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Von Menschenwerk und Gottesmacht: Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte. Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013
Von Menschenwerk und Gottesmacht: Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte. Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013
Von Menschenwerk und Gottesmacht: Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte. Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013
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Von Menschenwerk und Gottesmacht: Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte. Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013

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Wie frei ist der menschliche Wille zum Tun des Guten? Wie verhalten sich menschliches Handeln und göttliche Gnade? Führt eine zugespitzte Gnadenlehre nicht zu Fatalismus oder Libertinage? Diese Fragen und der Streit um ihre Beantwortung führen in das Zentrum von Philosophie, Theologie und Biographie des Augustinus von Hippo (354-430). Die Beiträge des Sammelbandes werfen Schlaglichter auf das geistesgeschichtliche Ringen um diesen Fragen- und Problemkreis: vor Augustinus (besonders im Buch Genesis, bei Paulus und bei Origenes), bei Augustinus selbst (speziell in dessen Auseinandersetzung mit Pelagianismus und ‹Semipelagianismus›) und nach Augustinus (zumal im Umfeld der Reformation sowie der Jansenismus-Debatte). Die Aufsätze der ausgewählten Spezialisten fügen sich zu einem Panoptikum des Gnadenstreits im Laufe der Jahrhunderte.
LanguageDeutsch
PublisherEchter Verlag
Release dateDec 1, 2016
ISBN9783429041939
Von Menschenwerk und Gottesmacht: Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte. Beiträge des XI. Würzburger Augustinus-Studientages vom 7. Juni 2013

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    Von Menschenwerk und Gottesmacht - Echter Verlag

    Christof Müller

    Vorwort

    Nachdem das Zentrum für Augustinus-Forschung an der Universität Würzburg im Jahr 2012 seinen 10. Augustinus-Studientag als Jubiläumsveranstaltung mit einem großen internationalen und interdisziplinären Symposion in Rom begehen konnte¹, fiel der Studientag 2013 wieder etwas lokaler und bescheidener aus – keinesfalls zu verwechseln mit ‹provinzieller› und ‹weniger gehaltvoll›, lautete das gewichtige Thema doch: «Von Menschenwerk und Gottesmacht. Der Streit um die Gnade im Laufe der Jahrhunderte».

    ‹Nicht schon wieder Gnadenlehre›, werden vielleicht einige Hörer oder Leser dieses Studientagsmottos gestöhnt haben. Doch taucht die augustinische Gnadenthematik nicht ohne systematischen Grund immer wieder auf der Agenda der Geisteswissenschaften und auf den Titelseiten zahlreicher Publikationen auf, stoßen wir mit dieser Fragestellung doch zweifelsohne in das Zentrum dessen vor, was theologiegeschichtlich, aber auch philosophie- und politikgeschichtlich unter ‹Augustinismus› verstanden wurde und verstanden wird: Augustinus trägt nicht umsonst den Titel des ‹doctor gratiae›, des ‹Lehrers der Gnade›.

    Das Spektrum der Vorträge des 11. Augustinus-Studientages bzw. der Aufsätze des vorliegenden Tagungsbandes macht zudem deutlich, dass das Gnadenthema mit seiner Dialektik von ‹Menschenwerk› und ‹Gottesmacht› nicht nur ein Herzstück des Denkens Augustins auf das Podest hebt, sondern eine Fragestellung aufgreift, die bereits vor und die noch nach diesem spätantiken Geist Geistesgeschichte geschrieben hat. Schon in den antiken Religionen und Philosophien und verstärkt mit und seit Paulus fragen Menschen danach, was sie selbst bewerkstelligen können, was das Numinose und Transzendente, was Gott, ausrichten und bewirken will oder kann und schließlich – am spannendsten und spannungsvollsten –, was Gott im Menschen zu wirken vermag. Theologisch äußern sich die Kontroversen um diese grundlegenden Fragen in den immer wieder aufflammenden Gnadenstreitigkeiten im Laufe der Jahrhunderte, doch auch philosophisch treiben diese Problemstellungen die Menschen verschiedenster Epochen – verschärft seit dem Fortschrittsversprechen von Neuzeit und Aufklärung – an und um, unter anderem als Frage nach Autonomie oder Heteronomie des Menschen und nach Freiheit oder Unfreiheit seines Willens, Strebens und Handelns.

