Geist & Leben 3/2016: Zeitschrift für christliche Spiritualität
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Stefan Walser OFMCap erinnert an seinen kürzlich verstorbenen Mitbruder Anton Rotzetter. Dessen Engagement für eine Wahrnehmung des Tieres in der Theologie findet immer breitere Anerkennung und wird in diesem Heft von Christoph J. Amor mit der Frage untersucht "Ist der Himmel auch für Tiere offen?".
Auf sehr unterschiedliche Weise beschäftigen sich die Artikel von Doris Nauer und Alex Stock mit dem Thema Sterben; Bernd Hillebrand geht dem Begriff einer "Scheuen Frömmigkeit" nach und Bernhard Eckerstorfer OSB stellt einen Vortrag über die Zukunft der Klöster unter dem Titel "Den Heiligen Geist nicht blockieren" zur Verfügung. In der Jungen Theologie beleuchtet Jonatan Burger, wie die Erfahrung des Totalitarismus Romano Guardinis Theologie beeinflusste; nach einem Beitrag über den Open Theism im vergangenen Heft, widmet sich der Artikel von Julia Enxing einer anderen zeitgenössischen theologischen Strömung, der Prozesstheologie. Wie Martin Luther, mit dessen Werk wir uns im Jahr 2017 mehrfach beschäftigen werden, von Bernhard von Clairvaux beeinflusst wurde, untersucht Franz Posset.
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Geist & Leben 3/2016 - Christoph Benke
Barmherzigkeit allein reicht nicht?
In seiner Verkündigungsbulle Misericordiae vultus hat Papst Franziskus eines seiner wichtigen Anliegen – die Barmherzigkeit – in den Mittelpunkt eines außerordentlichen Jubiläumsjahres gerückt: die Kirche soll zu einem Raum der Barmherzigkeit werden. Der Papst ist überzeugt davon, dass das biblisch-christliche Gottesbild nicht auf die Gerechtigkeit als Eigenschaft Gottes beschränkt bleiben darf, ohne in einen Anthropomorphismus zu verfallen: „Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass, wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie zu zerstören"¹. Wie eine Antithese zu dem Papst-Wort „Gerechtigkeit genügt nicht mutet ein Interview an, das der renommierte Sozialethiker Friedhelm Hengsbach gegeben hat: „Barmherzigkeit allein reicht nicht
². Für Hengsbach hat sich die Kirche in eine Sackgasse manövriert, insofern sie an verpflichtenden Normen wie der Unauflöslichkeit der Ehe unbeirrbar festhält. Gegenüber diesen normativen Ordnungen sei es ungenügend, mit der Barmherzigkeit zu operieren. Die Barmherzigkeit wäre eine Art „Hintertür. Man befinde sich hinsichtlich vieler Fragen kirchlicher Ehe- und Sexualmoral in einer unlösbaren Situation, kaschiere diese aber, indem man sich auf die Barmherzigkeit Gottes berufe. Für Hengsbach reicht es nicht, auf der persönlich-individuellen Ebene Barmherzigkeit walten zu lassen. Vielmehr müsse sich die Kirche eine gerechtere Ordnung geben: „Barmherzigkeit ist eine persönliche Einstellung, Gerechtigkeit aber ist eine Ordnung
.
Einige Punkte in diesen Äußerungen scheinen mir missverständlich zu sein: So muss differenziert werden zwischen der sakramentalen Ehe und ihrem unauflöslichen Charakter einerseits und andererseits dem kirchlichen Umgang mit der Realität des Scheiterns von christlichen Ehen, die in bester Absicht vollzogen wurden. Kann ein solches Scheitern allein mit rechtlichen Kategorien bewältigt werden oder bedarf es dazu einer Dimension, die die Gerechtigkeit umfasst?; einer Dimension, die die Möglichkeit der Umkehr und eines neuen Anfangs einräumt – die der Barmherzigkeit? Auch scheint mir die starke Entgegensetzung einer persönlich-individuellen Ebene des barmherzigen Verhaltens und der gesellschaftlich-strukturellen Ebene der Gerechtigkeit nicht treffend zu sein. Kann (und muss) nicht gerade die Barmherzigkeit dazu führen, dass auch kirchliche Norm und Disziplin modifiziert werden? Trotz dieser Einwände sind Hengsbachs Überlegungen bedeutsam, weil sie darauf aufmerksam machen, wie Barmherzigkeit nicht zu denken ist: Die Frage nach der Barmherzigkeit darf nicht als ein „Trick verstanden werden, mit dem man die (unbarmherzige) Rechtsordnung umgeht. Eine bloße Nachsichtigkeit würde den/die „Empfänger(in)
demütigen und seiner/ihrer Würde berauben. Im Sinne einer Lohn- und Strafgerechtigkeit würde ihm/ihr einfach nur erlassen, was er/sie eigentlich doch verdient hätte. Barmherzigkeit wäre ein rein asymmetrisches Verhältnis zwischen „Empfänger und „Geber
der Barmherzigkeit und hätte schwerwiegende Konsequenzen für das Gottesbild. Der barmherzige Gott könnte sich eigentlich auch ganz anders gegenüber dem Geschöpf verhalten, verzichtet aus unerfindlichen Gründen jedoch darauf.
