theoretischer Voraussicht. Wie Trotzki mehrfach betonte, verfügte Stalin niemals über einen klaren strategischen Plan und die Fähigkeit, auch nur die unmittelbaren Folgen seiner Politik vorauszusehen; er ging bei der Erarbeitung seiner Taktik nicht von Theorie und Strategie aus, sondern passte im Gegenteil Theorie und Strategie den Bedürfnissen der Taktik an. Er änderte seinen politischen Kurs nur unter dem Einfluss deutlicher und akuter Schwierigkeiten, denen er in seiner politischen Praxis begegnete, wobei ein Großteil dieser Schwierigkeiten durch seine systemlose und jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrende Politik hervorgerufen wurde.

    Auch F. Raskolnikow schrieb, dass es Stalin an politischer Weitsicht fehlte: »Wenn er einen Schritt unternimmt, ist er nicht in der Lage, dessen Folgen abzuschätzen. Er ist ein Mensch des Nachhineins. Er sieht die Ereignisse nicht voraus und hat die Situation nicht im Griff wie Lenin, sondern trottet den Ereignissen hinterher, lässt sich mit der Strömung treiben.«[[6]]

    Dieses Hinterhertrotten konnte auch sein engstes Umfeld nicht korrigieren, aus dem Stalin seit Ende der zwanziger Jahre konsequent selbstständig denkende Menschen vertrieb und in dem er am liebsten nur Autodidakten belassen hätte, die lediglich dazu fähig waren, seiner Macht bedingungslos zu dienen. Wenngleich auch Mitte der dreißiger Jahre im stalinschen Umkreis noch markante Persönlichkeiten verblieben waren, so unterdrückte der »Führer« jedoch deren Persönlichkeit, verlangte von ihnen blinden Gehorsam und wandte beim kleinsten Anzeichen von Widerstand gnadenlose Repressalien an.

    1933 war in der Sowjetunion der sich de facto über sechs Jahre erstreckende Bürgerkrieg zwischen der herrschenden Bürokratie und der Mehrheit der Bauernschaft zu Ende. Kaum hatte die Bürokratie den Sieg errungen, begann sie »mit allen Kräften eine neue Aristokratie zu züchten«.[[7]]

    Die Herausbildung neuer privilegierter Gruppen, die den sozialen Inhalt der stalinschen Neo-NÖP darstellte, musste natürlich bei den Volksmassen und in den Reihen der Bolschewiki Protest auslösen. Dies erklärt den auf den ersten Blick paradoxen Umstand, dass die Abschwächung der »Überspitzungen« in der Wirtschaft und die Stabilisierung der sozialpolitischen Situation im Land von einer Verschärfung der »Überspitzungen« in der Politik begleitet wurden.

    Diese »Überspitzungen« fanden ihren Ausdruck in einer neuen Terrorwelle, begleitet von ungeheuerlichen Prozessfälschungen, die der Anfang für die Diskreditierung des Bolschewismus im Bewusstsein von Millionen Menschen waren. Laut diesen Fälschungen wäre die bolschewistische Partei seit ihrer Gründung von Personen geführt worden, die der niederträchtigsten kriminellen Handlungen fähig gewesen wären. Das fehlende Vertrauen zur Partei wurde ersetzt durch den Glauben an die Außergewöhnlichkeit und Größe Stalins. Die Kette der so entstandenen falschen Vorstellungen zerfiel unmittelbar nach den Enthüllungen der stalinschen Verbrechen auf dem zwanzigsten Parteitag. Dies wiederum rief ein neues Vertrauensvakuum hervor: Stalin hatte man nunmehr als totalitären Verbrecher erkannt, aber seine politischen Hauptgegner waren immer noch belastet.

    Anstatt die in diesem Zusammenhang zwangsweise entstehenden Fragen zu klären, zogen Stalins Nachfolger ein blamables Schweigen vor. Jede positive oder auch nur neutrale Erwähnung der Tätigkeit bolschewistischer Führer, die nach Lenins Tod an der Spitze der oppositionellen Gruppierungen gestanden hatten, war nach wie vor tabu. Die sowjetischen Enzyklopädien der fünfziger bis achtziger Jahre enthielten Personalien von Hitler, Mussolini usw., aber es fehlten jegliche biographische Angaben über Trotzki, Sinowjew, Bucharin und andere führende Funktionäre des Bolschewismus. Eine positive Wertung erfuhren lediglich einige der engsten Mitstreiter Lenins, die das »Glück« hatten, vor dem stalinschen Terror zu sterben.

