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Time to Love myself: Ein mühsamer Weg zurück ins Leben
Time to Love myself: Ein mühsamer Weg zurück ins Leben
Time to Love myself: Ein mühsamer Weg zurück ins Leben
Ebook452 pages6 hours

Time to Love myself: Ein mühsamer Weg zurück ins Leben

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About this ebook

Traumatische Erlebnisse stürzen die junge Schülerin Lia in ein tiefes Loch, doch erst am Abgrund erkennt sie, dass sie Hilfe braucht und ihre Kraft Tag für Tag schwindet. Von heute auf morgen ist nichts mehr so, wie es mal war. Durch einen weiteren Schicksalsschlag gerät Lias Leben gänzlich aus den Fugen und dieser bringt sie dazu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. All die anfänglich harmlosen Alltagsprobleme werden zu scheinbar unüberwindbaren Hindernissen. Die gut behüteten Geheimnisse innerhalb der Familie kommen ans Licht und alles verändert sich plötzlich komplett. Lia muss lernen, Hilfe anzunehmen und mit ihren psychischen Erkrankungen zu leben. Unterstützung findet sie schnell bei ihrer Lehrerin Sabine, doch der Kampf gegen ihre Krankheiten fällt ihr zunehmend schwerer. Lia hat Angst, all ihre wertvollen Bewältigungsstrategien aufzugeben, aber ihre Willensstärke lässt sie weiterkämpfen.

Eine Geschichte über Depression, Essstörung und Selbstverletzung, aber vor allem die Hilfe liebenswerter Personen und der Weg in ein neues Leben.
LanguageDeutsch
Release dateJun 11, 2021
ISBN9783753400792
Time to Love myself: Ein mühsamer Weg zurück ins Leben
Author

Lea-Sophie Schwarzat

Lea-Sophie Schwarzat, Jahrgang 2001, lebt mit ihren vier Katzen im Norden Deutschlands in einer Kleinstadt, etwa 30km von Hamburg entfernt. Obwohl Schwarzat bereits im Alter von 13 Jahren erste FanFiktions und Kurzgeschichten aufs Papier brachte, entschied sie sich erst 2020 zum Schreiben eigener Romane. Mitte 2020 begann sie mit dem Schreiben ihrer Young-Adult-Reihe mit dem Schwerpunkt Erwachsenwerden mit psychischen Erkrankungen , als realistische Fiktion. Eine Geschichte, die eine Jugendliche mit einer gebrochenen Seele durch den Alltag begleitet , vor allem aber auf dem Weg aus einer Lebenskrise. Hauptmerkmal der Werke von Schwarzat: Psychische Erkrankungen in unterschiedlichen Settings.

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    Book preview

    Time to Love myself - Lea-Sophie Schwarzat

    Nachwort

    Kapitel 1

    »Nein, bitte nicht, lass mich in Ruhe«, schrie Lia und ging einen Schritt nach hinten.

    Sein muskulöser Körper baute sich vor ihr auf. Sie zitterte am ganzen Leib und wollte nur noch fliehen, doch es ging nicht. Er hatte sie bereits in die Enge getrieben. Das Essen kroch ihre Speiseröhre nach oben und sie würgte. Nichts würde jemals gut werden ... Es würde mit Sicherheit nicht mehr lange dauern, bis all ihre Geheimnisse auffliegen würden ...

    Wieder einmal saß Sabine Meyer auf ihrem Platz im Lehrerzimmer und erinnerte sich an das Gespräch des letzten Dienstages vor den Ferien. Sie hatte ihrer Schülerin aufmerksam zugehört und ihr versprochen, gemeinsam mit ihr eine Lösung zu finden. Sie hatte ihr versichert, zusammen mit ihr an den Problemen zu arbeiten. Ihr bei allen Schwierigkeiten zu helfen.

    In Momenten wie diesen fühlte sie sich hilflos. Noch nie war es vorgekommen, dass eine Schülerin sich danach nicht mehr gemeldet hatte.

    Immer wieder spielten sich die Gespräche, die sie im Laufe der Zeit mit Lia geführt hatte, in ihrem Kopf ab. Sie wiederholte die prägenden Inhalte der Unterhaltung.

    Sabine machte sich Vorwürfe: ›Habe ich falsch gehandelt? Habe ich dazu beigetragen, dass Lia ihren Problemen erlegen ist?‹

    »Hallo Lia, du wolltest mit mir reden. Worum geht es denn?«, empfing Sabine Meyer ihre Schülerin mit einem Lächeln.

    Schon lange hatte sie bemerkt, dass es dem Mädchen nicht gut ging. Ihr waren die tiefen Augenringe und das abwesende Verhalten aufgefallen, aber sie hatte ihr Zeit gegeben, selbst um Hilfe zu bitten. Mit jeder Unterrichtsstunde war Lia zurückhaltender geworden und hatte sich schließlich komplett aus dem Unterrichtsgeschehen zurückgezogen. Manchmal hatte Sabine den Eindruck, dass sie vollkommen abgekapselt vom Rest saß und sich klein machte.

    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, begann Lia mit zitternder Stimme.

    Unsicher sah sie sich in dem Raum um. Sie schaute an Frau Meyer vorbei und fokussierte mit ihrem Blick einen Stift, der auf dem Tisch hinter ihrer Lehrerin lag.