    Und heute? Gehen uns diese Fragen auch heute noch etwas an? Ich meine: ‹Ja›, vielleicht sogar mehr denn je – und das nicht nur in den elfenbeinernen Türmen akademischer Diskurse! Wenn Wissenschaftler sich dieser Tage anschicken, das menschliche Erbgut zu ‹optimieren›: sind sie dann von göttlicher Macht inspiriert oder sind sie menschlichem Machbarkeitswahn verfallen? Wenn Zeitgenossen dieser Tage danach streben, sich ihre Lebenserfüllung und ihr Selbstbild über ökonomische Hochleistung zu erarbeiten, über Konsum und Erlebnis zu erkaufen oder über mediale Aufmerksamkeit zu erkämpfen: sind sie dann schöpferische Gestalter ihrer selbst oder sind sie zutiefst von der Angst getrieben, ohne ihr ‹Menschenwerk› in ein Sinnvakuum und in ein kosmisches ‹Nichts› zu fallen?

    Um den Übergang fort von der Einführung und hin zur ‹gratia›-Thematik zu markieren, möchte ich mit einem ‹gratias agamus›, einer Danksagung schließen: Dank vor allem an die Referierenden des Augustinus-Studientages bzw. an die Beiträgerinnen und Beiträger des vorliegenden Tagungsbandes! Für die Druckfassung wurden die Referate noch einmal zum Teil erheblich erweitert und überarbeitet sowie um zwei zusätzlich aufgenommene Aufsätze ergänzt: um den Beitrag von Frau Prof. Barbara Schmitz zum Alten Testament und denjenigen von Prof. Harm Klueting zur Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit. Die Chronologie der Gnadenthematik ‹im Laufe der Jahrhunderte› wurde auf diese Weise um einige wichtige Referenzsysteme und Epochen angereichert.

    Dank gebührt selbstredend auch meinem Mitherausgeber, Herrn Kollegen Guntram Förster – er leistete zumal die Kärrnerarbeiten der Druckvorbereitung –, ebenso wie dem Verlag Echter für die verlegerische Betreuung. Einen besonderen Dank möchte ich schließlich der Deutschen Ordensprovinz der Augustiner aussprechen, und dies gleich in mehrerer Hinsicht. Um vom Konkret-Handfesten auszugehen und zum Ideellen fortzuschreiten: Provinzial Pater Alfons Tony und die Seinen haben zum einen einen beachtlichen Druckkostenzuschuss für die Publikation des Tagungsbandes gewährt, des weiteren die Aufnahme des Buches in die gut gedeihende Reihe ‹Cassiciacum. Res et Signa› befördert, zudem dem ZAF seit Jahr und Tag die hervorragende Infrastruktur für seine Augustinus-Forschungen und -veröffentlichungen bereitgestellt und schließlich durch ihre lebendige augustinische Spiritualität dafür gesorgt, dass die Gnadenlehre Augustins sich den Zeitgenossen von ihrer besten Seite her präsentiert: als Theorie und Praxis der zuvorkommenden Liebe Gottes.

    ¹ Cf. den mittlerweile erschienenen Tagungsband: CHRISTOF MÜLLER (Hg.), Kampf oder Dialog? Conflict/ Dialogue? Begegnung von Kulturen im Horizont von Augustins ‹De ciuitate dei›. Augustine’s Engagement with Cultures in ‹De ciuitate dei›. Internationales Symposion / International Symposium. Institutum Patristicum Augustinianum, Roma 25.–29. September 2012 (= Cassiciacum 39,11. Res et Signa 11), Würzburg 2015.