    Die Jahrzehnte anhaltende Desorientierung der sowjetischen Öffentlichkeit in den wichtigsten Fragen der Geschichte des Bolschewismus war die entscheidende ideologische Voraussetzung dafür, dass es der antikommunistischen Propaganda während Gorbatschows »Glasnost« gelang, den gesamten Bolschewismus mit Lenin an der Spitze in den Augen breiter Massen relativ leicht herabzuwürdigen. Die »Perestrojka-Leute« und die »Reformer« schufen – ganz im Geiste der stalinschen »Methodologie« – ein neues Amalgam, [**]

    indem sie diesmal – unter dem allgemeinen Zeichen des »Totalitarismus« – den Bolschewismus mit dem Stalinismus gleichsetzten. In dieser massiven antikommunistischen Kampagne gingen die Stimmen der wenigen ehrlichen Forscher unter, die versuchten, den innerparteilichen Kampf der zwanziger und dreißiger Jahre objektiv zu beleuchten und dem Mut derjenigen Bolschewiki Respekt zollten, die ihrer Sache und ihren Überzeugungen angesichts der wütenden Verleumdungen, grausamen Verfolgungen und des drohenden unvermeidlichen Untergangs treu geblieben waren.

    Eine Differenzierung ist auch innerhalb des äußerlich geschlossenen Lagers der Stalin-Anhänger in den dreißiger Jahren erforderlich. Eine Aufgabe des vorliegenden Buches besteht darin, die tragische Schuld derjenigen, die von der totalitären Maschinerie des Stalinismus betrogen oder gebrochen wurden, deutlich von den Verbrechen Stalins (und der relativ kleinen Clique seiner Helfershelfer) abzugrenzen. Politische Verirrungen und moralische Kompromisse haben auf den Waagschalen der Geschichte durchaus nicht den gleichen Wert wie die Verantwortung derjenigen, die bewusst Lüge und Terror einsetzten, um ihre Macht zu behalten.

    Ein Verständnis der Ereignisse in den dreißiger Jahren ist nur mit einer marxistischen Sichtweise der Geschichte möglich, d.h. »vom Standpunkt derer, die sie (die Geschichte – d.Ü.) machen, ohne die Möglichkeit zu haben, die Chancen unfehlbar im Voraus zu berechnen, nicht aber vom Standpunkt des spießerhaften Intellektuellen, der da moralisiert: ›Es war leicht vorauszusehen … Man hätte nicht … greifen sollen.‹«[[8]]

    Wenn wir vom Schicksal des Bolschewismus sprechen, wollen wir nicht vergessen, dass die Progressivität und die Vitalität einer politischen Bewegung vor allem an den jeweiligen Ergebnissen gemessen wird. In diesem Zusammenhang sei die Prognose G.P. Fedotows angeführt, eines der ehrlichsten und tiefgründigsten Theoretiker der russischen Emigration (auf seine Ideen werden wir im vorliegenden Buch noch mehrfach zurückkommen): »15 Jahre sind für eine Revolutionspartei ein riesengroßer und noch nie da gewesener Zeitraum«, schrieb er 1933. »In einer Revolution müssen die Jahre als Jahrzehnte gerechnet werden. … 15 Jahre Macht, Erfolge und Siege – in der wichtigsten und verantwortungsvollsten Epoche im Leben Russlands und Europas – geben das Recht auf ein historisches Denkmal. … Die Konturen dieses Denkmals … hängen jetzt von zwei Größen ab, mit denen ihre (der Bolschewiki – W.R.) historische Sache verbunden ist. Diese Größen sind Russland und der Sozialismus. Wenn Russland nicht zusammenbricht, sondern als Großmacht und großes Volk bestehen bleibt, wird auch seine Revolution als ›groß‹ in die Geschichte eingehen. … Ebenso verhält es sich mit dem Sozialismus. Wenn in der Welt der Sozialismus oder auch nur eine Gesellschaft der werktätigen Arbeiter den Sieg davontragen wird, kanonisiert diese Gesellschaft alle Kämpfer für die Sache der Arbeiter und weist Lenin einen Platz in der vordersten Reihe zu. Neben Marx und möglicherweise noch vor ihm.«[[9]]

    Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass sich von dieser Prognose absolut nichts bewahrheitet hat. Das große Land, noch vor kurzem in der ganzen Welt als Supermacht bezeichnet, ist in ein Konglomerat von Staaten zerfallen, die eine schlimme wirtschaftliche und politische Krise durchleben. Die meisten Länder mit nationalisiertem Eigentum und Planwirtschaft vollenden gerade den Übergang zu einem rückständigen halbkolonialen Kapitalismus. In diesen Ländern stürzt man die Denkmäler Lenins und anderer Kämpfer für die Arbeitersache im wahrsten Sinne des Wortes von ihrem Sockel. Das Gedenken an die Bolschewiki wird durch eine Verleumdungskampagne beschmutzt, wie sie die Geschichte bislang noch nicht kannte. Nationalistische und »demokratische« Kräfte rufen zu weiterem Vandalismus auf, der auf die Zerstörung der bolschewistischen Symbolik gerichtet ist.

