Sinnvertiefung im Alltag: Zugänge zu einer lebensnahen Spiritualität
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Sinnvertiefung im Alltag - Fritz Bohnsack
Zuwendung.
[12]
[13] 1. Zur Sinnerfahrung und zum Umgang mit Religion
Den Blick auf allgemeine Strukturen der heutigen Sinn- und Religions-Problematik voranzustellen, widerspricht in gewisser Hinsicht dem Grundsatz dieser Arbeit, welche dem Leser verdeutlichen möchte: Hier geht es nicht um etwas Abgehobens, sondern um Deinen Lebensalltag. Eine Arbeit über den Lebenssinn sollte daher konkreter beginnen. Doch es schien mir noch wichtiger, dem Leser einen generellen Verständnishorizont für das darauf Folgende zu ermöglichen.
1.1 Probleme der Sinnerfahrung heute
Sinnerfahrung beginnt bei alltäglichen gleichsam ‚technischen‘ Vorgängen. Um die Stoppeligkeit der männlichen Kinnpartie zu reduzieren, macht es Sinn, sich zu rasieren. Um den Teppich einigermaßen staubfrei zu erhalten, macht es Sinn, einen Staubsauger einzusetzen. Wenn man geschäftlich viel unterwegs ist, erweist sich ein eigenes Auto vielleicht als sinnvoller als die Abhängigkeit von Fahrplan und Streiks der Deutschen Bahn. Das Ziel der Reduzierung des CO2-Ausstosses, um die Erderwärmung zu begrenzen, weist fast schon in eine andere Sinndimension, die sich nicht mehr auf den unmittelbar erfahrbaren Kausalbezug von Maßnahmen als Mittel zum Erreichen wünschenswerter Zwecke begrenzt, sondern Entscheidungen aus weltweiter Verantwortung voraussetzt.
1.1.1 Was ist Sinn?
Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage führt zu einer Vielfalt von Bedeutungsrichtungen. Sinn ist das, was eine spezifische Gruppe, Gemeinschaft, Gesellschaft oder Tradition für sich als Sinn festgelegt hat, heute mehr denn je aber auch das, was der Einzelne – nicht frei von diesem Angebot – für sich selbst als Sinn ausgewählt und akzeptiert hat und als Sinn in seinem Leben erfährt.
Ein Lexikon wie Meyers (2003, Bd. 21, S. 6890) definiert Sinn als
„die Bedeutung bzw. der Wert einer Sache, eines Vorgangs, eines Erlebnisses für jemanden oder etwas, daneben auch gleichbed. mit Zweck, Funktion […]. Sinnvolles Handeln strebt einem Ziel zu, das selbst einen Wert darstellt".
[14] Ein Blick in das Duden Synonymwörterbuch (2007, S. 796 f.) mag einen ersten Hinweis auf die Vielschichtigkeit dieses Begriffes andeuten. Hier erscheinen: Nutzen, Wert, Ziel, Zweck; Bedeutung, (Sinn)gehalt; Bewusstsein, Denkart, (Grund-)Einstellung, Gesinnung, Lebensanschauung, Wesen; Empfinden, Geschmack, Verständnis und Wahrnehmungsfähigkeit.
Zum Teil weniger abstrakt haben Essener Studenten 1983 auf die Frage, was „Sinn" eigentlich sei, geantwortet (schriftl. Befragung; vgl. Bohnsack 1984, 5): 1. Sinn = Bedeutung: Bedeutung, Gehalt, Lebensinhalt. Wissen, wofür und warum man etwas macht. Begründung, Hintergrund-Zusammenhang. 2. Sinn = Ziel: Wissen, was man will, wo es lang geht, Verwirklichung einer Vorstellung, Lebensperspektive. 3. Sinn = Zweck: Funktion, Nutzen, Effektivität. Lohnt es sich? 4. Sinn = Motiv: Für wen und was setze ich mich ein und warum? 5. Sinn = Zufriedenheit, Sicherheit, Identität.
Heutige Studenten könnten sich ähnlich äußern.
