Um Gottes willen, ein Mediziner!: Heiteres aus einem ernsten Beruf
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Um Gottes willen, ein Mediziner! - Herbert Lipsky
Titelseite
Herbert Lipsky
Um Gottes willen,
ein Mediziner!
Heiteres aus einem ernsten Beruf
Leykam
Vorwort
Vor zwanzig Jahren ist von mir ein Buch, unter dem etwas merkwürdigen Titel: „Um Gottes willen, ein Mediziner" erschienen. Dieses Buch hatte damals, nicht nur in Ärztekreisen, einen gewissen Erfolg. Da ich immer wieder gefragt wurde, ob es nicht neu aufgelegt werden könne, beschloss ich es noch einmal zu versuchen. Ich schrieb einiges um, fügte anderes hinzu, der Leykam Verlag willigte ein und so entstand das vorliegende Werk. Das Buch ist so etwas wie eine Chronik der Zustände der Medizin des vergangenen Jahrhunderts. Die Geschichten haben den Vorzug, alle wahre Begebenheiten zu sein. Der Autor befindet sich nun schon im Ruhestand und seine heutigen Beziehungen zur Medizin bestehen überwiegend aus den Erfahrungen, die er durch seine eigenen Krankheiten macht. Da aber eine meiner Töchter Ärztin geworden ist, werde ich von ihr immer in medizinische Gespräche verwickelt und halte so den Kontakt mit meinem ehemaligen Beruf. Ich habe das Gefühl, dass die Probleme zwar die alten geblieben sind, aber Originale wie ich sie beschreibe, scheinen seltener geworden zu sein.
Das Buch
Vor einigen Jahren traf ich auf einem Kongress einen alten Freund. Nach den üblichen Fragen, wie es mir so gehe, gratulierte er mir zu meinem Buch, es sei didaktisch gut.
„Zu welchem Buch? fragte ich ihn, „ich habe keine Buch geschrieben.
„Entschuldige, das wusste ich nicht. Da fast alle ein Buch geschrieben haben, dachte ich auch du. Ich wollte nur höflich sein."
Dieses Gespräch machte mich betroffen. Tatsächlich, ich war bereits über 50 Jahre alt geworden und hatte noch kein Buch geschrieben. Die Liste meiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen hatte eine gewisse Länge, aber Buch war keines darunter. Ein Handbuch der Urologie, das einen Beitrag von mir enthalten hätte, war auch nicht erschienen. Da war ich nun Professor und hatte kein Buch geschrieben. Ich zerbrach mir den Kopf, über welches Kapitel meines Faches man noch ein Kapitel schreiben könne. Es schien vergeblich, es gab bereits alle Arten von Büchern, Monographien und Operationslehren. Eine Hundertschaft von Professoren und deren Mitarbeiter hatten den wissenschaftlichen Acker bestellt und eine ausreichende Ernte eingefahren. Da fiel mir ein, es müsse ja nichts Wissenschaftliches sein. Vor Kurzem hatte ein Kollege meiner Heimatstadt sein literarisches Glück versucht. Ein Ärzteroman, von einem Arzt geschrieben, das war auf großes Interesse gestoßen. Wie wäre es mit einer chirurgischen Biographie unter dem Titel: „Mit zitternder Hand.", das müsste gut ankommen. Doch ich verwarf diesen Einfall.
Hauptplatz
Dann fielen mir die vielen Geschichten aus meiner Laufbahn ein, die ich meinen Freunden erzähle, wenn ich sie unterhalten will, und unter denen meine Frau so leidet, weil sie sie schon alle kennt. Sie behauptet außerdem, dass ich sie immer schlechter erzähle. Warum sollte ich diese nicht in einem Buch zusammenfassen? Ich könnte zwar damit niemanden mehr unterhalten, aber meine Frau hätte wenigstens Ruhe. Das Buch würde autobiographisch und humoristisch sein. Alle Personen und Ereignisse dürften nicht erfunden, sondern müssten wahr sein.
Wann aber würde ich die Zeit haben, dies zu tun? Ärzte rechtfertigen ihr hohes Einkommen immer damit, dass sie von morgens bis abends arbeiten. Ein belletristisches Buch könnte von einem Chirurgen nur im Ruhestand geschrieben werden, es sei denn, man hätte ein weniger konsumierendes Fach. So lange wollte ich nicht warten. Ich begann mit meinen Aufzeichnungen während eines Kuraufenthaltes, auf den mich meine Familie allein schickte. Schon am ersten Erholungstag verfiel ich in eine Entlastungsdepression und begann auf Hotelpapier zu schreiben. Sofort besserte sich meine Stimmungslage.