    Der von der Oktoberrevolution begonnene Prozess ist jedoch noch nicht abgeschlossen, sondern lediglich angehalten worden. Die große historische Niederlage, die der Sozialismus an der Schwelle zu den neunziger Jahren hinnehmen musste, bedeutet nicht, dass die nächsten Jahrzehnte im Zeichen eines triumphalen Vormarschs des Kapitalismus in der ganzen Welt stehen werden. Aus der politischen Stagnation der siebziger und achtziger Jahre heraus wird die Menschheit erneut in eine Epoche stürmischer historischer Rhythmen gelangen. Der Zerfall der »sozialistischen Staatengemeinschaft« hat zu einer Störung des globalen historischen Gleichgewichts geführt. Der Wechsel der Gesellschaftsordnung in der UdSSR und in den Ländern Osteuropas bringt die Völker dieser Ländern in einen Strudel noch nie da gewesenen Elends und blutiger innerer Kriege. Ähnlich wie die Länder der »Dritten Welt« werden diese Länder zu Objekten einer nichtkolonialen Expansion seitens der fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten und transnationalen Gesellschaften.

    Diese Krisenprozesse müssen zwangsweise einen neuen Aufschwung der kommunistischen Bewegung auslösen. Deren Erfolg wird sehr stark davon abhängen, inwieweit sie mit einer wissenschaftlichen Ideologie ausgerüstet ist, bereichert durch eine tiefgründige Analyse der historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und durch entsprechende Schlussfolgerungen aus den Lehren der früheren sozialistischen Revolutionen.

    Der Verfasser des vorliegenden Buches hofft, dass er einen angemessenen Beitrag zur Lösung dieser akuten Aufgabe leisten kann.

    [*]

    Nach dem Zweiten Weltkrieg, als solche Regime in den Ländern Ost- und Mitteleuropas entstanden waren, gelang es Stalin allerdings nicht, das kommunistische Regime in Jugoslawien, das sich seiner Kontrolle entzogen hatte, niederzuhalten. Dieses Regime überstand sogar die Wirtschaftsblockade, wütende Verleumdungen, politische Provokationen und die völlige Isolation in der kommunistischen Weltbewegung. Andererseits waren Tito und seine Mitstreiter, die in den dreißiger Jahren die Schule des widerspruchslosen Dienstes am Stalinismus und des aggressiven Vorgehens gegen die »Trotzkisten« absolviert hatten, nicht in der Lage, eine echt sozialistische Alternative zum Stalinismus hervorzubringen und durchzusetzen.

    [**]

    Den Begriff »Amalgam« (seine direkte Bedeutung bezeichnet eine Legierung unterschiedlicher Metalle) verwendet Trotzki in den zwanziger und dreißiger Jahren häufig zur Wertung provokatorischer Methoden des Stalinismus: wenn die oppositionelle Tätigkeit mit antisowjetischen, auf eine Restauration der kapitalistischen Ordnung gerichteten Verschwörungen und später mit Spionage, Schädlingstätigkeit usw. gleichgesetzt wurde.

    Anmerkungen im Originaltext

    1

    M.A. Lifšic: Sobranie soèinenij v trëch tomach. T.III, Moskva 1988, S. 236.

    2

    Dva vzgljada iz-za rubea, Moskva 1990, S. 59..

    3

    P. Tol’jatti (Togliatti): Izbrannye stat’i i reèi. T. II, Moskva 1965, S. 790.

    4

    M.A. Lifšic: Sobranie soèinenij v trëch tomach. T. III, S. 256.

    5

    Isaac Deutscher: Trotzki III. Der verstoßene Prophet 1929–1940, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1963; S. 208.

    6

    F. Raskol’nikov: O vremeni i o sebe. Vospominanija, pis’ma, dokumenty, Leningrad 1989, S. 523.

    7

    Leo Trotzki: Verratene Revolution, Essen 1990, S. 275.

    8

    W.I. Lenin: Werke, Band 12, Berlin 1959, S. 103..

    9

    G.P. Fedotov: Sud’ba i grechi Rossii. T. II, Sankt-Peterburg 1991, S. 19–20.