Das Sinn-Streben richtet sich auf Sicherung und Steigerung der Existenz, in Industrienationen vor allem in der Befriedigung durch Arbeit und Konsum. Eine europaweite Untersuchung ergab folgende Reihenfolge der (abnehmenden) Bedeutung von Aspekten der Berufsarbeit:
„Der Anteil der Menschen, die ihr Leben für sinnlos halten, ist in Europa sehr niedrig". Als wichtig erlebt werden tägliche Lebensbedingungen wie Gesundheit, ökonomische Sicherheit, stabile und liebevolle Beziehungen (Zulehner/Denz 1993, 139, 241). Angesichts der Unsicherheiten (Kontingenz) der Alltagsbewältigung strebt der Mensch nach „Kontrolle und Bewahrung von „Selbstachtung
(Hanisch 2000, 157). Und das Bemühen, nach dem Entdecken von Belanglosigkeit in der Vielseitigkeit des Interessanten den Schein des Vordergründigen, Oberflächlichen, Vorläufigen zu tieferer Sinnerfahrung zu durchdringen, ist immer noch nicht ganz verdrängt und vergangen, sondern offenbar wieder „im Kommen" (so Mynarek schon 1983, 83 f.).
Das besagt aber auch: Neuzeitliche Entwicklungen haben die Sinn-Problematik verändert und verschärft. Comenius etwa ging noch von einer umfassenden einheitlichen göttlichen Schöpfungsordnung aus, welcher eine [15] Sinn-Ordnung entsprach, die weder historisch als veränderlich noch als durch „Partialpraxen" begrenzt angesehen wurde. Sinnvoll war menschliches Leben in dem Maß, wie das Individuum sich dieser Seinsordnung einfügte und ihrem Auftrag folgend handelte (Hanisch 2000, 166; Wollersheim 2000, 98 f.). Die neuzeitliche Einsicht in die globale Verschiedenheit der Sinnsysteme und Akzeptanz dieser Differenzen als prinzipiell gleichberechtigt – zentrales Vorzeichen des Pluralismus – verhindert die Rückkehr zu einer uniformen Sinnordnung, wenngleich z.B. Versuche, die Scharia weltweit durchzusetzen, weiterhin oder erneut ihre Absolutheitsansprüche verteidigen.
Darin kommt eine menschliche Grundhaltung zum Ausdruck. Die Vielfalt des Pluralismus hat die seit jeher bestehende Unsicherheit dieser Welt zur Desorientierung erhöht: Angst motiviert zum Streben nach einer umfassenden Sinn-Sicherung, nicht nur invividuell für sich selbst, sondern bestätigt durch die Gleichartigkeit der Anderen. Es geht dabei um einen Kampf um die (innere) ‚Heimat‘, auf deren Grundlage die Belastungen dieser Welt bewältigt werden sollen. Doch eben diese individuelle Sinn-Integration bzw. -Kohäsion, die Entwicklung von Selbstkonsistenz, vor welcher der Einzelne heute steht, wird erschwert durch die divergierenden Anforderungen aus seiner Umwelt: Gesellschaftliche Bereiche wie Wirtschaft (Konkurrenz, Profit, Wachstum), Politik (Macht), Verwaltung, Recht, Familie oder Kirche haben ihre unterschiedlichen Sinnordnungen, welche jeweils das Handeln bestimmen und die der Notwendigkeit der persönlichen integrierenden Identitätsbildung entgegenstehen (nach Luckmann). Der Sinn betrifft Gegenwart und Zukunft. Die letztere aber wird gefährdet, wenn etwa das „Wachstum" weiterhin die Umwelt oder das Machtstreben (Atomkrieg) die Welt zerstört. Die Bedrohung ihrer Zukunft, auch durch die gesellschaftliche Verschuldung, wird insbesondere von Jugendlichen als Sinnverlust erlebt.