    »Ich habe ein paar Probleme, die mich belasten, und ich weiß nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll. Es nimmt mir die Freude an fast allem.«

    Es fiel Lia schwer, ihrer Lehrerin bei diesen Worten in die Augen zu sehen. Niemand würde solche Umstände so direkt offen zugeben. Ihre Stimme zitterte und sie kauerte sich auf der Couch zusammen. Ihr Blick glitt unruhig durch den Raum und sie presste ihre Hände ineinander.

    »Fang einfach von vorne an und wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich nach. Ich bin mir sicher, wir finden gemeinsam eine Lösung. Es gibt keine Probleme, die nicht überwindbar sind«, ermutigte Frau Meyer sie mit einem offenen Lächeln.

    »Vor einer Woche hat meine beste Freundin mir die Freundschaft gekündigt. Ich weiß nicht, wieso. Es fing alles damit an, dass sie sich immer weiter von mir zurückgezogen hat. Ich verstehe das nicht. Wir haben uns gut verstanden. Ich bin traurig, dass ich mich so in ihr getäuscht habe. Einzig und allein meine beiden besten Freundinnen halten noch zu mir, aber die sind nicht in meiner Klasse. Ich habe das Gefühl, dass ich niemandem mehr vertrauen kann«, schilderte Lia zögernd.

    Ihre Stimme zitterte und sie hatte Angst vor der Reaktion ihrer Lehrerin. Ihr Magen zog sich zusammen und eine Gänsehaut überzog ihren Körper.

    Es war längst nicht alles. Doch den Rest erzählen zu müssen, machte ihr Angst. Sie verfiel in ihre Gedanken und verschwand ein Stück weit aus der Realität.

    ›Wie würde Frau Meyer darauf reagieren? Was würde sie denken, wenn sie erfahren würde, was bei mir alles schieflief?‹, dachte sie.

    Sie war überzeugt davon, dass es nicht bei wenigen Gesprächen bleiben würde, wenn sie erzählen würde, wie sehr sie mit ihrem Körper kämpfte.

    Es machte ihr Angst, wieder länger mit Frau Meyer sprechen zu müssen, ohne diese Gespräche kontrollieren zu können.

    Weil Lia sich seit Wochen so unwohl fühlte, hatten ihr Kopf und ihr Körper angefangen, sich zu verändern. Täglich kämpfte sie mit den seelischen Folgen des Streits mit ihrer besten Freundin. Ständig dachte sie darüber nach, warum Saskia die Freundschaft beendet hatte.

    ›Bin ich schuld an allem? Habe ich einen schlimmen Fehler begangen?‹, dachte Lia.

    »Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es tut immer weh, einen wichtigen Menschen zu verlieren. Ich glaube aber, dass sie es dir gesagt hätte, wenn sie mit dir ein Problem hat. Hast du sie direkt darauf angesprochen?«

    »Nein, sie redet kein Wort mehr mit mir. Saskia hat die Freundschaft nicht einmal persönlich beendet, sondern in einer Whatsapp-Nachricht. Ich habe mich unbewusst verändert, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe«, erwiderte Lia mit stockender Stimme.

    ›Sollte ich Frau Meyer davon erzählen? Sollte ich ihr sagen, wie sehr dieser Streit mein Leben verändert hatte? Kann ich ihr vertrauen? Wird sie merken, wie ich mich wirklich fühle?‹, dachte sie.

    Sie zögerte, ihrer Lehrerin von ihren privaten Sorgen zu berichten. Niemand würde sie verstehen.

    »Du kannst mir alles erzählen«, sagte Frau Meyer, als hätte sie Lias Gedanken gelesen.

    »Alles, was wir besprechen, bleibt in diesem Raum und ich bin überzeugt, dass es dir besser gehen wird. Oft tut es uns Menschen gut, wenn wir über das sprechen, was uns beschäftigt. Nur so können wir gemeinsam eine Lösung finden, mit der du dich besser fühlst.«

    »Ich kann seitdem morgens nichts mehr essen und allgemein habe ich keinen Hunger im Laufe des Tages. Die Situation ist mir auf den Magen geschlagen, ich hungere nicht absichtlich, wirklich.«

    Sie brauchte eine kurze Pause. Obwohl sie Frau Meyer vertraute, fiel es ihr schwer, diese Worte auszusprechen. Ein Stück weit schämte sie sich für ihre Probleme. Doch zu ihrem Erstaunen fragte ihre Lehrerin nicht nach und sie begann, weiter zu erzählen.

    »Tagsüber fühle ich mich oft leer. Ich weiß nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll. Es gibt immer häufiger Tage, an denen ich morgens nicht mehr aus dem Bett komme oder den gesamten Tag am liebsten liegen bleiben und nichts tun möchte«, brach Lia leise ihr Schweigen und sah kurz auf, ehe sie ihren Blick wieder senkte.

    »Ich habe kein richtiges Hungergefühl und mir macht diese Veränderung Angst. Zu Hause fühle ich mich momentan nicht mehr wohl und bin meist den ganzen Tag draußen, um allein zu sein. In manchen Momenten wünsche ich mir, unsichtbar zu sein.«

    Diese Worte glitten kaum über ihre Lippen, sie fühlten sich wie zu geklebt an. Aber sie klammerte sich an den kleinen Funken Hoffnung, dass ihre Lehrerin ihr helfen könnte.