    1. KAPITEL:

    Die Liberalisierung der Wirtschaft in der UdSSR

    Die größten ökonomischen Schwierigkeiten für das Land infolge der Zwangskollektivierung und der forcierten Industrialisierung entfielen auf das Jahr 1933. Die »Überspitzungen« im Wirtschaftsleben wurden beseitigt, indem man von zu ehrgeizigen Plänen und einem unzumutbaren Tempo bei der Entwicklung der Industrie Abstand nahm. Das letzte Parteiforum, das derartige Aufgaben gestellt und einen neuen großen Sprung in der Wirtschaft vorgesehen hatte, war die siebzehnte Parteikonferenz der KPdSU (B) (Januar – Februar 1932). In den Beschlüssen hieß es, der zweite Fünfjahrplan werde zu einer Periode der vollständigen und endgültigen Beseitigung der Klassenunterschiede in der UdSSR. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass das Problem einer klassenlosen Gesellschaft wie auch die Frage des vollständigen und endgültigen Sieges des Sozialismus in den nachfolgenden Jahrzehnten Gegenstand unzähliger »Korrekturen« und »Präzisierungen« wurde. Obwohl Stalin 1936 den vollständigen Sieg des Sozialismus in der UdSSR verkündete, konnte er sich nicht zu der Erklärung entschließen, dass im Lande eine klassenlose Gesellschaft entstanden sei. Die letzte »Eröffnung« in dieser Hinsicht erfolgte 1981 auf dem 26. Parteitag, als die These aufgestellt wurde, man könne die klassenlose Gesellschaft im »historischen Rahmen des Sozialismus« errichten, d.h. in einem unbestimmten historischen Zeitraum.

    Die siebzehnte Parteikonferenz verabschiedete die Direktiven zur Aufstellung des zweiten Fünfjahrplans (1933–1937), die vorsahen, in dieser Zeitspanne die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder bei den wichtigsten ökonomischen Kennziffern einzuholen. Diese Orientierung wurde durch Kontrollziffern bekräftigt, laut denen es »absolut erforderlich« war, 1937 die Erzeugung von Elektroenergie auf mindestens 100 Milliarden Kilowattstunden zu erhöhen, die Kohleförderung auf mindestens 250 Millionen Tonnen, die Gusseisenproduktion auf mindestens 22 Millionen Tonnen und die Getreideerzeugung auf mindestens 130 Millionen Tonnen. Die Erdölgewinnung sollte im Vergleich zu den für 1932 angenommenen Werten innerhalb des vorgegebenen Zeitraums auf das Zweieinhalb- bis Dreifache und die Maschinenbauproduktion auf das Drei- bis Dreieinhalbfache gesteigert werden.[[1]]

    Ebenso gewaltige Aufgaben stellte man auch hinsichtlich des Volkswohlstands. Die Versorgung mit den grundlegenden Konsumgütern, u.a. mit Nahrungsmitteln, sollte innerhalb von fünf Jahren auf mindestens das Zwei- oder Dreifache steigen.[[2]]

    Dass dieser »große Sprung« unrealistisch war, zeigte sich schon 1932, als deutlich wurde, dass die Erzeugung von Elektroenergie lediglich 13,5 Milliarden Kilowattstunden betrug (gegenüber 22 Milliarden, wie der erste Fünfjahrplan vorgesehen hatte), die Kohleförderung 64,4 Millionen Tonnen (gegenüber 75 Millionen) und die Gusseisenproduktion 6,2 Millionen Tonnen (gegenüber 10 Millionen Tonnen). Noch beunruhigender waren die Ergebnisse des Jahres 1933, in dem der Zuwachs an Industrieproduktion lediglich 5,5% betrug (gegenüber 16,5%, wie es der Jahresplan vorgesehen hatte, und 25,2% nach der optimalen Variante des ersten Fünfjahrplans). Unter Berücksichtigung der Fehleinschätzung bei den Planaufgaben im ersten Jahrfünft verkündete Stalin auf dem ZK-Plenum im Januar 1933 die Abkehr von der Politik eines »maximal beschleunigten Entwicklungstempos« und erklärte, es sei nicht erforderlich, »das Land weiterhin anzupeitschen und anzutreiben«. Dementsprechend schlug er für das zweite Planjahrfünft eine jährliche Zunahme der Industrieproduktion um 13–14% »als Minimum« vor.[[3]]