Viel Kopfzerbrechen bereitete mir der Titel dieser Autobiographie. Da fiel mir ein, was meine Schwiegermutter zu ihrer Tochter gesagt hatte, als diese ihr gesagt hatte, dass sie mit einem angehenden Mediziner gehe: „Um Gottes willen, ein Mediziner, die sind doch alle unmöglich."
Studentenzeit
Graz ist eine alte Stadt in der südöstlichen Ecke Österreichs. Sie liegt in einer Nische des Steirischen Mittelgebirges, dort, wo dieses in Hügeln und in eine Ebene ausläuft. Graz ist seit jeher ein wichtiges geistiges und kulturelles Zentrum Österreichs. Einmal war Graz sogar die Residenzstadt Innerösterreichs. In der k. u. k. Monarchie war Graz für viele Pensionisten wegen der angenehmen Umgebung ein beliebter Alterssitz gewesen. Die Namen der alten Grazer Familien sind italienischen, polnischen, ungarischen, tschechischen, slowenischen und natürlich auch deutschen Ursprungs. Heute leben Menschen aus aller Herren Ländern bei uns. Seit Jahrhunderten ist Graz Universitätsstadt.
Es gab 1954, als ich zu studieren begann, die Karl-Franzens-Universität und die Technische Universität. Heute gibt es vier Hochschulen, eine Kunstuniversität ist dazugekommen und die Medizinische Universität ist selbstständig geworden. Die Medizinische Fakultät feierte unlängst ihr 150-jähriges Bestehen. Kamen früher die jungen Leute aus den Kronländern, um hier zu studieren, so kamen nach dem 2. Weltkrieg viele Studenten aus dem Südosten. Es studierten Griechen, Ägypter, Türken und Perser, aber auch aus Deutschland und Skandinavien gab es nicht wenige Studenten. Weder für In- noch für Ausländer hatte man einen Numerus clausus eingeführt. Studenten bestimmen seit jeher das Stadtbild und das Leben in Graz. Das räumliche Angebot der Hochschulen reichte für die damalige Zahl von Studenten. Die schönen Gebäude, vorwiegend aus dem vorigen Jahrhundert, lagen harmonisch eingebettet in den ebenso schönen Stadtvierteln. Sie benötigten noch keine hässlichen Zubauten und Protuberanzen aus Beton, um ihrer Funktion nachzukommen. Vor der Uni gab es jede Menge Parkplätze. Die meisten Studenten hatten nur ein Fahrrad. Unsere Fahrräder waren in einem Zustand, in dem man sie heute wohl entsorgt hätte. Das höchste der studentischen Gefühle war ein Motorroller. Wohlhabende fuhren eine Vespa, eine Lambretta oder einen Lohner-Roller, während Ärmere nur einen Puchroller, „Puchschammerl" genannt, ihr Eigen nannten. Die letzteren Vehikel zeichneten sich dadurch aus, dass man öfter stehen bleiben musste um die Zündkerzen zu reinigen.
Karl-Franzens-Universität
Stipendien gab es kaum, hingegen waren noch Studiengebühren und Prüfungstaxen zu bezahlen. Die Universität war damals Jahrzehnte von ihrer Demokratisierung entfernt, also noch in ihrem Goldenen Zeitalter. Es gab noch kein Universitätsorganisationsgesetz und keine Mitbestimmung von Assistenten, Studenten und Putzfrauen. In dieser Zeit gab es auch noch Originale von Universitätsprofessoren. Diese bestimmten schrullig, unwidersprochen, autoritär und manchmal auch liebenswürdig die Geschicke ihrer Institute und der Fakultäten. Die Universität war damals sozusagen noch Großgrundbesitz, über den die einzelnen Gutsherren beliebig verfügen konnten. Man hatte zwar nicht genug Geld, um alle ehrgeizigen Ziele zu verfolgen, aber genug Macht, um seine Mitarbeiter zur Arbeit anzuhalten. Die heutige Universität ist ein einziger großer Schrebergarten geworden. Jeder hat sein Gärtlein mit Thujenhecken eingegrenzt, aus dem er weder heraus sieht noch hineinsehen lässt. Dort baut er an, was ihm gefällt, und seine Missernten unterliegen keiner marktwirtschaftlichen Regulation. Die Pachtverträge verlaufen unkontrolliert und pragmatisiert bis zur späten Pensionierung. Kündigungen sind ausgeschlossen.