    »Danke, dass du mir davon erzählt hast, Lia. Es ist nicht ungewöhnlich, dass uns eine Situation auf den Magen schlägt. Du bist genau im richtigen Moment zu mir gekommen. Wenn wir darüber sprechen und du es nicht mit dir selbst ausmachst, wird es dir bald wieder besser gehen«, erwiderte Sabine mit ruhiger Stimme.

    Sie machte eine kurze Pause und Lias Herzschlag begann, schneller zu schlagen.

    »Wir sollten uns zusammen Methoden überlegen, die dir helfen, wieder in ein geregeltes Essverhalten zu kommen. Hast du schon mal versucht, mit jemandem gemeinsam zu essen? In Gesellschaft können wir meistens besser essen und denken gar nicht daran. Und kannst du dir denn erklären, warum du dich zu Hause immer unwohler fühlst?«

    »Ich will mich nicht zwingen müssen. Essen sollte etwas völlig Normales sein. Zu Hause fühle ich mich kontrolliert. Meine Eltern verstehen nicht, dass ich in einem Alter bin, in dem ich etwas allein machen möchte.«

    Sabine erkannte zum ersten Mal die Willensstärke des jungen Mädchens – sie zeichnete sich nicht nur in diesem Gespräch ab. Auch in vorherigen hatte sie Lias großen Willen wahrnehmen können. Lia nahm keine Situation so hin, wie sie war, wenn es einen anderen Weg gab.

    Gemeinsam sprachen die beiden einen Moment über das Ende der Freundschaft und Lias Beziehung zum Essen, ehe sie das Gespräch mit ein paar Aufgaben zu ihrem Essverhalten beendeten. Sabine wollte von nun an regelmäßig mit Lia sprechen, um eine Entwicklung beobachten zu können. Sie hatten abgemacht, dass sie zu bestimmten Zeiten etwas essen würde, um auf eine ausreichende Menge zu kommen.

    Auch das zweite Gespräch bereitete Sabine Sorgen. Sie hatten diese Beratung am letzten Schultag geführt. Seitdem waren fast zwei Wochen vergangen. In den Ferien hatte sie nur gelegentlich an Lia gedacht. Mit jedem Tag fiel es ihr schwerer, Lias Veränderungen hinzunehmen.

    »Lia, wie geht es dir heute?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

    »Besser, das Reden hat geholfen und ich fühle mich nicht mehr so allein«, erwiderte diese erleichtert.

    Sabine hatte einen anderen Eindruck. Lias Kraftlosigkeit blieb nicht verborgen und sie machte einen eher erschöpften Anschein, der ihr Sorgen bereitete.

    »Wie ist es denn in den letzten Tagen mit dem Essen gelaufen? Hast du regelmäßiger gegessen?«

    In ihrer Stimme lag Hoffnung, aber Lias Antwort enttäuschte sie leider.

    »Nein, ich schaffe es nicht. Es geht nicht.«

    Sabine sah Tränen in ihren Augen schimmern und ihre Stimme zitterte.

    »Das klingt nicht gut, auf drei Mahlzeiten am Tag solltest du mindestens kommen. Ich möchte dich bitten, bis zu unserem nächsten Gespräch nach den Ferien alles aufzuschreiben, was du am Tag isst. Wir schauen uns das gemeinsam an.«

    Sabine sprach mit friedlicher Stimme und beobachtete Lia genau. Sie merkte den abwesenden Blick. Lia schaute an ihr vorbei und knetete ihre Hände unruhig ineinander. Auch auf ihre Worte zeigte Lia keine Reaktion.

    »Lia, ich sage es dir jetzt schon: Noch sehe ich bei dir keine Gefahr und du bist rechtzeitig zu mir gekommen, damit wir an deinen Problemen arbeiten können. Aber wenn es sich in der kommenden Zeit deutlich verschlimmern sollte, sodass ich das nicht mehr verantworten kann, muss ich deine Eltern informieren und du solltest dir professionelle Hilfe holen. Dabei werde ich dich unterstützen.«

    Sie sprach langsam und ruhig, um Lia zu signalisieren, dass sie ihr so lange helfen wollte, wie sie konnte.

    »Nein, bitte nicht. Das kann ich nicht!«, erwiderte Lia.

    Ihre Augen weiteten sich und sie wurde aufgewühlter. Panisch sah sie umher und richtete sich wieder auf. Unruhig knete sie ihre Hände ineinander und ließ ihren Blick zur Tür gleiten. Die Angst drohte, ihren Willen, sich helfen zu lassen, zu verdrängen.

    »Es ist alles gut. Momentan habe ich keinen Grund dazu, doch wir müssen deine Situation im Auge behalten. Wie sieht es denn mit deinen schlechten Tagen aus? Bist du in den letzten Tagen besser aus dem Bett gekommen, weil du dir klare Ziele für den Tag gesetzt hast?«, hakte Sabine mit einem Lächeln nach.

    »Es geht. Ich komme morgens gut aus dem Bett, aber ich bin seitdem wieder öfter draußen. Meine Eltern haben dazu bisher nichts gesagt. Sobald ich meine Hausaufgaben fertig habe, gehe ich spazieren oder mache Sport«, antwortete Lia schulterzuckend.

    Es beunruhigte sie, dass sie mit einem Mal solch einen Bewegungsdrang entwickelt hatte und lieber in der Natur war, als irgendwo anders.

    ›Entwickle ich eine Essstörung? Das will ich gar nicht, oder? Ich habe ich doch die Kontrolle darüber, oder etwa nicht?‹, schoss es ihr durch den Kopf.