    Die Hauptaufgaben des zweiten Fünfjahrplans wurden auf dem zwei Jahre nach der siebzehnten Parteikonferenz stattfindenden siebzehnten Parteitag der KPdSU (B) beschlossen. Die Parteitagsbeschlüsse bestätigten die Richtlinie der Konferenz, wonach die politische Hauptaufgabe des zweiten Fünfjahrplans in der »endgültigen Beseitigung« nicht nur der kapitalistischen Elemente, sondern auch der Klassen generell sowie in der »Überwindung der Überreste des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewusstsein der Menschen« bestand.[[4]]

    Dennoch wurden parallel dazu die Kontrollziffern des Fünfjahrplans im Vergleich zu den Direktiven der siebzehnten Parteikonferenz beträchtlich gesenkt. So war zum Ende des Fünfjahrplans die Erzeugung von 38 Milliarden Kilowattstunden Elektroenergie vorgesehen, die Produktion von 16 Millionen Tonnen Gusseisen, von 46,8 Millionen Tonnen Erdöl und Gas, 17 Millionen Tonnen Stahl und 105 Millionen Tonnen Getreide. Der durchschnittliche Jahreszuwachs der Industrieproduktion sollte in den Jahren 1933 bis 1937 16,5% betragen.[[5]]

    Eine wichtige Besonderheit des zweiten Fünfjahrplans war die Orientierung auf die vorrangige Entwicklung der Industriezweige aus der Gruppe »B« (Konsumgüterproduktion) im Vergleich zu den Zweigen aus der Gruppe »A« (Produktionsmittelerzeugung). Entsprechend dieser Orientierung wurden in den Plan hohe Kennziffern bei der Verbesserung des Lebensstandards der Bevölkerung aufgenommen: die Verdoppelung bei der Erzeugung landwirtschaftlicher Güter, die Erhöhung des Konsums auf das Zwei- bis Dreifache, die Senkung der Einzelverkaufspreise um 35% und die Verdoppelung der Reallöhne bei den Arbeitern und Angestellten.[[6]]

    Wenngleich die Aufgaben des zweiten Fünfjahrplans, besonders im Hinblick auf das Wachstum des Wohlstands der Bevölkerung, auch nicht erfüllt wurden, so gab es doch größere Erfolge als im ersten Fünfjahrplan. Es zeigte sich, dass die »verspätete Modernisierung« der Wirtschaft erfolgreicher vonstatten ging, wenn es keine unaufhörliche Beschleunigung des Entwicklungstempos (bzw. kein, wie es Stalin zynisch nannte, »Antreiben des Landes«) gab.

    Plakat (1934) »Wer – wen? … Einholen und überholen«

    Plakat (1934) »Wer – wen? … Einholen und überholen«

    Die Arbeitsproduktivität stieg im Zeitraum 1933–1937 auf das Doppelte gegenüber 41% im ersten Fünfjahrplan. Die Industrialisierung begann Wirkung zu zeigen. 4-500 Großbetriebe nahmen ihre Tätigkeit auf. Die Bruttoindustrieproduktion stieg auf das 2,2-Fache (gegenüber dem Zweifachen im ersten Fünfjahrplan), obwohl die Anzahl der Arbeiter und Angestellten im ersten Fünfjahrplan viermal so schnell wie im zweiten zugenommen hatte.

    Durch die Erfolge bei der Entwicklung der Industrie brauchte nun kein Getreide mehr exportiert zu werden, um vom Erlös Maschinen und Ausrüstungen zu kaufen. Die Sowjetunion stellte den Import von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Maschinen ein, für die man im vorangegangenen Fünfjahrplan 1,15 Milliarden Rubel ausgegeben hatte. Auch Baumwolle wurde nicht mehr importiert, für die im ersten Fünfjahrplan etwa der gleiche Betrag bezahlt worden war. Die Kosten für den Import von Schwarzmetall sanken von 1,4 Milliarden Rubel im ersten Fünfjahrplan auf 88 Millionen im zweiten. Der Import von Werkzeugmaschinen für den Maschinenbau reduzierte sich im Gesamtumfang des Werkzeugmaschinenbedarfs von 66% im Jahre 1928 auf 14% im Jahre 1935. Insgesamt verringerte sich die Einfuhr von Maschinen 1934/35 auf ein Zehntel im Vergleich zu 1931. Durch die Einstellung des Imports von Traktoren und Autos und die beträchtliche Reduzierung des Imports von Industrieausrüstungen sowie Bunt- und Schwarzmetallen konnte die Auslandsverschuldung von 6,300 Millionen Rubel im Jahre 1931 auf 400 Millionen Rubel im Jahre 1936 gesenkt werden. Während 1931/32 der Export weit über dem Import lag, hatte die UdSSR 1934 eine aktive Handelsbilanz und ab 1935 auch eine aktive Zahlungsbilanz. Dazu trug auch der schnelle Aufschwung bei der Goldgewinnung im Land bei. 1936 stand dieser Zweig an erster Stelle in der Welt. Aufgrund der angesammelten Gold- und Devisenressourcen konnte die Sowjetunion nunmehr im wesentlichen die nötigen Waren gegen Bargeld kaufen und Abstand nehmen von Krediten ausländischer Firmen, die zu stark überhöhten Zahlungen für die Importe geführt hatten.