Auch in früheren Jahrhunderten homogenerer Sinnordnungen hat es Unterschiede individueller Sinnbesetzung und Sinntiefe gegeben. Die Möglichkeiten eines Ausweichens vor einer vertieften Sinnerfassung sind jedoch deutlich gestiegen. Vielfach misslingt die subjektive Beherrschung und Begrenzung der Informationsflut mit ihrer Inflation von Identifikationsangeboten, der Einflüsse von Werbung, Kauf- und Freizeitofferten, politischer Propaganda, der drogenhaften Abhängigkeit von Fernsehen, Laptop, Smartphone oder auch Diskothek, Videothek, Fußballplatz. Die zwanghafte Sinnsuche heftet sich an den gesellschaftlichen Status und Aufstieg in der sozialen Hierarchie, repräsentiert durch die entsprechende Automarke, also an das Besser-Sein als andere – meist auf deren Kosten. Aus der Ruhelosigkeit des Nie-am-Ziel-Seins mutiert der Beruf zur Erfolgssucht und endet heute für manche Beobachter rasant zunehmend im Burnout und nicht selten (nach Friedman/ Rosenman, 1975, Typ A) mit dem Herzinfarkt. Und die atemberaubende Beschleunigung, welche fast alle Gesellschaftbereiche und Lebensaspekte ergriffen hat und durchdringt, lässt sich auch verstehen als Flucht vor der aus[16] der Oberflächlichkeit resultierenden Sinn-Leere. Die Beschleunigung verbindet sich mit der narzisstischen Sucht nach Größe und Stärke und der Verachtung von Schwäche, mit der Gewalt gegen diese und im Amoklauf und Suizid auch gegen sich selbst. Erich Fromm sprach von der „Rache des ungelebten Lebens" (zitiert bei von Hentig 1979, 51). Spätere Partien dieses Bandes gehen auf solche Fehlwege des Ringens um den eigenen Lebenssinn und des Ausbrechens aus der Sinn-Problematik näher ein.
1.1.2 Zur Entstehung von Sinn
Über die Entstehung von Sinn deutete sich im Vorstehenden einiges an. Beim Kleinkind entsteht erlebter Sinn aus seinen unmittelbaren Bedürfnissen, etwa nach Zuwendung, Wärme, Nahrung, Versorgung; und aus seiner praktisch zugreifenden ‚Eroberung‘ seiner Umwelt (detaillierter Nipkow 2000 und die dort angegebene Literatur). Solcher Sinn differenziert sich mit der kindlichen Entwicklung und Welterfahrung, aber auch mit den Widerständen und Enttäuschungen, die der Heranwachsende von Anfang an bewältigen muss. Dabei ist auch die Bildung von Neurosen als Kampf um Sinnhaftigkeit deutbar (vgl. Miller 1983; dazu Näheres im 7. Kapitel). In diesem Entwicklungsprozess werden neue Erfahrungen zunehmend auf frühere eigene und auf in der umgebenden Kultur deponierte Problemlösungen und Werte bezogen – das heißt auf die bei allem Pluralismus weiter bestehende jeweils lokale Matrix aus Erwartungen, Gewohnheiten, Sitten, Ritualen und Techniken, welche das individuelle Verhalten beeinflussen und ihm Sinn geben bzw. stimulieren, Sinn zu schaffen. Doch außer dem gesamtgesellschaftlichen Sinnkonsens ist auch der Konsens dieser einzelnen „Sinngemeinschaften heute bedroht, weil die „geistigen Zäune
, mit denen sie ihren Fortbestand zu schützen suchen, „niedriger und löchrig werden: Und durch die „Löcher
wird man gewahr, dass auch Anderes möglich ist (Wollersheim 2000, 104).
Dabei entwickelt sich Sinn in und mit den Aufgaben, die das Leben einem jeden stellt und an denen sein Sinn-Erleben wächst oder zerbricht. Er scheitert nicht nur an Schicksalsschlägen, sondern auch, wenn er sich mit seinen Aufgaben übernimmt und zur Marionette übersteigerter Ansprüche wird (diese Gefahr habe ich am Beispiel von A.S.Makarenkos Kollektiv aufgezeigt; Bohnsack 2003, 13-53). Diese Versuchung liefert nicht nur, wie erwähnt, die Berufswelt, sondern auch die Schule mit ihrer vielfach von den Betroffenen als letztlich sinn-leer erlebten Beschleunigung in der „Erledigung der abprüfbaren „Stoff
-Fülle, während es an Erfahrungen mit persönlich und/oder gesellschaftlich ernstzunehmenden und insofern als sinn-voll erlebten Aufgaben, Selbsterprobungen und Bewährungen mangelt. Die Stabilisierung der Personen erscheint höchstens im Sport- und Religionsunterricht als Zielsetzung, andere Möglichkeiten durch „Aufbauende Kräfte" in den verschiedenen Facetten von Unterricht und Schulleben (vgl. Bohnsack [17] 2009) werden kaum ausgeschöpft. Stabilisierung und Sinnentwicklung sind zwei Seiten desselben Vorgangs.