Johannes Paul II. hat in seiner Enzyklika Dives in misericordia³ Hinweise zu einem differenzierten Verständnis von Barmherzigkeit gegeben. Ausgangspunkt ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Auch wenn die Begriffe Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht explizit genannt werden, wird eine Situation beschrieben, in der der jüngere Sohn keine Ansprüche mehr an den Vater stellen kann, die der Gerechtigkeit entsprechen. Dennoch bleibt der Vater sich und seiner Vaterschaft treu. Der Vater bleibt Vater und der Sohn bleibt Sohn. Die Freude des Vaters „weist auf ein unverletztes Gut hin: ein Sohn hört nie auf, in Wahrheit Sohn seines Vaters zu sein, selbst dann nicht, wenn er sich von ihm trennt. Barmherzigkeit stellt kein Verhältnis der Ungleichheit dar. Sie demütigt den Menschen nicht, weil sie „auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes beruht, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde
. Barmherzigkeit besteht in der Anerkennung der Würde des anderen Menschen. Die Sorge um die Würde des Anderen verpflichtet den barmherzigen Vater, – sie verpflichtet auch die Kirche und jeden einzelnen Christen.
1 Misericordiae vultus. Verkündigungsbulle von Papst Franziskus zum Außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 200), Bonn 2015, Nr. 21.
2 F. Hengsbach, Barmherzigkeit allein reicht nicht: http://www.rp-online.de/kultur/barmherzigkeitallein-reicht-nicht-aid-1.5690529 (Stand: 14.04.16).
3 Enzyklika Dives in Misericordia von Papst Johannes Paul II. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 26). Bonn 1980, Nr. 6.
Gott oder Gottes Willen finden?
Gott suchen und finden¹, dieses Anliegen ist ein Gemeingut christlicher Spiritualität.² Es wird aber in besonderer Weise mit Ignatius von Loyola verbunden. Das mag daran liegen, dass es nicht nur eine Maxime seines Lebens war. Er hat einen Übungsweg für andere – die Exerzitien – vorgelegt und dieses Anliegen dem von ihm und seinen ersten Gefährten gegründeten Jesuitenorden zur Aufgabe gemacht. Er war überzeugt, dass Gott nicht nur in Zeiten des Gebetes, sondern in allen Dingen und in allem Tun gefunden werden kann.
Ignatius selbst bekennt in einem seiner letzten Lebensjahre einem Mitbruder gegenüber, er wachse „immer in der Andacht, das heißt in der Leichtigkeit, Gott zu finden, und jetzt mehr als in seinem ganzen Leben. Und jedesmal und zu jeder Stunde, dass er Gott finden wolle, finde er ihn" (BP 99; GGJ 82)³. Von dieser Erfahrung her kann er die Ordensstudenten anweisen: „Sie können sich deshalb darin üben, die Gegenwart unseres Herrn in allen Dingen zu suchen, wie im Umgang mit jemand, im Gehen, Sehen, Schmecken, Hören, Verstehen und in allem, was wir tun; denn es ist wahr, dass seine göttliche Majestät durch Gegenwart, Macht und Wesen in allen Dingen ist.⁴ Indem sie dies tun, müssen sie nicht so lange Gebetszeiten halten, dass darunter ihre Aufgabe, das Studium, leidet.⁵ Ignatius sieht die Gefahr, dass durch eine bestimmte Weise des Gott-Suchens, nämlich durch lange Gebetszeiten, das Tun des Willens Gottes zu kurz kommt. In diesem Sinne reagiert er äußerst scharf gegenüber einem Vorstoß für längere Gebetszeiten.⁶ Viele seiner Briefe enden mit der Bitte, seine göttliche Majestät „möge uns ihre Gnade in Fülle geben, damit wir ihren höchsten Willen verspüren und ihn gänzlich erfüllen.