    All dies zeugte davon, dass das Land seine wirtschaftliche Selbstständigkeit erlangt hatte. Die stalinsche Führung war jedoch nicht in der Lage, aus dieser günstigen Situation Nutzen zu ziehen. Sie profitierte nicht von den Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung, sondern ging bei der Entwicklung der Industrie zu autarken Methoden über. Das Export- und Importvolumen sank von 4,5 Milliarden Rubel im Jahre 1930 auf 1,4 Milliarden im Jahre 1936. Der Anteil der Importgüter am Gesamtverbrauch des Landes betrug 1936 weniger als 1%.

    Die Jahre des zweiten Fünfjahrplans brachten große Erfolge bei der Stärkung der Verteidigungskraft des Landes. Während 1931/32 die Flugzeugindustrie 860 Flugzeuge pro Jahr herstellte, betrug in den Jahren 1935–1937 die mittlere Jahresproduktion 3.578 Flugzeuge. Die durchschnittliche Zahl bei Panzern stieg im gleichen Zeitraum von 740 auf 3.139, bei Artilleriewaffen von 1.911 auf 5.020 und bei Gewehren von 174.000 auf 397.000.

    Beträchtliche Fortschritte vollzogen sich bei der Mechanisierung der Landwirtschaft, hauptsächlich im Getreideanbau. In den Jahren 1933–1937 wurden mehr als 500.000 Traktoren, 123.500 Mähdrescher und 142.000 LKW für das Dorf hergestellt. Außer in die Landtechnik investierte die Sowjetunion jedoch in die sonstige Entwicklung der Landwirtschaft fast überhaupt nicht. Neuerungen wie die richtige Saatfolge, die Selektion von Samen, chemische Düngemittel oder Zuchtviehanlagen fanden im Land praktisch keine Anwendung. Infolgedessen blieben die Kolchosen und Sowchosen beim Ernteertrag und in der Tierproduktion nicht nur immer mehr hinter den Einzelbauernwirtschaften in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zurück, sondern sie übertrafen nicht einmal die entsprechenden Kennziffern des zaristischen Russland. Obwohl es im zweiten Planjahrfünft keine Missernten gab und 1937 das witterungsmäßig günstigste Jahr der gesamten zwanziger und dreißiger Jahre war, wurden in keinem Bereich der Landwirtschaft Erfolge erreicht, die auch nur annähernd an die Erfolge in der Industrie angeknüpft hätten.

    Die landwirtschaftliche Bruttoproduktion war insgesamt auf dem Niveau von 1924–1928 stehen geblieben. Die Getreideproduktion, die 1934 ihren niedrigsten Stand seit 1925 hatte (67,6 Millionen Tonnen), begann zu steigen, wenngleich auch noch nicht stetig. Nach den nur 55,8 Millionen Tonnen im Jahre 1936 erreichte sie 1937 eine Rekordhöhe in der Geschichte des Landes: 97,4 Millionen Tonnen. Das Jahresmittel der Getreidemenge betrug im zweiten Planjahrfünft jedoch nur 72,9 Millionen Tonnen gegenüber 73,5 Millionen Tonnen im ersten, und der durchschnittliche Getreideertrag pro Hektar lag in den Jahren 1933–1937 um einiges unter dem der Jahre 1922–1928.

    Stabiler war das Wachstum bei der Baumwollerzeugung: Sie stieg von 1,2 Millionen Tonnen im Jahre 1934 auf 2,7 Millionen Tonnen im Jahre 1939. Bei Zuckerrüben stieg die Erntemenge von 10 Millionen Tonnen im Jahre 1934 auf jeweils 16 Millionen Tonnen (durchschnittlich) in den darauffolgenden fünf Jahren, im Jahre 1937 betrug sie sogar 21,6 Millionen Tonnen. Der Bruttoertrag bei Gemüse war in den Jahren 1935–1939 niedriger als 1934 (in manchen Jahren um mehr als die Hälfte). Bei Kartoffeln schwankten die Bruttoerträge beträchtlich, sie betrugen lediglich 1935 und 1937 das Anderthalbfache des Jahres 1933, in den übrigen Jahren lagen sie nur wenig höher oder sogar niedriger als 1933.