Der Sinn von Schule gründet sich auf der Annahme, dass institutionalisiertes Lehren und Lernen zur Sinnentstehung und -vertiefung beiträgt, d.h. Bildung bewirkt. In einer gewissen Analogie zum Bildungsprozess ist verschiedentlich versucht worden, eine progressive Entwicklung von biographischen Sinn-Entwicklungen fest- und aufzustellen. Jean Piaget wurde dabei zu einer Art Vorbild mit seinen Untersuchungen zur moralischen Entwicklung des Kindes, Lawrence Kohlberg folgte mit seiner einflussreichen Aufstellung von Stufen der sittlichen Entwicklung, James W. Fowler (1981, deutsch 2000) mit seinen „Stages of Faith" und Fritz Oser und Paul Gmünder (1988) mit ihren Stufen der religiösen Urteilsfähigkeit des Menschen. Kohlberg, Fowler und Oser strebten dabei jeweils eine formal-universale Stufenfolge, jenseits des Pluralismus, an, blieben jedoch in mancher Hinsicht der abendländisch-christlichen Tradition verhaftet.
Fowler stellte 6 Stufen auf, vom kindlichen Urvertrauen zu einer zunehmenden Glaubenssouveränität, welche die Abhängigkeit vom Urteil und Verhalten anderer ebenso relativiert wie sie die angstbesetzte Fixierung auf die eigene konfessionelle Herkunft mildert. Die 5. Stufe dieser Entwicklung bringe, so Fowler, u.a. die Einsicht, dass jede Konfession partikular ist und der Ergänzung durch andere Perspektiven bedarf. Und die 6. Stufe erreicht eine „Einheit des Seins, die auch (christlich) als „Reich Gottes
bezeichnet wird (Fowler 2000, 223). Oser und Gmünder sehen ebenfalls einen Progress von einer Heteronomie gegenüber dem „Letztgültigen (Gott) zu einer Autonomie. Diese verdankt sich dem Einklang mit dem Absoluten, erreicht also eine zunehmende Überwindung der Furcht, dass das Absolute direkt und willkürlich in menschliches Leben eingreift, verbunden mit dem wachsenden Vertrauen, dass es auch bei schweren Belastungen trägt. Zugleich erreicht diese 5. und letzte Stufe von Oser/Gmünder eine „universale Solidarität mit allen Menschen
– eine Qualität, die sich auch in buddhistischen Erleuchtungen zeigt, wie das 5. Kapitel dieses Bandes näher darlegen wird. Die Transzendenz wird dann erfahren als immanent, d.h. Gott als gegenwärtig in allem menschlichen Tun (auch Buddha ist in jedem und allem präsent).
Diese Konzepte setzen voraus, dass der Weltzusammenhang und Weltsinn auf jeder Entwicklungsstufe anders erfahren und gedeutet wird, die menschliche Biographie also aus einer „Abfolge sich wandelnder Sinnwelten besteht (Schweitzer 1992, 244-246). Während diese Sinnentwicklung bei Fowler und Oser theologisch und auch christlich orientiert ist, hat Ludwig Duncker (2000) eine stärker pädagogische Stufenfolge aufgestellt. Danach erscheint „sinnerschließendes Lernen
1. als zweckrationales Denken, welches plan- und berechenbar, ökonomisch, effizient und ohne Umwege mit gegebenen Ressourcen seine Ergebnisse erreicht; 2. als Reflexion darüber, d.h. in Sprache und Begrifflichkeit, welche diese Sinnzusammenhänge, also[18] auch die Welt, gleichsam „lesbar" machen; 3. als ästhetischer Ausdruck solcher Sinnerfahrungen im Bild und in den Künsten; 4. auf einer Metaebene als Argumentation über Kategorien zur Beurteilung der Sinn-Problematik selbst und als Einsichten in Wertvorstellungen und Sinntiefe (auch Moralität) menschlichen Handelns (Duncker 2000, 186-189, 191-193).