⁷
Die Gegenwart Gottes zu erfassen suchen auf der einen Seite und den Willen Gottes erkennen und erfüllen wollen auf der anderen Seite, gehen offenbar nicht immer Hand in Hand, sondern können auch in einer Spannung zueinander stehen. Nach meinem Eindruck wird heute mehr das Finden der Gegenwart Gottes betont und weniger das Finden und Erfüllen seines Willens. Das mag u.a. damit zusammenhängen, dass oft zu leichtfertig etwas als Wille Gottes ausgegeben wird.⁸ So wurde beispielsweise mit den Worten „Gott will es!" zu den Kreuzzügen aufgerufen. In jüngster Zeit erfahren wir von der vielfältigen Gewalt, die im Namen Allahs (des Allerbarmers) ausgeübt wird. Dennoch wird man das Erfahren von Gottes Gegenwart nicht von der Frage trennen können, was sich aus der Verbundenheit mit Ihm für die Lebensgestaltung ergibt. Andernfalls würde man leicht bei einem unverbindlichen Gefühl stehen bleiben. Wo bzw. wie finde ich Gott? – Was kann ich als seinen Willen für mich erkennen? Das sind zwei verschiedene Fragerichtungen. In welcher Weise sie zusammen gehören und sich ergänzen, ist Thema der nachfolgenden Ausführungen. Es geht dabei auch um die Frage nach dem Zusammenhang von Kontemplation und Aktion.
Das Leben des Ignatius als Beispiel
Beide Sichtweisen sind schon am Beginn der Lebenswende des Ignatius präsent. In der Zeit seiner Rekonvaleszenz im heimatlichen Schloss in Loyola nach der schweren Verwundung bei der Verteidigung der Festung Pamplona hatte er zwei Bücher zur Verfügung: eine Sammlung von Heiligenlegenden und ein Buch mit Betrachtungen zum Leben Jesu. Sich da hinein zu vertiefen weckt in ihm eine Liebe und Großmut (vgl. BP 14; GGJ 22). Die Heiligenlegenden wiederum zeigen ihm, wie ein Leben in der Nachfolge aussehen kann, und sie wecken in ihm den zunächst noch unerleuchteten Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun oder sie womöglich zu übertreffen. Darin steckt aber die Frage nach dem Willen Gottes, den er erfüllen will und den er immer besser zu erfassen lernt. Zunächst bedeutet es für ihn, sich von seinem Stand als Adeliger, von seiner Familie und von den bisherigen Zielen und Werten zu trennen und eine neue Lebensweise anzunehmen. In dieser Absicht kommt er zum Benediktinerkloster Montserrat, wo er zusätzlich zum Ablegen einer Lebensbeichte die Zeichen seines bisherigen Lebens zurücklässt: Kleid, Schwert und Dolch. Bettelnd zieht er weiter, auf die nicht planbare Hilfsbereitschaft anderer angewiesen. Es ist für ihn ein Experiment des Vertrauens auf Gott, wie aus den Überlegungen zur Fahrt ins Heilige Land hervorgeht (BP 35; GGJ 36). Zunächst ist er in Manresa, wo er sich ca. elf Monate aufhielt, herausgefordert, Vertrauen zu lernen, weil er mit dem Versuch, durch eigenes Bemühen die Fehler seines bisherigen Lebens vollständig hinter sich zu lassen, an kein Ende kam. Er geriet vielmehr in Skrupel, die ihn an den Rand des Selbstmordes brachten. Hier, an der Grenze eigenen Wollens und Könnens, erfuhr er die Hilfe Gottes, der ihn wie aus einem Schlaf erwachen und die innere Dynamik seiner Skrupel erkennen ließ.