    Sabine machte sich immer häufiger Gedanken um Lias Essverhalten und fragte sich an einzelnen Tagen in den Osterferien, wie viel Lia wohl gegessen hatte. Sie fühlte sich hilflos, weil sie aufgrund der Ferien nichts tun konnte. Sie hatte Lia Aufgaben gegeben und gesagt, dass sie sich jederzeit bei ihr melden könnte, wenn es ihr schlechter ging.

    Ständig dachte sie an diese Gespräche und ging sie im Kopf durch. Hatte sie etwas übersehen? So sehr wollte sie Lia helfen und ihr einen Weg heraus aus den Problemen zeigen.

    Es war ein Tag wie jeder andere, doch Sabine fühlte, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Lia bis zu diesem Tag Zeit gegeben, sich zu melden, aber nichts war geschehen.

    Lia war am Morgen nicht in der Schule aufgetaucht und hatte keine einzige Nachricht hinterlassen.

    Vor zwei Tagen hatte der Unterricht wieder begonnen. Direkt für den ersten Tag hatte Sabine ein Gespräch mit Lia vereinbart, doch sie war weder erschienen, noch hatte sie sich entschuldigt.

    Der Klassenlehrer hatte keine Information und nahm die Gegebenheit hin. Für ihn war ein einzelner Fehltag nichts Ungewöhnliches, aber Sabine machte sich Gedanken. Sie kannte dieses auffallende Verhalten nicht von Lia.

    Als sie am Donnerstag und Freitag ebenfalls nichts von Lia hörte, wurde sie misstrauisch. Sie konnte nicht ausschließen, dass etwas passiert war.

    Ihre Sorge wuchs mit jeder Minute. ›War Lia etwas zugestoßen? Hatte sie sich aufgegeben?‹

    An jedem Tag, an dem sie in Lias Kurs Unterricht hatte, betrat sie den Raum hoffnungsvoll und wurde immer wieder aufs Neue enttäuscht. Denn auch nach drei Tagen blieb ihr Platz leer. Ihre Mitschüler hatten keine Ahnung und Lias ehemalige Freundin wollte nichts davon hören. Niemand wusste, was mit dem Mädchen passiert war. Lia hatte sich ihr anvertraut, weil sie soziale und psychische Probleme hatte.

    Auf ihre E-Mails und Nachrichten reagierte sie nicht mehr. Lia hatte lediglich zu Anfang geschrieben, dass es ihr bis auf eine hartnäckige Grippe gut ging.

    Sabine Meyer fand es seltsam, dass sonst niemand etwas Genaueres darüber wusste und nicht einmal ihre Freundinnen wussten, was mit ihr war.

    Am Donnerstag war sie unauffällig an Lias Haus vorbeigefahren, doch sie war nicht zu sehen gewesen.

    Sie hatte lange überlegt, ob sie diesen Schritt gehen sollte, aber am Ende hatte ihre Sorge überwogen. Sie musste wissen, ob es dem Mädchen gutging, oder ob etwas passiert war.

    Als sie ihre Sorge nicht mehr aushielt, beschloss sie, endlich mit der Direktorin und ihrer besten Freundin, Johanna Schäfer, zu sprechen, die selbst einmal Vertrauenslehrerin gewesen war.

    Sabine war sich sicher, dass Lia sich in den Ferien gemeldet hätte, wäre es ihr schlechter gegangen. Dass sie nicht eine einzige Nachricht hinterlassen oder auf ihre Fragen nach ihrem Essverhalten geantwortet hatte, bereitete Sabine Bauchschmerzen. Sie wusste, wie sensibel und zurückhaltend Lia war. Ebenso fand sie es seltsam, dass die Eltern sie noch nicht krankgemeldet hatten.

    Dieses Verhalten war ungewöhnlich für Lia. Bisher war sie immer eine ruhige, aber bewusste Schülerin gewesen, die sich an jede Regel hielt.

    Vorsichtig klopfte Sabine an der Tür des Büros der Schulleiterin. Sie musste es einfach tun. Sabine nahm die Situation ernst, denn im Gegensatz zu den anderen Lehrern wusste sie, mit welchen Problemen Lia zu diesem Zeitpunkt zu kämpfen hatte. Zu oft hatte sie sich in den letzten Tagen an Lias Worte und ihren erschöpften Körper erinnert.

    »Johanna, hast du einen Moment für mich? Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen«, fragte Sabine, als sie die Tür zum Direktorat geöffnet hatte.

    Noch nie hatte sie so einen Schritt gehen müssen – es war eine komplett neue Situation für sie. Bisher hatten die Schüler zielführend mit ihr zusammengearbeitet und den Weg in ein sorgenfreieres Leben zurückgefunden. Allerdings hatte noch niemand so schnell solche psychischen Probleme preisgegeben.

    Die meisten kamen zu ihr, weil sie schulische Sorgen plagten oder sich in einem kurzen Tief befanden. Nur wenige hatten bisher Symptome einer Essstörung sowie ernsthaften Depression aufgezeigt, worüber Sabine erleichtert war.

    »Selbstverständlich, Sabine. Komm rein«, erwiderte sie herzlich lächelnd, während sie ihre schulterlangen braunen Haare zusammenband.

    »Worum geht es denn?«

    Sabine setzte sich auf einen der Stühle, die gegenüber vom Schreibtisch der Schulleiterin standen.