Dazu ebenso wie zu den zuvor genannten Stufenfolgen fragt es sich, wie weit eine solche zunehmende Blickerweiterung, aber auch Abstraktion, eine Stärkung der Personen und ihrer Stabilität mit sich bringt. Und es fragt sich, wie weit die in den Sinnstufen gegenwärtige Bildungshierarchie sich mit einer gleichen Würde der einzelnen Stufen verbinden lässt: Jesus errichtete eine umgekehrte Hierarchie, wenn er seinen Jüngern – von den „Schriftgelehrten zu schweigen – die Kinder als Vorbild vorstellt (Matth. 5,3; Mark. 10,15; Luk. 18,17). Und unter den Erwachsenen wählte er die Fischer und Zöllner, eben nicht die „Schriftgelehrten
aus: Er wusste offenbar, dass mit der Gelehrtheit nur zu leicht die existentielle Unmittelbarkeit verloren geht – wenn erstere nicht von Anfang an eine Flucht vor der letzten Betroffenheit war. Damit steht die Sinn-Entwicklung vor der Problematik, die Kleist in seinem „Marionettentheater ansprach: Wie lässt sich nach der Vertreibung des Menschen aus dem „Paradies
der Unmittelbarkeit in die Bewusstheit und der Unmöglichkeit einer Rückkehr eine bewusste Unmittelbarkeit gewinnen? Solche Fragen stellen sich noch eindringlicher im Blick auf die Stufentheorie von Klaus Giel (2000) und werden im 5. Kapitel bei der Darstellung des Buddhismus wieder aufgenommen.
Giel unterscheidet 3 Stufen der „Erweiterung des Sinnhorizonts. 1. Die sinnliche (er nennt sie auch „ästhetische
) Wahrnehmung der Welt ist von individuellen Voraussetzungen und situativen Bedingungen abhängig und daher für ihn zufällig, oberflächlich und partikular und liefert „Scheinsicherheiten, z.B. in der Lebenswelt der Kinder (Giel 2000, 62 f., 78). 2. Mit der Versprachlichung, etwa in der Schule, werden empirische Befunde in theoretische Zusammenhänge gestellt und erst dadurch zu Wissen (a.a.O.85). Im Studium werden die Dinge aus dem „Strom der Zeit gelöst
und gewinnen eine „ ‚Abgeschiedenheit‘ von der Lebenswelt (a.a.O.60). Die dabei benutzten Texte erschließen die Wirklichkeit jenseits der lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Zufälligkeit und setzen eine „sachliche […] Dignität und Verbindlichkeit der Erfahrung
frei (a.a.O. 63), der „Vergänglichkeit enthoben (a.a.O. 62): „Die Schule kennt keine unvermittelte Gegenwart der Dinge und der anderen Menschen
(a.a.O.78). 3. Die Wissenschaft repräsentiert für Giel die „prinzipiell ‚abwesende‘ […] Wirklichkeit" (a.a.O.79), und zwar deshalb, weil sie Irrtümer und Unsicherheiten (Kontingenz) des unmittelbaren Lebens auf eine eindeutige Wirklichkeit reduziert (a.a.O. 85).
Giels Ansatz zwingt zur Entscheidung, was als „Wirklichkeit und als Sinnvertiefung zu verstehen ist. Wie Jesus die Sinn-Hierarchie umdrehte und bevorzugt den Kindern den Zugang zum „Reich Gottes
zusprach, so dreht[19] die biblische Tradition, wie sie für mich heute etwa Martin Buber ansprach, die Gewichtung von Unmittelbarkeit und Wissenschaft um: Für Buber erschließt sich tieferer Sinn nicht durch Theorie, auch nicht durch platonische theoria, mit der Giel offenbar sympathisiert, sondern in der „Du-Beziehung, d.h. in der existentiellen Begegnung, also der Einmaligkeit und Vergänglichkeit der Situation, welche für ihn nichts Zufälliges hat, sondern den Gehalt, den Sinn der göttlichen Offenbarung anbietet. Und Giels Schultheorie (siehe das obige Zitat) scheint zu übersehen, dass Schule, zumindest für die meisten Schüler, nur erträglich wird im Ausmaß von Erfahrungen mit „unvermittelte[r] Gegenwart der Dinge und anderen Menschen
, der Mitschüler und Lehrer und ihrer Zuwendung (vgl. Bohnsack 2013).
