Nichts!
By Merih Gunay and Hulya Engin
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About this ebook
Wir alle kennen Menschen, die selbst dann gelassen bleiben, wenn ihnen der Arm abgerissen wurde. Den Tod eines sehr nahen Menschen still hinnehmen, der allerschlimmsten Gewalterfahrung wie einem gewöhnlichen Ereignis begegnen ... Vielmehr, von denen wir denken, dass sie so sind, weil wir uns vom äußeren Schein irreführen lassen ... Möglich, dass sie imstande sind, die Ereignisse durch ihren Verstand zu filtern oder aber dem Leben gegenüber einen Mechanismus zum Ertragen entwickelt haben. Daher rührt ihre Haltung wohl, auch wenn in ihrem Inneren Stürme wüten ... An diesen Menschenschlag lassen mich Merih Günays Kurzgeschichten denken, weil sie diese Gefasstheit auf eine merkwürdige Art auch auf den Leser übertragen. Günay nimmt den Leser bei der Hand, ja er hakt sich beim Gehen bei ihm unter und raunt ihm zu: "Du, Leser! Bleib gelassen, das Leben ist zu hart, als dass es sich lohnte, sich seinetwegen zu empören".
Elif Türkölmez / Literaturzeitschrift Notos
Scheinbar belanglose, gewöhnliche Begebenheiten bergen oft heftige Stürme in sich. Von außen kaum erkennbar, aber von innen her ziehen sie uns den Boden unter den Füßen weg, zerreißen sie uns in Stücke. Günays Geschichten sind ein Beweis dessen, wie diese kleinen Funken zu großen Flächenbränden werden können. Und dies gelingt ihm ohne geschraubte Sprache. Ganz einfach, in einer schlichten Sprache holt er aus den scheinbar banalen Begebenheiten die ihnen innewohnende Bedeutsamkeit hervor. Verblüffend könnte man sagen, aber das trifft es nicht ganz, voller Spannung, nein, auch das trifft es nicht, surreal schon gar nicht... Aber eine Fiktion, die all das und doch nichts davon enthält und dazu außergewöhnliche Momente menschlicher Zustände, die uns aufwühlen ...
Altay Öktem / Schriftsteller
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Book preview
Nichts! - Merih Gunay
weil ich große angst habe zu verhungern –
drum esse ich ständig
Leon
Die vom Eigentümer gewährte Frist von einem Monat zur Übergabe des Ladenlokals samt Inventar und unter Wahrung der Konditionen für Anzahlung und Miete, das wir zehn Jahre lang geführt und um dessen Willen wir uns, Gott im Himmel sei dafür gedankt, lebenslang verschuldet hatten, lief morgen früh ab.
Es waren die späten Stunden eines trostlosen Winterabends und ich wartete auf einen der Kaufinteressierten und darauf, mich mit ihm in einer einigermaßen akzeptablen Höhe zu einigen und den Handel mit Handschlag zu besiegeln.
Die Vorstellung, den Laden zu räumen und auszuziehen, war ziemlich unangenehm. Die Gerichtsvollzieher waren mürrisch, die Nachbarn neugierig. Das Schlimmste aber war, dass meine Frau beide Seiten außerordentlich ernst nahm.
Sie war ein wenig verärgert darüber, dass Decken und Wände unserer Dachgeschosswohnung bei den heftigen Schneefällen der letzten Woche reichlich mit Wasser in Berührung gekommen waren und die Rechnungen und Ratenzahlungen überhand genommen hatten. Und die Ischias-schmerzen, von denen wir dank Kälte und Feuchtigkeit gleich familienweise betroffen waren, waren fast chronisch geworden. Andererseits schmiedete meine Frau auch schöne Pläne, wie etwa die Wohnung zu verlassen und gemeinsam mit meinem Sohn zu ihrer Mutter zu ziehen. Mit anderen Worten, die Stimmung bei uns war prächtig.
Die Tatsache, dass mein unentschlossener Gesichtsausdruck sich, wie bei dem Jungen in der Coca Cola-Werbung in ein erstauntes Lächeln verwandelte, rief zwar angenehme Gefühle in mir hervor, bewirkte im Gegensatz zum Werbespot jedoch nicht, dass mein Gegenüber ebenfalls lächelte, denn der Mann war gekommen, um zu sagen, dass er es sich anders überlegt hatte.