    Barbara Schmitz

    Der Mensch als erkennendes Wesen

    Anthropologische Aspekte nach Gn 2,4–3,24

    «Der Sündenfall» ist bis heute die Überschrift¹, unter der die Erzählung von Gn 3 in unseren Bibelausgaben präsentiert wird. Mit dieser Überschrift, die von den Herausgebern der modernen Bibelausgaben in den alten biblischen Text hineingesetzt wird, wird den Lesern die Perspektive auf die Erzählung vorgegeben: Das, was nun folgt, wird durch die Überschrift als Geschichte vom ‹Sündenfall› gelesen, obwohl – und das fällt den meisten Lesern gar nicht auf – in der Erzählung an keiner Stelle das Wort ‹Sündenfall›, ja noch mehr, an keiner Stelle das Wort ‹Sünde› oder ‹Schuld› vorkommt.

    Die Deutung von Gn 3 als ‹Sündenfall› ist freilich keine moderne Erfindung, sondern geht auf eine alte Interpretation zurück (cf. Rm 5,12; 4 Esr 7,118 u.a.), die Augustinus mit seiner Lehre von der ‹Erbsünde› bzw. ‹Ursünde› noch weiter ausgebaut hat. So alt diese Sicht auf Gn 3 auch sein mag, sie bleibt eine Interpretation, die zudem weit reichende anthropologische Implikationen in sich birgt: Aus der Interpretation von Gn 3 als ‹Sündenfall› erscheint der Mensch von Anfang an als sündig, in sich schlecht und damit erlösungsbedürftig.

    Ohne rezeptionsästhetische Ansätze bemühen zu müssen, ist theologisch wie hermeneutisch klar, dass eine Interpretation eines Textes nicht mit der einen Interpretation verwechselt werden darf. Texte, biblische Texte allzumal, eröffnen immer eine Pluralität von Deutungsmöglichkeiten. Daher wird im Folgenden eine Deutung von Gn 3 im Horizont von Gn 2 vorgelegt, die nicht der üblichen Interpretation der Erzählung als ‹Sündenfall› folgt, sondern die davon ausgeht, dass die Menschenschöpfung mit Gn 2 keineswegs abgeschlossen ist, sondern sich in Gn 3 fortsetzt, weil in Gn 3 narrativ entfaltet wird, wie sich der erschaffene Erdling nach und nach zum erkennenden Wesen und damit eigentlich zum Menschen entwickelt.