Wissenschaftliche Erkenntnisse vermögen Sinnbezüge aufzudecken, welche die alltägliche Wahrnehmung nicht erfasst. Und die Komplexität hochindustralisierter und computerisierter Gesellschaften erfordert differenziertere Erkenntnis- und Steuerungskompetenzen und entsprechende Sinnbindungen als die von Kindern und Jesu Fischern – für Buber Fähigkeiten der Problembewältigung in dem, was er „Es-Welt nannte. Das weist auf deren höchst komplexe Sinnstrukturen. Aber die letzte Sinnorientierung – gleichsam das „Himmelreich
– zeigt nicht auf die Wissenschaft, wie der 2. Teil dieses Kapitels verdeulichen wird.
Die uralten Fragen: Wozu leben wir? Was trägt uns – auch im Angesicht von Leiden, Schicksalsschlägen und Tod? – lassen sich kaum durch Reduktion auf Wissenschaft beantworten: Die „Einwurzelung (Simone Weil) muss schon tiefer gehen. Früher lieferte diese die Religion. „dein Glaube hat dir geholfen
, heißt es im Neuen Testament. Hubertus Mynarek (1983) hat Menschen nach ihrem letzten Ziel gefragt, das sie als „religiös ohne Gott verstanden. Sie geben etwa an: „das existentielle Einschwingen in die Totalität des Seins
; das Sich-gebunden-, -angesprochen- und -verpflichtet-Fühlen durch das Universum; die Gewissheit, in eine „größere Wirklichkeit eingebettet und durch sie geführt zu sein; ein „Objekt und Subjekt zusammenschmelzendes Einheitsbewußtsein
(a.a.O. 81, 103, 125, 204). Es ist vielleicht kein Zufall, dass solche Formulierungen an Sinn-Orientierungen im Buddhismus und Taoismus erinnern. Sie bleiben oft auch unbewusst, jedenfalls unausgesprochen, bestimmen aber sichtbarere Engagements, wie etwa den Einsatz für Freiheit und Demokratie (John Dewey), für Rechte der Farbigen (Martin Luther King: „I have a dream"), gegen ein totalitäres System (Geschwister Scholl), für Bedürftige und Kranke (Mutter Teresa, Albert Schweitzer) und unzählige mehr (vgl. Englert 1993b). Viele andere Menschen finden ihren Lebenssinn in der wortlosen Pflichterfüllung am Arbeitsplatz oder in der Erziehung ihrer Kinder.
Der Sinn-Begriff ist also vielfach unterschiedlich gefasst worden. Man kann ihn eingrenzen auf Erkenntnis, etwa von bleibenden oder doch relativ stabilen Erfahrungs-Resultaten, Erfahrungs-Mustern und Gestalten („Gestalt- [20] psychologie). Auch ein solches Wissen ist nicht wie ein Paket übertragbar, sondern wird im Lernprozess modifiziert und insofern selbst erzeugt. Das Ausmaß variiert dabei mit den jeweiligen Inhalten: historische Daten oder englische Vokabeln kann man mitteilen und relativ unverändert aufnehmen, das englisch Sprechen erfordert jedoch „Sprachgefühl
; letzte Sinn-Orientierungen, wie sie oben genannt wurden, lassen sich zwar verbal präsentieren, werden jedoch zu Sinn erst als Ergebnis eines längeren oder lebenslangen Erfahrungs- wenn nicht Leidens-Prozesses, oft ‚infiziert‘ durch den überzeugenden Einfluss als bedeutend erlebter Menschen, deren Seins-Vertrauen selbst im schulischen Unterricht „mitgelesen" (von Hentig 1984, 117) wird. In dieser Hinsicht hat Sinn immer eine emotionale, eine existentielle Basis, welche sich der bloßen Machbarkeit durch andere wie durch sich selbst entzieht.