    »Ich mache mir zunehmend Sorgen um eine Schülerin und möchte mich absichern, bevor ich etwas in die Wege leite oder anderweitig handle. Sie ist seit Ende der Ferien nicht mehr in der Schule gewesen und weder ihr Klassenlehrer noch ihre Mitschüler wissen, was mit ihr los ist. Ich habe ihr bereits mehrere E-Mails geschrieben, bekam aber nur eine einzige Antwort, in der sie schrieb, dass sie eine hartnäckige Grippe habe. Keinem anderen hat sie davon erzählt«, fing Sabine an, zu erzählen.

    Ihre Stimme war unruhig und sie hatte Mühe, ihren Sätzen eine Struktur zu geben. Ihre Hände bewegte sie und konnte sie nicht stillliegen lassen.

    Johanna erkannte auf den ersten Blick die Sorge in Sabines Augen. Sie kannte ihre beste Freundin nicht erst seit gestern und wusste sofort, wie sich ihre Gefühle und Gedanken in ihren Worten widerspiegelten. Sie ließen ihre Stimme höher werden oder deutlich trauriger klingen.

    »Das kann ich verstehen. Warum machst du dir ausgerechnet um dieses Mädchen solche Sorgen?«, hakte Johanna freundlich nach.

    »Kurz vor den Ferien hatte ich zwei Gespräche mit ihr, um die sie selbst gebeten hatte. Johanna, sie hat mir erzählt, dass sie das Gefühl hat, zunehmend weniger Kraft zum Leben zu haben. Sie hat kaum etwas gegessen und fühlte sich unwohl zu Hause. Ich hatte zwar bei keinem unserer Gespräche den Eindruck, dass sie sich umbringen möchte, aber dennoch ist die Sorge da, dass ihr irgendwas passiert ist. Es liegt bisher nicht einmal eine Krankmeldung vor«, erklärte Sabine mit unruhiger Stimme.

    Während Sabine sprach, überschlugen sich einzelne Worte und sie wirkte zittrig. Normalerweise ging sie nicht zur Direktorin und verriet das ihr Anvertraute, aber hier schien Sabine keinen anderen Ausweg gesehen zu haben, das merkte Johanna. Es war ihr wirklich ernst. Sie erkannte an Sabines Stimme, wie sehr sie an diesem Mädchen hing.

    »Hast du schon mit ihren Eltern gesprochen?«

    Die Atmosphäre nahm an Anspannung zu und die Besorgnis war auf beiden Seiten zu spüren. Auf keinem der Gesichter zeichnete sich die Spur eines Lächelns ab.

    »Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber es geht immer nur der Anrufbeantworter ran. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen kann. Ich habe es auch mit SMS und E-Mails probiert, aber alles wird ignoriert. Wir können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen! Was ist, wenn ihr etwas passiert ist?«

    Sabine klang schon fast flehend. Ihre Stimme hatte sich zu Beginn überschlagen, doch zum Ende hin war sie ins Stocken geraten. Johanna erkannte das Schimmern in ihren Augen.

    Die Atmosphäre war von Verzweiflung geprägt. Schweigend saßen die beiden auf ihren Stühlen. Sabine sah Johanna mit hilflosen Augen an, während sie ihre Hände im Schoß bewegte.

    Eine Weile sagte keiner der beiden etwas.

    »Wohnt sie hier in der Stadt?«, fragte Johanna schließlich nachdenklich.

    Sabine würde sich niemals aus belanglosem Grund solche Sorgen machen, davon war die Schulleiterin überzeugt. Die Schilderungen klangen besorgniserregend. Keiner wusste, ob das Mädchen ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte oder zusammengebrochen war.

    »Ja, ich war mir aber nicht sicher, ob ich einfach so vorbeifahren und klingeln soll. Ich war einmal da, also ich bin dran vorbeigefahren. Was ist, wenn sie wirklich nur krank ist und die Krankschreibung heute kommt?«, sprach die Lehrerin ihre Gedanken der letzten Tage aus.

    »Lieber wir fahren einmal zu viel vorbei, als dass etwas passiert ist.«

    »In welche Klasse geht sie denn? Hast du heute schon Rücksprache mit dem Klassenlehrer gehalten? Ich weiß, dass ihr mir keine Namen verraten dürft, aber wir müssen handeln. Wir sollten zuerst in Erfahrung bringen, ob heute eine Krankmeldung angekommen ist. Sollte sich dann bis Montag gar nichts tun, werden wir das Jugendamt informieren müssen. Es ist unsere Fürsorgepflicht und nach drei Tagen muss ein Attest vorliegen«, erklärte Johanna und versuchte, professionell zu bleiben.

    Es fiel ihr nicht leicht. Sie musste diese Situation neutral betrachten, aber zugleich war Sabine ihre beste Freundin.

    Auf Sabines Gesicht zeichnete sich für einen Moment ein Lächeln ab, obwohl ihr überhaupt nicht danach zumute war. Hatte sie anfangs doch gedacht, dass ihre Sorge schon fast überfürsorglich sein könnte, würde ihre Chefin nun gemeinsam mit ihr nach dem Mädchen schauen.

    »Sie ist in der 8e. Ich habe gestern mit ihrem Klassenlehrer Rücksprache gehalten. Bis dahin lag keine Krankmeldung vor, aber ich glaube kaum, dass heute eine vorliegen wird«, erwiderte Sabine, ohne zu zögern.

    Sie wollte dem Mädchen helfen, koste es, was es wolle.