    1. Der Mensch nach der zweiten Schöpfungserzählung

    Im Vergleich zur ersten Schöpfungserzählung, in der die Menschen von vornherein als männliche und weibliche Wesen geschaffen werden (Gn 1,27), vollzieht sich die Menschenschöpfung in der zweiten Erzählung in einem längeren Prozess: Zuerst wird von Gott ein Mensch (ʾādām) geschaffen (Gn 2,7), den Gott aus der Erde (ʾdāmāh) formt. Diesem ‹Erdling› bläst Gott dann mit seiner Nase den Atem (nešāmāh) ein, der ihn zu einem lebendigen Wesen (nœphœš) macht. Dieses Mischwesen aus Erde und göttlichem Atem erhält einen von Gott gepflanzten Garten in Eden im Osten (Gn 2,8) als Lebensraum. In diesem befinden sich neben Bäumen, die gut zum Essen und schön anzusehen sind, zwei weitere Bäume, der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis (Gn 2,9). Die Aufgabe des ersten Menschen ist es, diesen Garten zu bearbeiten und zu bewahren (Gn 2,15). Zugleich untersagt es Gott dem Menschen, vom Baum der Erkenntnis zu essen, da er sonst stürbe (Gn 2,16sq.). Weil dieser erste Mensch noch ganz allein im Garten ist, beschließt Gott, ihm einen Gefährten als sein Gegenüber zu schaffen (Gn 2,18). Zu diesem Zweck formt Gott, wie er es zuvor beim Menschen getan hat, nun die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels, führt diese dem Menschen zu und lässt ihn diese benennen, um zu sehen, ob der Mensch ein ihm adäquates Gegenüber unter ihnen findet (Gn 2,19sq.). Der Mensch jedoch findet kein Gegenüber, daher lässt Gott einen Tiefschlaf über den Menschen fallen, nimmt eine von seinen Rippen und baut daraus einen zweiten Menschen (Gn 2,21sq.). Erst in diesem sieht der erste Mensch ein Gegenüber – eine Frau (ʾiššāh). Beide, der erste Mensch wie auch die Frau, sind nackt (Gn 2,25). Mit der Schlange tritt eine neue Figur in der Erzählung auf, die als ‹klüger› als alle Tiere beschrieben wird (Gn 3,1). Im Gespräch mit der Frau stellt die Schlange das an den ersten Menschen gerichtete Verbot Gottes, vom Baum der Erkenntnis zu essen, in Frage und behauptet, dass die Menschen nicht sterben, sondern erkennen werden (Gn 3,1–5). Daraufhin nimmt die Frau und isst, gibt ihrem Mann, und auch er isst. Jetzt erst gehen beiden die Augen auf und nun erkennen sie erstmals, dass sie nackt sind (Gn 3,6sq.). Als sie die Stimme Gottes, mit dem sie zuvor ganz unbefangen umgegangen waren, im Garten hören, verstecken sie sich (Gn 3,8). Im folgenden Gespräch Gottes mit dem Mann, der Frau und der Schlange werden das Geschehene rekapituliert und die Folgen des Tuns benannt (Gn 3,10–20): Die Schlange muss nun auf dem Boden kriechen, Mühsal («saure Arbeit» ʿiṣṣābōn) wird das Leben von Mann und Frau prägen – bei der Schwangerschaft ebenso wie bei der Arbeit auf dem Erdboden. Dennoch stellt Gott für die Menschen Kleider her und bekleidet sie (Gn 3,21). Der bisher nur als ‹Frau› bezeichnete Mensch erhält nun einen bedeutungstragenden Eigennamen: «Eva – Mutter alles Lebendigen» (Gn 3,20)². Unter den veränderten Bedingungen schickt Gott nun das erste Menschenpaar aus dem Garten fort und lässt den Weg zum Baum des Lebens besonders bewachen (Gn 3,22–24).

    2. Der Zusammenhang von Gn 2 und Gn 3 als eine Erzählung

    Üblicherweise werden Gn 2 und Gn 3 als zwei getrennte Erzählungen behandelt: Die erste erzähle, wie Gott die Menschen geschaffen habe, die zweite erzähle vom sogenannten ‹Sündenfall›. Gegen diese übliche Sicht auf den Erzählzusammenhang von Gn 2–3 sei betont, dass der Prozess der Menschenschöpfung weder mit dem Schaffen des (ersten) ‹Menschen› (hāʾādām) in Gn 2,7, über dessen Geschlechtlichkeit keine Aussage getroffen wird, noch mit der Schaffung des zweiten Menschen, der Frau (ʾiššāh) in Gn 2,22, die der erste Mensch als ein ihm adäquates ‹Gegenüber› anerkennt (Gn 2,23, cf. ib. 2,20), abgeschlossen ist. Vielmehr setzt sich die Entwicklung dieses ersten Menschenpaares in Gn 3 fort. Gn 3 gehört zur Erzählung über die Schaffung des Menschen von Gn 2 und sollte nicht als eine eigene Erzählung von dieser abgetrennt werden. Anders formuliert: In Gn 2,4 beginnt ein Erzählzusammenhang, der erst in Gn 3,24 an ein erstes Ende kommt und der erzählt, wie es zu dem Wesen ‹Mensch›, das sich einerseits von den Tieren, andererseits von Gott unterscheidet, gekommen ist. Die These einer Aufteilung in eine Erzählung von der Erschaffung des Menschen (Gn 2,4–25) und einer sogenannten ‹Sündenfallerzählung› (Gn 3,1–24) ist mithin nicht haltbar. Dies aber hat Auswirkungen auf die Interpretation und Funktion der sogenannten «Sündenfallerzählung» (Gn 3,1–24). Um dies zu erläutern, sei der Blick auf die Interaktion zwischen der Schlange und den Menschen gerichtet.