Als ich gerade dabei war, zu meinen wohligen Gedanken zurückzukehren, klingelte das Telefon allerliebst. Die Stimme am anderen Ende des Hörers sagte, dass sie es auch tagsüber versucht und dabei mit einer Frau gesprochen habe, dass sie sich in der angegebenen Straße befinde und nun wissen möchte, welches Ladenlokal denn das sei, das laut Anzeige zur Übergabe bereit stehe.
Gottes Ratschluss ist unerforschlich!
Fünfundvierzig Sekunden später saß er mir gegenüber und erzählte: Er heiße Leon, seine Familie sei seit drei Generationen Istanbuler, er habe mit dem Silberhandwerk zu tun, er habe drei Töchter, die in Amerika studiert hätten, zwei verheiratet, eine ledig, ob ich verheiratet sei? Er habe Geschäfte in Istanbul, Antalya und Izmir, warum ich denn rauche, ob mir mein Leben nichts wert sei? Jede seiner Töchter führe eines der Geschäfte, und spreche fließend Englisch, Armenisch und Russisch, wo ich denn wohne, wie ich denn zur Arbeit komme. Auch sein Sohn habe das Studium abgeschlossen und sei nun zurückgekehrt, jetzt suchten sie für ihn ebenfalls einen Laden, danach würde er heiraten, warum ich denn keinen Akbil benutze? Sie seien alle sehr versiert im Kaufmännischen, was ich denn für eine Packung Zigaretten zahle? Das sei zuviel, beim Zoll seien sie billiger. Der Laden gefalle ihm, seine Töchter müssten ihn sich allerdings auch noch anschauen, sie seien zurzeit in irgendeiner Kirche in Beyoğlu bei irgendeiner Zeremonie, er werde sich in ein Taxi setzen und sie abholen und mir auf dem Rückweg eine Stange Zigaretten mitbringen, wenn ich das wolle. Sollte der Laden auch den Töchtern zusagen, würden wir schon morgen früh die Übergabe besiegeln können. Ich sei ihm sehr sympathisch, ob ich denn nicht mit seinen Töchtern zusammenarbeiten wolle. Eine Stange Zigaretten koste beim Zoll sechsunddreißig Lira, er könne mir zwei mitbringen, aber weil er noch andere Besorgungen zu machen habe, solle ich ihm das Geld für eine Stange im Voraus geben, die zweite könne ich bezahlen, wenn er wieder da sei. Ob es ihm denn keine Umstände mache? Nein, das mache es keineswegs.
Ob ich sicher sei, dass ich nicht zwei Stangen wolle? Ich sei sicher. Um zehn, spätestens Viertel nach zehn, seien sie wieder hier.
Der Morgen dämmert.
Leon ist nicht gekommen.
Ich bin 36 Lira im Gewinn.
Die Tauben
Er öffnete, wie er es Tag für Tag zur selben Uhrzeit tat, die kleine Drahttür der Holzhütte und beobachtete schweigend, wie die Tauben nacheinander, ein wenig ängstlich und hastig, hinaustraten und nacheinander in die Lüfte stiegen und im Schwarm ihre Kreise am Himmel zogen.
Dann verließ er die Baracke am Ufer, in der er lebte und machte sich auf den Weg zu seinem Freund, der, etwa Hundert Schritt von ihm entfernt, ebenfalls in einer Baracke lebte, allein wie er selbst.
Während er auf seinen Freund zuging, der mit dem Schlauch in der Hand den Garten goss, sagte er: Wieder eine. Wieder eine weg.
Er nahm auf einem der Stühle vor dem Haus Platz und fuhr fort, vor sich hin zu murren:
Auf dieser Insel bin ich der einzige, der Tauben züchtet, ich meine, sie können sich also nicht in einen anderen Schwarm gemischt haben, dass sie jemand geklaut hat, ist auch unwahrscheinlich, und es gibt nicht den geringsten Grund dafür, dass sie davon geflogen sein sollten! Das schon gar nicht. In dieser Woche ist es schon die dritte. Ich begreife nicht, was ihnen zustößt.
Könnte da nicht ein Raubvogel am Werk sein?
Ich hab noch keinen gesehen. Du etwa?
Nein.
Was dann?
Ich hab nicht die geringste Ahnung.
Er legte den Schlauch ab und setzte sich zu seinem Freund. Sie hoben die Köpfe ein wenig und verfolgten den Taubenschwarm, der in einer gewissen Formation flog.
"Manchmal landen die