Die Professoren verfügten damals nicht nur über ihre Mitarbeiter, sondern auch über die Studenten. Eine schlechte Laune des Prüfers war gleichbedeutend mit dem Misserfolg. Man lernte viele Monate für ein Examen und stieg nach der ersten nicht oder falsch beantworteten Frage aus. Den damaligen Studenten, nämlich uns, kam dieses System durchaus gerecht und normal vor. Niemand regte sich auf. Weder die Hochschülerschaft noch das Ministerium wurden angerufen. Wie überhaupt damals die Hochschülerschaft und auch die Politik keine wesentliche Rolle auf der Uni spielten. Es gab natürlich neben extrem schwierigen Prüfern auch solche, die angenehm waren, so dass in Summe sich Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit die Waage hielten. Das Multiple-choice-System der Prüfungen war noch nicht bis zu uns durchgedrungen. Wir waren zwar noch nicht die berühmt-berüchtigte 68er-Generation, aber gefallen ließen wir uns auch nicht mehr alles.
Der Mediziner beginnt sein Studium mit dem Vorklinikum. Er besucht Vorlesungen für Physik, Chemie, Zoologie, Anatomie, Histologie und Physiologie. Daneben gibt es Praktika, Tests und das Rigorosum. Rigorosum heißt strenge Prüfung, so wurde es uns immer eingeschärft. Mit Physik und Chemie hatten wir uns alle schon in der Mittelschule geplagt. Die Anatomie und die Physiologie sowie die Histologie waren natürlich schon wesentlich interessanter. An der Universität in Graz begannen 1954 mit mir gleichzeitig 90 andere Studenten Medizin zu studieren. Wegen der großen Ärzteschwemme nach dem Krieg hatte man uns schon in der Mittelschule empfohlen, keineswegs diesen Beruf zu ergreifen. Diesen Rat hatten viele befolgt und dadurch herrschte nach dem Zeitpunkt unserer Promotion wiederum ein Mangel an Ärzten. Man kann daraus ersehen, dass auch schon damals weder der Staat noch die Standesorganisationen es verstanden hatten, die adäquaten Mengen des Nachwuchses für unseren Beruf richtig einzuschätzen und zu steuern. Unsere Professoren im Vorklinikum waren lauter berühmte Männer und eine Frau. Sie hatten zu dieser Zeit europäische Geltung und zeichneten sich durch sehr große Strenge aus.
Der Ordinarius für Physik war ein bekannter Mann, welcher nur ums Haar den Nobelpreis verpasst hatte. Kein Wunder, dass er mit uns Medizinstudenten sehr ungeduldig verfuhr. So flogen bei ihm beim ersten Versuch, die Physikprüfung zu machen, 80 Prozent der Kandidaten hinaus. Gefiel ihm jemand nicht, so stellte er ihm immer die Frage: Warum regnet es hier im Zimmer nicht? Stotterte der Kandidat etwas über die nicht mögliche Kondensation von Regenwolken in einem Raum, so war die sarkastische Antwort: Weil wir unter einem Dach sind. Kam jedoch der Kandidat von selbst auf diese Lösung und sagte, man wäre unter einem Dach und da bliebe man trocken, so musste er gleich Auskunft über die atmosphärische Zusammensetzung der Zimmerluft geben. Man gab einfach immer die falsche Antwort. Ich hatte bei meiner ersten Prüfung voll Pessimismus um eine ganze Kiste Bier gegen eine Ohrfeige gewettet, dass ich die Physik nicht im ersten Anlauf bestehen würde. Völlig unerwartet bestand ich diese Prüfung. Mein Studienkollege, mit dem ich die Wette abgeschlossen hatte, bestand darauf, die Wettschuld noch direkt nach der Prüfung auf der Uni zu kassieren. Er stellte mich mitten unter die Kandidaten, ich schloss ergeben die Augen und bekam die fürchterlichste Watsche meines Lebens. Benommen und zufrieden ging ich nach Hause. Meine Mutter war mehr über die Schwellung des Gesichts entsetzt als glücklich über die erste bestandene Prüfung.
Karl-Franzens-Universität
Im Vorklinikum lernt der junge Mediziner auch die ersten weniger appetitlichen Seiten seines Berufes kennen. Im Anatomischen Institut werden ihm zunächst formalingetränkte Leichenteile in die Hand gedrückt, an denen er mit Pinzette und Skalpell herumschnitzeln muss. Ratlos hält man, wie bei einem Puzzle, Handwurzelknochen in der Hand. Man musste das so genannte Knochenkolloquium bestehen. Es wurden je sechs Jünger Aesculaps an eine formalingetränkte Leiche gesetzt, die mit lebendigen Menschen keinerlei Ähnlichkeit mehr hatte, um zu sezieren. Aus dem anfänglichen Grausen wurde bald eine übertriebene Nonchalance. Jausenbrote wurden zwischendurch verzehrt und ohne wesentliche Händereinigung Zigaretten geraucht, um so die Abgebrühtheit zu dokumentieren. Man hielt es für einen guten Scherz, einmal einem Kollegen einen kleinen Finger in seine Geldtasche zu schmuggeln, der ihm dann ausgerechnet beim Zahlen in der Straßenbahn aus der Tasche fiel. Um sich interessant zu machen, wurde beim Umgang mit Mädchen dieser Furcht einflößende Teil des Studienabschnittes betont lässig erwähnt. Der Anteil an weiblichen Studenten am Medizinstudium war damals überaus gering. Nur etwa ein Dutzend Frauen waren dabei. Diese ekelte es bei den Sezierübungen noch mehr als den männlichen Studenten. Der Vorstand der Anatomie war ein gestrenger Mann und Autor des heute noch in Verwendung stehenden Lehrbuches. Er war ein guter Didaktiker und pflegte bei seinen Vorlesungen simultan beidhändig zu zeichnen. Er betrachtete seine Prüfung als erste und unabdingbare Stufe zum Studium der Medizin. Hier schied sich die Spreu vom Weizen zum ersten Mal. Bei der Prüfung schnitt ich beim Sezieren eine winzige Vene durch. Erschrocken versteckte ich die Vene in einem Muskel. Es nützte nichts, er zog sie mit einer Pinzette heraus, hob sie anklagend in die Luft, und aus war es mit der Auszeichnung.