    In hohem Tempo vollzog sich das Wachstum der Tierproduktion (das von einer erschreckend niedrigen Zahl im Jahre 1933 ausgegangen war). Die Fleischproduktion stieg von 2,3 Millionen Tonnen im Jahre 1933 auf 5,1 Millionen Tonnen im Jahre 1939, die Milchproduktion entsprechend von 19,2 Millionen Tonnen auf 27,2 Millionen Tonnen, die Eierproduktion von 3,5 Milliarden Stück auf 11,5 Milliarden Stück und die Wollproduktion von 64.000 Tonnen auf 150.000 Tonnen.

    Der Bestand an Rindern wuchs von 33,5 Millionen im Jahre 1933 auf 53,5 Millionen im Jahre 1939, an Schweinen entsprechend von 9,9 Millionen auf 25,2 Millionen, bei Schafen und Ziegen von 37,3 auf 80,9 Millionen. Der Hauptteil dieses Tierbestands befand sich in den häuslichen Nebenwirtschaften der Kolchosbauern. Einen höheren Viehbestand als 1928 gab es erstmals wieder im Jahre 1958.

    Erst gegen Ende der dreißiger Jahre erreichte die Getreide-, Fleisch- und Milcherzeugung den Stand, auf dem sie sich in den Jahren vor der Kollektivierung befunden hatte. Dennoch ermöglichte die begonnene Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion eine wichtige politische Aktion: Das Bezugskartensystem wurde abgeschafft. Das ZK-Plenum im November 1934 beschloss, ab dem 1. Januar 1935 die Karten für Brot, Mehl und Graupen abzuschaffen. Ab Oktober 1935 waren auch alle anderen zuvor kontingentierten Waren frei käuflich. Diese Maßnahmen sollten die Bevölkerung davon überzeugen, dass die größten ökonomischen Schwierigkeiten und materiellen Entbehrungen überwunden seien und dass die unzähligen Versprechungen von einer Verbesserung des Lebens für die Werktätigen nunmehr in Erfüllung gingen.

    Nach der Einführung des Bezugskartensystems in den Jahren 1928/29 hatten die Veränderungen beim Nominallohn und bei den Einzelhandelspreisen zu einem erheblichen Absinken des Reallohns der Arbeiter und Angestellten geführt. 1932 betrugen die Marktpreise das Achtfache der Kartenpreise, 1933 das Zwölf- bis Fünfzehnfache. Die Verteilung über Bezugskarten, die garantierte, dass eine bestimmte Palette an Lebensmitteln und Industriewaren zu niedrigen staatlichen Preisen erworben werden konnte, kam nur einem relativ kleinen Teil der Bevölkerung des Landes zugute. Von den 165 Millionen Einwohnern der UdSSR betraf die Verteilung über Bezugskarten bei Brot nur 40 Millionen Menschen, bei Fleischerzeugnissen 6,5 Millionen, bei Butter 3 Millionen. Die übrigen waren gezwungen, ihre Lebensmittel zu wesentlich höheren Preisen auf den Kolchosmärkten, in den Läden der Verbrauchergenossenschaften und in den staatlichen kommerziellen Geschäften zu kaufen. Während 1931 über die kommerziellen Geschäfte 10% der über den staatlichen Handel verkauften Lebensmittel abgesetzt wurden, waren es 1932 bereits 39%. 1933 kostete das Kilogramm Weizenbrot in diesen Einrichtungen 4 Rubel, das Kilogramm Fleisch 16–18 Rubel, das Kilogramm Wurst 25 Rubel, das Kilogramm Butter 40–45 Rubel (bei dem monatlichen Durchschnittslohn eines Industriearbeiters von 125 Rubel).

    Als die sowjetische Führung zu Beginn des ersten Fünfjahrplans die Bezugskarten einführte, interpretierte dies die stalinsche Propaganda nicht als der Not gehorchende zeitweilige Maßnahme, sondern als Stufe zur vollständigen Beseitigung der marktwirtschaftlichen Beziehungen, zur unmittelbaren ohne Geld erfolgenden Verteilung der Erzeugnisse. »Handel und Markt als Verbindungsglied zwischen mehreren Millionen von Kleinbauern und der Großindustrie«, behauptete beispielsweise ein Leitartikel der Zeitschrift »Bolschewik«, »werden allmählich überwunden, da auf der Basis der wachsenden Großindustrie die Kleinwirtschaften in der Landwirtschaft überwunden werden.«[[7]]