    3. Die Schlange

    In Gn 2,4–25 wird geschildert, wie der Garten Eden mit Pflanzen, Bäumen und Figuren ausgestattet ist. Bewegung kommt in die statisch anmutende Szenerie jedoch erst durch die Schlange, die in Gn 3,1 erstmals auftritt. ‹Die›³ Schlange gehört zu den Tieren, die Gott geschaffen hat. Dennoch aber wird dieses Tier als «klüger» (ʿārûm)⁴ gegenüber allen anderen Tieren bezeichnet (Gn 3,1). Damit unterscheidet sich die Schlange nicht nur von den anderen Tieren, sondern auch von den ersten Menschen. Wie die Schlange ‹klüger› (ʿārûm) als alle anderen wurde, wird in der Erzählung nicht explizit erläutert. Der Erzählduktus legt aber den Schluss nahe, dass die Schlange von Gott selbst mit ebendieser Qualität des ‹klüger als› geschaffen wurde.

    Die Klugheit der Schlange zeigt sich darin, dass sie die Frau mit der Frage, ob Gott das Essen von allen Bäumen verboten habe, provoziert (Gn 3,2) und damit die Aufmerksamkeit auf die Frage nach ‹Gut› und ‹Böse› lenkt. Mit dieser Frage beginnt in der Erzählung erstmals eine eigenständige Handlungssequenz und Interaktion der Figuren innerhalb des Gartens Eden.

    Die Frau weicht – intuitiv oder intendiert – der Provokation der Schlange aus, indem sie Gottes Worte in verschärfter oder missverstandener Form wiedergibt: Sie wiederholt die Worte Gottes, bezieht aber das Essverbot auf den Baum in der Mitte des Gartens (Gn 3,2sq.). Der Baum in der Mitte des Gartens (Gn 3,2) ist aber der Baum des Lebens (cf. Gn 2,9), während Gott bei dem Essverbot explizit vom Baum des Erkennens von Gut und Böse gesprochen hatte (cf. Gn 2,17). Dieser Wiedergabe der Gottesrede widerspricht ihrerseits die Schlange, indem sie die von Gott angekündigte Folge als leere Drohung entlarvt: Keineswegs würden die Menschen sterben, sondern Gott erkenne und wisse vielmehr, dass den Menschen die Augen geöffnet würden und sie dann wie Gott sein würden (Gn 3,4sq.). Die Schlange beschreibt, was «Sein wie Gott» bedeutet: «Sein wie Gott» – so die Schlange – hieße demnach, dass die Menschen ‹Gut› und ‹Böse› erkennen könnten (ib.). Entscheidend ist, dass dies kein Wunsch der Menschen ist, sondern eine Einschätzung der Schlange und daher das Wie-Gott-sein-Wollen in Gn 3 nicht als ‹Wurzelsünde des Menschen› zu verstehen ist.