Zum gerade erwähnten Seins-Vertrauen bringt diese Arbeit ein eigenes, das 2. Kapitel. Im Vorgriff darauf sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Vertrauen jene Universalität anvisiert, die Fowler und Oser nicht recht gelang, und keine konfessionelle Bindungen eingeht, wenn es diese auch individuell keineswegs ausschließt. Es findet sich bei Kindern ebenso wie bei Jesu Fischern, transzendiert also die üblichen gesellschaftlichen und Bildungs-Hierarchien. Ohne das grundlegende Vertrauen, dass die Welt auf die Frage, ob unser Bemühen in ihr insgesamt auf Kooperationsbereitschaft trifft, eine positive Antwort gibt, ist sinnvolles Leben und Handeln angesichts ihrer Belastungen nicht möglich. Dann führen alle Anstrengungen zu planvollem Vorausdenken und Entscheiden am Ende in die Vergeblichkeit, Verkrampfung und das Scheitern, wie John Dewey dargelegt hat. Näheres dazu spricht das 2. Kapitel an.
1.1.3 Ausblick auf Sinn-Probleme der Jugend und der Schule
Seit den 1980er Jahren ist eine ganze Reihe von Untersuchungen zur Sinn-Problematik der Jugendlichen erschienen (z.B. Jörns/Großeholz 1998; Feige/Gennerich 2008). Das soll hier nicht referiert werden. Im vorliegenden Zusammenhang genügt ein Hinweis, dass die „postmaterialistische Orientierung an „Selbsterfüllung, Kreativität, Lebensgenuss und auch Hedonismus
seit der Jahrhundertwende zugunsten stärker „materialistisch[er] Werte wie Sicherheit, Ordnung, Fleiß und Konzentration zurückgetreten ist, eine Entwicklung, welche u.a. aus der Gefährdung der wirtschaftlichen und beruflichen Zukunft erklärt wird (Shell 2010, 47). Die als „pragmatisch
gekennzeichneten Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren reagierten gleichsam anti-phobisch mit persönlichem Optimismus und gesellschaftlicher Skepsis, jedenfalls leistungs- und erfolgsorientiert.
50-60 % dieser Jugendlichen surfen im Internet, treffen sich mit „Leuten, hören Musik und sehen fern (a.a.O. 96). Aber 70 % haben Angst vor [21] Armut, 62 % vor Arbeitslosigkeit, 61 % vor Terroranschlägen, 60 % vor Umweltverschmutzung, 57 % vor Klimawandel (a.a.O. 119). Wichtig ist ihnen zu 78 % gesund zu leben, zu 69 % der Lebensstandard, zu 59 % das Umweltbewusstsein, zu 58 % Benachteiligten zu helfen, zu 55 % eigene Bedürfnisse durchzusetzen, zu 54 % die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, zu 37 % an Gott zu glauben, zu 14 % das zu tun, was die anderen auch tun (a.a.O. 203). Sehr ausgeprägt ist die Hochschätzung von personalen Beziehungen und deren Sicherheit. 95 % stimmen dem Statement zu: „Im Leben braucht man Menschen um sich herum, denen man unbedingt vertrauen kann
(a.a.O. 214). Bei Lebensproblemen werden „immer zu 31 % die Freunde, zu 19 % die Eltern herangezogen, „öfter
zu 48 % bzw. 42 % (a.a.O. 228) Die Veränderungen gegenüber der Shell-Studie von 2002 sind gering, mit Ausnahme der rasanten Steigerung des Gebrauchs von Computern (von 26 % auf 59 %; Shell 2010, 96) und Smartphones.
Das alles schließt natürlich nicht aus, dass für etliche der Teddybär, die Hauskatze oder das Reitpferd zum Sinn-Geber werden; oder die Markenkleidung und das „toll Aussehen"; oder die Freude am Flirten und Shoppen; aber auch Aktivitäten in Vereinen oder kirchlichen Gruppen, der Einsatz für hilfsbedürftige alte Menschen, Behinderte oder für den Umwelt- und Tierschutz, die Menschenrechte oder die Dritte Welt. All diese Sinngebungen sind als reale Aspekte der jugendlichen Lebenswelt ernst zu nehmen: sie verhindern wenigstens vorübergehend die Sinn-Leere und Sinn-Losigkeit, auch wenn eine Neigung zum Ergreifen