    »Okay, dann sprich bitte kurz mit ihrem Klassenlehrer und frag, ob eine vorliegt. Danach machen wir uns auf den Weg«, sagte Johanna.

    Diese kannte das Mädchen zwar nicht und wusste keinen Namen, aber die Schilderungen ihrer Kollegin klangen danach, dass das Mädchen Hilfe brauchte. Auf Sabines Erfahrungen war stets Verlass.

    Kapitel 2

    Sabine betrat das Lehrerzimmer und informierte den Klassenlehrer über das weitere Vorgehen. Vorher erkundigte sie sich beim ihm nach einer Krankmeldung an diesem Tag.

    Mit keinem Wort erwähnte sie, dass sie mit der Direktorin gesprochen hatte und beide sich Sorgen machten.

    Die Frauen machten sich auf den Weg zu Lia. Das Haus war zügig erreicht. Sabines Herz schlug mit jedem Meter, den sie dem Gebäude näherkamen, schneller. Sie hatte Angst, das Vertrauen ihrer Schülerin mit diesem Schritt zu verlieren, aber sie konnte nicht anders. Sabine musste wissen, ob es dem Mädchen gut ging.

    Vor der Haustür angekommen, versuchten die beiden, durch eines der Fenster ins Innere zu schauen, aber alle Gardinen waren zugezogen. Das Backsteinhaus wirkte vollkommen verwahrlost. Die Fassade war heruntergekommen und die Fensterscheiben verdreckt.

    »Es scheint jemand zu Hause zu sein, zumindest der Lautstärke der Musik nach zu urteilen. Wir sollten klingeln«, sagte Johanna, nachdem sie an der Tür gelauscht hatte.

    Sie betätigte die Klingel mehrmals, doch kein bisschen geschah. Im Haus regte sich gar nichts. Es war wie eingefroren.

    Sabine erstarrte für einen Moment. Sie befürchtete, dass etwas Schlimmes passiert war, doch dann ertönte eine Stimme durch die Klingelanlage.

    »Ich kann nicht zur Tür kommen. Ich weiß, dass Sie es sind, Frau Meyer, aber mir geht es nicht gut. Ich schreibe Ihnen, wenn ich wieder gesund bin und in die Schule gehen kann.«

    Ihre Stimme war krächzend und sie klang erkältet, doch keinesfalls zu krank, um nicht zur Tür zu kommen. Sabine wollte etwas erwidern, aber Lia hatte bereits aufgelegt.

    »Sie klang schon ein wenig erkältet, doch ich empfand es nicht als allzu krank. Ich weiß, dass Schüler oft krankspielen, aber mich hat das nicht wirklich beruhigt. Sie hätte doch wenigstens zur Tür kommen können. Dass sie direkt wieder aufgelegt hat, ist auch seltsam«, sagte Sabine beunruhigt und sah sich um, in der Hoffnung, das Mädchen an einem der Fenster zu erblicken, doch es geschah nichts.

    »Das ist ungewöhnlich, aber mehr können wir jetzt nicht machen. Wir dürfen sie nicht zwingen, aus dem Haus zu kommen. Es ist ihre Privatsphäre und sie hat mit uns gesprochen. Wir sollten wieder zurück zur Schule fahren und den Montag abwarten, spätestens dann brauchen wir die Krankschreibung. Wir wissen jetzt schon einmal, dass sie noch am Leben ist. Es ist komisch, dass sie nicht an die Tür kommt und bisher keine Krankmeldung in der Schule vorliegt, wenn sie doch krank ist«, gab Johanna zu denken.

    Die Eltern handelten bei Abwesenheiten normalerweise schnell. Anfangs hatte sie noch gedacht, dass ihre Kollegin etwas überbesorgt war, aber mittlerweile teilte sie deren Sorge, obwohl sie das Mädchen nicht einmal kannte.

    Obgleich die beiden sich mit diesem ernüchternden Ergebnis nicht zufriedengeben wollten, stiegen sie mit hängenden Schultern wieder in das Auto und fuhren zurück zur Schule. Ab Montag durften sie nicht mehr wegsehen und mussten handeln.

    »Halte mich bitte auf dem Laufenden, falls sie sich nochmal bei dir meldet. Wir sollten aufpassen, was geschieht, aber wir können sie nicht kontrollieren. Sie ist ein eigenständiger Mensch, und auch wenn sie sich dir anvertraut hat, ist es ihre Entscheidung, ob sie weiterhin mit dir reden möchte oder nicht. Vergiss nicht, es gibt keinen konkreten Anschein, dass sie sich etwas angetan hat. Ihr Wohl schien nicht gefährdet.«

    »Ich weiß, trotzdem hat es mich wenig beruhigt. Sie war schon immer ein sensibler Mensch, der kaum über seine Probleme redet. Sie braucht ihre Zeit, bis sie etwas sagt«, erwiderte Sabine unschlüssig.

    Es war nicht das erste Mal, dass sie mit Lia ein Gespräch geführt hatte. Bereits früher hatte Lia hin und wieder mit ihr gesprochen, um sich einen Rat zu holen.

    »Wir können momentan nicht mehr machen. Aber danke, dass du mich informiert hast. Wir werden das gemeinsam hinbekommen und es wird sich mit Sicherheit bald alles aufklären«, sprach Johanna mit ruhiger Stimme.

    Als Direktorin musste sie in solch einer Situation professionell bleiben. Auf keinen Fall durfte sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen.