    Die Schlange entfaltet ein weisheitliches⁵ Gegenkonzept, indem sie den Menschen ankündigt, dass ihnen die Augen geöffnet würden und sie ‹wie› Gott Gutes und Böses erkennen könnten (Gn 3,5)⁶. Umgekehrt heißt dies, dass die Menschen bisher nicht selbständig aus eigenem Antrieb ‹erkennen›. Damit fehlt diesen von Gott geschaffenen Wesen noch das, was den Menschen zutiefst auszeichnet: erkennen zu können. Deswegen ist die Menschenschöpfung noch nicht abgeschlossen, sondern vielmehr vollzieht sich in Gn 3 ein Prozess, in dem und durch den der Mensch erst zum Menschen wird. Dieses Wie-Gott-Werden hat nichts Überhebliches, vielmehr werden die von Gott geschaffenen Menschen erst durch dieses Erkennen zu ‹echten› Menschen, die selbständig denken und unterscheiden und vor allem Gott erkennen können. Mit Erkenntnis partizipieren die Menschen dann an etwas, was in der Welt des Gartens Eden bisher allein Gott vorbehalten zu sein scheint.

    Tatsächlich ‹sieht› die Frau (Gn 3,5) – mit noch ‹ungeöffneten› Augen (cf. Gn 3,5.7) – einen ‹gut› schmeckenden Baum, der eine ‹Lust für die Augen› ist und der ‹Einsicht› verspricht (Gn 3,6, cf. ib. 2,9). Mit ‹ungeöffneten› Augen und noch ohne Erkenntnis ist aber offenbar in der Frau durch die Schlange, die klüger als alle anderen Tiere ist, etwas angestoßen worden: «Die Frau will klug werden, sonst nichts!»⁷.

    Folgerichtig wird die Frau zum ersten Mal aktiv und ‹nimmt› von den Früchten, isst und gibt diese an ihren Mann weiter (Gn 3,6). Interessant daran ist, dass dieser ‹neben ihr› steht (ib.). Der Mann hat somit nicht nur die ganze Szene mit der Schlange mitverfolgt; er hat das Gespräch mit der Schlange mitbekommen, hätte eingreifen, hätte das Essen verhindern können und hätte an die ursprüngliche Weisung, die ja nur er erhalten hat – die Frau war ja noch gar nicht geschaffen (cf. Gn 2,16sq.) –, erinnern und sie richtigstellen können. An Stelle dessen versucht er später, sich herauszureden und sich seiner (Mit-)Verantwortung zu entziehen (Gn 3,17–19).

    Mit dem Nehmen vom Baum überschreitet die Frau die göttliche Weisung und mit ihr die bisherigen Grenzen zwischen Gott auf der einen und Mensch und Tier im Garten Eden auf der anderen Seite: Das Verb ‹nehmen› bezeichnet bisher das Schöpfungshandeln Gottes (Gn 2,15.21.22, cf. ib. 2,23). Wenn die Frau nimmt, handelt sie tatsächlich ‹wie Gott› (cf. Gn 3,5). Damit partizipiert sie an Gottes Weltgestaltung und handelt – nach der Schlange – als erstes Wesen im Garten selbständig.

    Dies hat zur Folge, dass den beiden Menschen ‹die Augen geöffnet werden› (passiv) und sie ‹erkennen› (aktiv; Gn 3,7). Dieser entscheidende Moment wird als ein reziproker Vorgang von aktivem Handeln und passivem Erleben geschildert. Offen bleibt, ob das Öffnen der Augen automatisch durch das Essen erfolgt oder ob Gott als Passivum divinum Subjekt ist und damit die Fähigkeit des Menschen zur Erkenntnis aktiv ermöglicht hat.

    Mit geöffneten Augen können die Menschen erst jetzt ‹Gut› und ‹Böse› erkennen⁸. Die Überschreitung des Verbots ist nicht eine Entscheidung zwischen ‹Gut› und ‹Böse›, sondern vielmehr eine Entscheidung für das Erkennen. Durch das Essen vom Baum der Erkenntnis wird Erkenntnis überhaupt erst ermöglicht. Dieses Erkennen wird durch die Alternative ‹Gut› und ‹Böse› als ein Wahrnehmen von Differenzen charakterisiert; ‹Gut› und ‹Böse› haben die Funktion, Differenzen wahrzunehmen, Grenzen zu ziehen und damit unterscheidendes Erkennen zu ermöglichen.