Das Institut für Histologie wurde von zwei Damen geleitet. Die ältere Professorin stand schon knapp vor der Pensionierung und war äußerst launisch. Die etwas jüngere war 45 Jahre alt und eine attraktive Frau. Für uns allerdings war sie natürlich unglaublich alt. Ihre Aufgabe war es, die Praktika zu leiten. Sie war immer zu Scherzen aufgelegt und sprach mit einer durch vieles Rauchen gepflegten rauen Stimme. Etwa so: „Na Bubi, was siehst du denn da im Mikroskop?" Dabei lehnte sie sich einem über die Schulter, drückte uns ihren Busen ins Kreuz und blickte ebenfalls durch das Mikroskop. Unsere Aufgabe war es, vor dem Mikroskop zu sitzen, um die verschiedensten Gewebe zu betrachten und zu zeichnen.
Einmal verließ ein Kollege das Praktikum, ging auf die Toilette und gewann von sich etwas Samenflüssigkeit. Diese Samenprobe tropfte er auf einen Objektträger, legte ein Deckglas darauf und schob es unter das Mikroskop. Dann betrachtete er dieses Präparat eifrig. Plötzlich rief er: „Frau Professor, da ist etwas Seltsames in diesem Präparat, das kann ich nicht klassifizieren, es bewegt sich!"
Die Frau Professor beugte sich stirnrunzelnd über das Mikroskop und rief lachend: „Donnerwetter, wer hat denn solche Trümmer!"
Natürlich beschäftigten sich die angehenden Ärzte nicht nur mit der Wissenschaft, sondern lernten auch die Kunst des Biertrinkens sozusagen vom Krügerl auf. Weit voran lagen natürlich die korporierten Studenten, wir waren ihnen aber immer knapp auf den Fersen. So mancher Kollege erschien des Morgens leichenblass zu den Vorlesungen, um sich ebendort auszuschlafen. Besonders beliebt war hiezu die Physiologievorlesung, welche um 8 Uhr früh stattfand. Der Physiologieprofessor war ein korrekter, ernster Herr mit einschläfernder Stimme, der wie kein anderer das Projizieren von langweiligen Diapositiven liebte. Während dieser Projektion war der Hörsaal dunkel und warm, und es war ganz einfach, dabei einzuschlafen. Bei mir wurde damals ein Pawlow’scher Reflex ausgebildet, den ich auch heute noch nicht losgeworden bin. Sobald es bei einem Kongress finster wird und die Diapositive erscheinen, schlafe ich unweigerlich ein. Es gab eine ganze Reihe von Kollegen, die es vorzogen, ihren Rausch im warmen Physiologiehörsaal und nicht im kalten, ungeheizten Untermieterzimmer auszuschlafen.
Einige begnadete Zecher besuchten einmal am Vormittag, noch im euphorischen Stadium des Alkoholkonsums, voll Tatendrang die Chemievorlesung. Der Chemieprofessor war ein sehr strenger Mann, Humor war bei ihm absolut unvorstellbar. Der hoffnungsvolle Medizinernachwuchs hatte mehrere Schilder von Gasthäusern und Baustellen sowie Verkehrszeichen ungesetzlich entfernt. Die Studiosi betraten den Hörsaal während der Vorlesung im Gänsemarsch, sozusagen mit ihren Schildern eine Minidemonstration bildend. Der erste trug ein Schild mit der Aufschrift „Einbahn, dann folgten „Halteverbot
, Universitätssportplatz, „Klöcher-Weinstube
, und „Baumeister Manninger". Damit waren auch die einzelnen Stationen ihrer durchzechten Nacht einigermaßen genau nachgezeichnet. Sie marschierten schweigend