    ›Warum kann die mich nicht einfach in Ruhe lassen?‹, schoss es Lia durch den Kopf, nachdem sie sicher war, dass Frau Meyer nicht mehr vor ihrer Tür stand.

    Sie hatte sofort gewusst, dass es ihre Lehrerin gewesen war. Kurz vorher hatte sie eine E-Mail von ihrem Klassenlehrer bekommen und Frau Meyer an der Straße für eine Sekunde stehen sehen.

    Darin hatte sie ihre Chance gesehen, endlich Hilfe zu erhalten, aber sie konnte nicht. Noch immer war sie wie gelähmt. Wie auch all die Tage zuvor lag sie auf der kleinen Stoffcouch, die im Wohnzimmer stand, und rührte sich nicht. Ihr Körper war geschwächt.

    Stattdessen starrte sie an die Decke und versuchte, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, aber es gelang ihr nicht. Sie war vollkommen erfüllt von der Leere, die sie umgab.

    Immer und immer wieder durchlebte sie diesen einen Moment. Jedes einzelne Wort hallte dabei durch ihren Kopf und sie wollte nicht an das Erlebte denken. Es hatte alles komplett verändert und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Von einem auf den anderen Moment war nichts mehr, wie es einmal war, und sie schaffte es nicht, ihre Lehrerin oder jemand anderen um Hilfe zu bitten.

    Sie verfing sich immer mehr in einem Lügengestrick.

    Sie bereitete ihrer Lehrerin in dieser Situation große Sorgen und dennoch gelang es ihr nicht, in einem einzigen Wort zu erwähnen, wie schrecklich es ihr wirklich ging. Vielmehr versank sie in ihrer Traurigkeit und kämpfte jeden Tag mit sich und ihrem Leben. Ihr Körper litt immer mehr. Morgens, wenn sie aufwachte, begann sie zu zittern. Oft verkrampfte sich ihr Magen und sie hatte Mühe, sich aufrechtzubewegen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag liegengeblieben und hätte nichts gemacht. Ihr fehlte die Kraft.

    Ihre Gedanken und Erfahrungen plagten sie. Jegliche Freude verließ ihren Körper und Lia dachte nur ans Aufgeben.

    Das Wochenende begann und noch immer lag sie auf der Couch. Auf keinen Fall hatte sie zu einem Arzt gewollt. Die Konsequenzen ihrer Handlung waren ihr kaum bewusst.

    Überall auf dem Boden befanden sich Staub und Müll. Seit Tagen hatte sie sich nicht bewegt, geschweige denn war sie draußen gewesen. Sie hatte Angst vor sich selbst, aber sie konnte nicht mehr anders. Sie war gefangen in dieser Blase. Ständig klingelte das Festnetztelefon, doch anstatt ranzugehen, ließ sie es klingeln. Es war ihre Lehrerin, die wissen wollte, wo sie war, wie es ihr ging und wo ihre Krankschreibung blieb.

    Ebenso quoll ihr E-Mail-Postfach über. Sie war seit zweieinhalb Wochen nicht mehr in der Schule gewesen und hatte nicht einmal mit ihren Freundinnen geredet. Es traf sie im Herzen, aber ihr fehlte die Kraft.

    Auf WhatsApp hatte sie den blauen Haken ausgeschaltet. Niemand sollte sehen, dass sie die Nachrichten zwar las, aber nicht antwortete. Es tat ihr leid, dass sie den wenigen Menschen, die sie noch hatte, solche Sorgen bereitete. Besonders ihrer Lehrerin, der sie sich anvertraut hatte, aber sie war zu sehr in den Erlebnissen gefangen. Ihr Umfeld war nie groß gewesen und nur wenigen Personen vertraute sie, doch einzelne hatten ihr bisher immer wieder auf die Beine geholfen.

    Noch immer war sie wie gelähmt und konnte nicht reagieren. Die letzten Wochen hatten schwerwiegende Auswirkungen auf sie gehabt. Sie war entkräftet. Nicht nur ihre Seele war am Ende, auch ihr Körper hatte keine Kraft mehr. Jeder Tag glich dem anderen und sie schaffte es nicht, ihre Trauer zu überwinden.

    Sie wollte ihrer Lehrerin sagen, dass sie nicht mehr konnte. Am Ende war, aber selbst das gelang ihr nicht. Anfangs hatte sie kurze und fragende E-Mails bekommen. Mittlerweile häuften sie sich und wurden stets emotionaler und besorgter.

    Wieder einmal hatte sie ihr Handy in der Hand und schaute mit leerem Blick darauf. Aber dann tauchte ein ihr bekannter Name auf dem Bildschirm auf und sie wusste nicht, was geschehen war. Auf dem Display stand erneut der Name ihrer Lieblings- und Vertrauenslehrerin und plötzlich war sie wieder wie gelähmt. Ihre Finger bewegten sich keinen Zentimeter und ihr Körper war eingefroren. Sie wollte rangehen, aber es ging nicht. Am liebsten hätte sie es getan. Sie wollte um Hilfe schreien und alles vergessen, stattdessen ließ sie es nur klingeln. Auf ihrem gesamten Körper stellten sich die Haare auf und sie begann, stark zu zittern. Das war nichts Ungewöhnliches, aber Lia erschrak jedes Mal aufs Neue.