    In den Jahren des ersten Fünfjahrplans wandte sich Trotzki mit bissigem Spott gegen derartige Spitzfindigkeiten der stalinschen »Theoretiker«, welche die Ablösung des Rubels durch Bezugskarten als Übergang zu sozialistischen Verteilungsformen darstellten. Mitte der dreißiger Jahre erkannte auch Stalin die Unhaltbarkeit dieser Ideen und verabschiedete sich von seinen Vorstellungen über die baldige Konsolidierung einer nicht auf Geld beruhenden Wirtschaft und die Ablösung des Handels durch eine festgesetzte Verteilung. Auf dem siebzehnten Parteitag beschuldigte er einen »Teil unserer Funktionäre«, unter denen »ultralinkes Geschwätz« in Umlauf sei, sie würden propagieren, dass »der Sowjethandel ein überholtes Stadium sei, dass wir den direkten Produktenaustausch organisieren müssten, dass das Geld bald abgeschafft werden würde, weil es zu einem bloßen Rechenschein geworden sei«.[[8]]

    Seine Gedanken über eine Wiederherstellung des freien Handels und der Ware-Geld-Beziehung entwickelte Stalin in seiner Rede auf dem ZK-Plenum im November 1934 weiter. Dort erklärte er, das Bezugskartensystem sei die Politik einer bürokratischen, mechanischen, anteiligen Verteilung, die keine Rücksicht auf die lebenden Menschen, die Konsumenten nehme. Den Sinn der Abschaffung des Bezugskartensystems sah Stalin darin, die »einfache Verteilung« durch einen Warenaustausch zu ersetzen, der die Preise berücksichtigte, wie sie sich auf dem Markt herausgebildet hätten, und dem Chaos im Bereich der Preise sowie der großen Kluft zwischen den Marktpreisen und den Bezugskartenpreisen ein Ende bereitete.

    Stalin sagte, wenn für ein und dieselbe Ware mehrere Preise vorhanden seien, werde das zwangsläufig zur Spekulation führen, selbst bei den ehrlichsten Arbeitern, die einen Teil des auf Karten erhaltenen Brotes zu Marktpreisen verkaufen würden, um für dieses Geld andere notwendige Lebensmittel zu erwerben.

    Stalin verkündete, die neuen Einheitspreise würden über den Bezugskartenpreisen liegen, aber erheblich unter denen in den kommerziellen Geschäften, und dies würde eine Preissenkung auf den Märkten nach sich ziehen. Infolgedessen würden die Bauern begreifen, dass es von Vorteil sei, mit dem überschüssigen Korn das Vieh zu füttern, was wiederum einen Aufschwung in der Viehzucht mit sich bringe. Als eine andere wichtige Folge des Übergangs von der Bezugskartenregelung zum freien Handel bezeichnete Stalin die Festigung des Geldsystems, eines jener »bürgerlichen Wirtschaftsinstrumente«, das sich »die Sozialisten bis ins Kleinste zunutze machen müssen«. Die Wiederherstellung marktwirtschaftlicher Beziehungen werde es ermöglichen, einen »mehr oder weniger stabilen Rubelkurs« zu garantieren, der erforderlich sei, damit »unsere Planung nicht bürokratisch ist, sondern real«. Schließlich müsse der Handel auch die Handelseinrichtungen veranlassen, den Konsumenten zu achten, seinen Geschmack und seine Bedürfnisse zu berücksichtigen, sowohl in Hinsicht auf die Menge der Waren als auch besonders in Hinsicht auf deren Qualität.[[9]]

    Diese in den Beschlüssen des Novemberplenums verankerten Richtlinien Stalins zeigten, dass es in der praktischen Politik wie auch in der diese Politik begründenden offiziellen »Theorie« eine deutliche Neuorientierung gab. Von nun an galten Ansichten, die einen baldigen Übergang vom Handel zum unmittelbaren, nicht auf Geld beruhenden Warenaustausch propagierten, als neuerliche Erscheinungsform einer »ultralinken Abweichung«.

    Nachdem die Bezugskarten abgeschafft waren, kauften die Arbeiter und Bauern auf dem Kolchosmarkt, wo freie Preise herrschten, und in staatlichen Geschäften, wo der Verbraucher bei Festpreisen doch eine gewisse Auswahl hatte. Somit war im Land ein größerer Verbrauchermarkt entstanden. Die Städter, die sich aussuchen konnten, in welchem Bereich sie arbeiten wollten, ließen sich nunmehr in stärkerem Maße von der Höhe des angebotenen Arbeitslohns und anderen Konsumanreizen leiten. Folglich existierte im Land auch ein Arbeitskräftemarkt, der die Betriebe in Konkurrenz bei der Gewinnung von Personal brachte.

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