    4. Folgen des Essens vom Baum der Erkenntnis

    Dass das erste Menschenpaar nun über die Möglichkeit der Erkenntnis von ‹Gut› und ‹Böse› verfügt, hat eine Reihe von Konsequenzen:

    Erstens nehmen die Menschen jetzt erst wahr, was sie schon lange sind und was sie schon längst hätten sehen können, wenn sie wirklich sehen gekonnt hätten: sie sind nackt⁹ (Gn 3,7, cf. ib. 2,25). Was die Lesenden durch den Erzähler schon längst wissen, lernen die ersten Menschen erst durch den Baum der Erkenntnis. Diese Selbst-Erkenntnis macht sie ‹wie Gott› (Gn 3,5.22) und ‹klug› wie die Schlange¹⁰. Durch die Erkenntnis von Gegensätzen entsteht erst ein Bewusstsein für sich selbst und für den Anderen, so dass sie ihre Unterschiedlichkeit erkennen und diese sofort durch erste pflanzliche Kleidung zu bedecken suchen (Gn 3,7). Mit dem neuen Selbst-Bewusstsein entwickeln sie zugleich ein Gespür für ihre eigene Ohnmacht und Schutzbedürftigkeit¹¹.

    Eine zweite Konsequenz des neuen Erkennens ist, dass sich die Gottesbeziehung grundlegend verändert: Während die ersten Menschen zuvor in naiver Vertrautheit mit Gott im Garten Eden umgegangen sind (Gn 2), die darauf schließen lässt, dass sie ihn nicht als den ganz Anderen erkannt haben, verstecken sie sich jetzt vor Gott (Gn 3,8). Offenbar hat das Gespür für ‹Gut› und ‹Böse› die Menschen so verändert, dass sie Gott nun als fremdes Gegenüber erfahren, vor dem sie sich verstecken. Das bedeutet, dass die Menschen erst nach dem Essen vom Baum der Erkenntnis Gott als Gott kennenlernen, vorher aber aufgrund ihrer Unfähigkeit, Differenzen wahrzunehmen, Gott als den ganz Anderen und als den von ihnen Unterschiedenen gar nicht wahrnehmen konnten. Es geht also beim Verstecken nicht in erster Linie um den Versuch, das Übertreten des Verbots und den eigenen Ungehorsam zu kaschieren, sondern vielmehr um die aus der Erkenntnis resultierende Wahrnehmung des eigenen Selbst, des Anderen und Gottes als des ganz Anderen. Zugleich wird daraus rückblickend deutlich, dass die Menschen das Verbot Gottes, vom Baum zu essen, auch nicht recht einschätzen konnten. Daher ist es konsequent, dass nicht die Menschen auf Gott zugehen, sondern es Gott selbst ist, der die sich vor ihm versteckenden Menschen sucht und mit ihnen in Kommunikation tritt (Gn 3,8sq.).

    Beide Aspekte, die Selbsterkenntnis und die Gotteserkenntnis, gehören insofern zusammen, als sie beide eine grundlegende Fähigkeit beschreiben: das Erkennen grundlegender Unterscheidungen. Genau dies ist es, was Menschsein nach Gn 2–3 auszeichnet: Differenzen wahrnehmen und beurteilen können.

    Neben der Selbsterkenntnis und der veränderten Gotteserkenntnis entwickeln die Menschen als dritte Auswirkung ein Bewusstsein für ihre Sterblichkeit. Auch wenn sie vermutlich schon vorher sterblich waren, so hat sich verändert, dass sie nun wissen, dass sie sterben müssen. Wie bei der Nacktheit ist es ihr Bewusstsein, das sich verändert hat. Offensichtlich haben sie zuvor kein (Selbst-)Bewusstsein für die Grenze und Differenz von Leben und Tod besessen; dies wird den Menschen erst durch ihre neu erworbene Fähigkeit der Erkenntnis bewusst.

    Das lässt die Frage stellen, ob

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