    Das Klingeln ihres Handys verstummte und der verpasste Anruf tauchte auf. Tränen bahnten sich ihren Weg. Wieder einmal hasste sie sich selbst und wusste nicht, warum es ihr nicht möglich war, ihre Gedanken zu überwinden. Die Angst vor der Verurteilung war größer als ihre Angst, irgendwann zu zerbrechen und nicht mehr aufzuwachen.

    Der Anruf hätte ihre Rettung sein können, aber sie ergriff den Anker nicht. Enttäuscht und frustriert legte sie ihr Handy beiseite und ergab sich erneut ihrer Trauer. Salzige Tränen flossen an ihren Wangen hinunter und ihre Kehle wirkte wie zugeschnürt. Auch wenn sie nur ein Wort sagen wollte, blieb alles stumm.

    Sie hatte diese Veränderungen vor einiger Zeit bemerkt, doch waren sie dort noch lange nicht so gravierend gewesen. Diese eine Nachricht hatte alles ins Rollen gebracht und ihr Leben vollkommen zerstört. Plötzlich glich nichts mehr der Vergangenheit und sie fühlte sich in diesem ewigen Kreislauf aus Hass, Verzweiflung, Trauer und Essen gefangen. Jeden Tag hörte sie aufs Neue das monotone Ticken der Uhr. Das Haus war von kompletter Stille erfüllt. Die Musik hatte sie ein einziges Mal angehabt, damit ihre Lehrerin nichts merkte. Sie hatte gehofft, ihre Anwesenheit zu übertönen.

    Eigentlich hätte sie froh sein sollen, dass ihre grausame Kindheit endlich vorüber war, aber der Schock saß tiefer.

    Erschöpft schloss sie ihre Augen und hoffte innerlich, dass ihre Lehrerin es noch einmal versuchen würde. Sie fühlte sich kindisch, weil sie keine Hilfe annehmen konnte, obwohl es ihr so schlecht ging. Lia war sich nicht mehr sicher, ob Frau Meyer die richtige Ansprechpartnerin war. Aber sie war die Einzige, mit der sie reden konnte.

    Immer, wenn sie ihre Augen schloss, tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Sie ließen sie in ihr bisheriges Leben zurückschauen und jedes Mal aufs Neue liefen Tränen an ihren Wangen hinab.

    Ihr Körper hatte sich bereits an all dies Leid gewöhnt und ließ sie kaum einen Ausweg finden. Sie wollte leben, doch unter diesen Umständen konnte sie es nicht mehr. Ihr Körper bekam zu wenige Nährstoffe und sie ließ ihn leiden.

    Immer wieder trat ihre Willenskraft für einen Moment an die Oberfläche, doch der innere Wille hatte keine Chance, zu überleben.

    Nichts änderte sich. Lia hing in ihrer Blase fest, doch alles kam anders als erwartet. Es war eine Nachricht ihrer Lehrerin, die am Sonntag ihr Leben veränderte. Frau Meyer informierte sie darüber, dass sie das Jugendamt einschalten müssten, wenn sie sich am nächsten Tag nicht melden würde.

    Augenblicklich stieg Panik in ihr auf. Ihr Herz begann zu rasen und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Ihr Handy konnte sie kaum halten – es drohte immer wieder aus ihren nassen Händen zu rutschen. Ihre Augen waren geweitet und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Nie hatte sie schlimme Absichten verfolgt.

    Dennoch fasste sie nach dieser Nachricht den Entschluss, am nächsten Tag wieder in die Schule zu gehen, um all dem Ärger zu entgehen. Am morgigen Tag würden viele Fragen auf sie zukommen und alles würde sich verändern.

    Ihr Aussehen war der Vergangenheit gewichen. Jedem würde diese Veränderungen auffallen. Seit dem Schicksalsschlag hatte sie sich äußerlich so sehr verändert. Ihre Haare waren dünner geworden, ihre Haut fiel stellenweise in sich zusammen und sie hatte erkennbar an Gewicht verloren.

    »Bitte machen Sie das nicht. Es war nur eine Grippe und morgen werde ich wieder in die Schule kommen.«

    Doch erst dann nahm alles seinen Lauf…

    Kapitel 3

    Am nächsten Morgen wachte Lia mit Kopfschmerzen auf und konnte sich kaum aufraffen, ihr Bett zu verlassen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, zur Schule zu gehen, aber sie durfte nicht noch länger fehlen. Sie hatte keine Hoffnung, dass alle ihre Ausrede glauben würden.

    Sie dachte an das Gespräch, das sie am ersten Tag ihrer Abwesenheit mit Frau Meyer gehabt hätte. Es war die Beratung, die direkt nach den Ferien hätte stattfinden sollen. Sie überlegte, worüber sie geredet hätten und was Frau Meyer gesagt hätte, wenn sie erfahren hätte, dass Lia kein einziges der Versprechen hatte einhalten können.

    In der letzten Woche hatte sie nicht mutwillig geschwänzt. Nein, es war ganz anders. Ihr Leben hatte sich von einem auf den nächsten Moment verändert.

    Lia hatte Angst, wieder in die Schule zu gehen. Sie hatte sich verändert und diese Veränderung würde jeder bemerken.

    Schon beim bloßen Gedanken daran, wie die abschätzigen und prüfenden Blicke ihrer Klassenkameraden auf ihr liegen würden, beschleunigte sich ihr Pulsschlag.

    Erschöpft schleppte sie sich ins Badezimmer, um sich fertig zu machen. Doch vor der Tür hielt sie

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