Unter den zahlreichen Visionen, die ihm in der Folge in Manresa geschenkt wurden, ragt eine besonders hervor: die Vision am Fluss Cardoner. „Als er so dasaß, begannen sich ihm die Augen des Verstandes zu öffnen: Und nicht, dass er irgendeine Vision gesehen hätte, sondern er verstand und erkannte viele Dinge, sowohl von geistlichen Dingen wie von Dingen des Glaubens und der Wissenschaft. Und dies mit einer so großen Erleuchtung, dass ihm alle Dinge neu erschienen (…) Und dies bedeutete, in so großem Maß mit erleuchtetem Verstand zu bleiben, dass ihm schien, als sei er ein anderer Mensch und habe eine andere Erkenntnisfähigkeit, als er zuvor hatte." (BP 30; GGJ 33f.) Ignatius zählt diese Vision zu den Ereignissen, die zeigen, wie Gott ihn in Manresa in der Art eines Schullehrers unterrichtet hat. Ihnen stehen die Beispiele gegenüber, mit denen er gezeigt hat, wie blind er trotz seiner Liebe und Großmut zunächst gewesen war und ohne inneres Verständnis einfach nachahmen wollte, was verschiedene Heilige vor ihm getan hatten. Nun scheint er dieses innere Verständnis gefunden zu haben. Er gab er in der Folge sein intensives Bemühen auf, Menschen zu finden, die ihn hätten unterweisen können. Er mäßigte seine Bußübungen, versuchte offenbar nicht mehr, die Heiligen nachzuahmen bzw. zu übertreffen. Wie wir aus Zeugnissen seiner engen Vertrauten erfahren können, erlangte Ignatius in der Vision am Cardoner eine Zusammenschau der Mysterien des christlichen Glaubens, und diese beinhaltete einerseits ein Wissen über Gott, anderseits einen Blick auf die Welt im Lichte Gottes, und das heißt, über die Auseinandersetzung zwischen den Mächten auf der Seite Gottes und jenen, die ihm entgegenstehen.⁹ Zwischen diesen Mächten muss der Mensch sich entscheiden. In den Exerzitien hat sich das Wissen über diese fortwährende Auseinandersetzung v.a. niedergeschlagen in der Betrachtung über den Ruf des Königs (GÜ 91–100; GGJ 144–146) und über die zwei Banner/Heerlager (GÜ 136–148; GGJ 160–166).
Am Ende seines Aufenthalts in Manresa ist Ignatius entschieden, ins Heilige Land zu reisen und dort zu bleiben. Dieses Vorhaben, von dessen Sinnhaftigkeit und Konformität mit dem Willen Gottes er überzeugt war, stößt auf unerwartete Schwierigkeiten. In Jerusalem wird er vor die Wahl gestellt, zurückzufahren oder exkommuniziert zu werden. Ignatius, der seinem inneren Impuls gefolgt war, stößt nun auf äußere Grenzen. Sie werden ihm von der Kirche gesetzt.
Die Kirche als Ort, den Willen Gottes zu leben
Ignatius ignoriert diese Grenzen nicht, er rebelliert auch nicht gegen sie, sondern gehorcht. Für ihn ist dieses Hindernis ein äußeres Zeichen dafür, dass es – zumindest jetzt – nicht der Wille Gottes ist, im Heiligen Land zu bleiben. Unter dem Banner Christi zu dienen war für ihn nur in der Kirche vorstellbar. Er erkennt, dass es nicht (mehr) möglich ist, Jesus äußerlich vollständig nachzuahmen. Er muss nun von neuem nach dem Willen Gottes fragen. Ausgehend von seinem Grundanliegen, den Seelen zu helfen, entschließt er sich, dasjenige zu tun, was ihn im Raum der Kirche dazu befähigen soll: Er beginnt zu studieren. Die Frage nach dem Willen Gottes wird ihn weiter begleiten, sie wird ihn an die Universitäten von Alcalá, Salamanca und Paris führen, wird ihn zur prägenden Gestalt einer Gruppe von Gefährten machen. Mit ihnen wird er nach Rom gehen und sich dem Papst für Sendungen zur Verfügung stellen. Auf dem Weg dorthin erfährt er in einer Vision im Kirchlein von La Storta vor den Toren Roms die Bestätigung für den eingeschlagenen Weg: Gott, der Vater, gesellt ihn seinem Sohne zu, und dieser sagt: „Ich will, dass du uns dienst." (GGJ 79, Anm. 279)
In der Überlegung der Gefährten, in welcher Weise sie weiter miteinander verbunden bleiben wollen, sehen sie sich auf ihrem Weg von Gott geführt, von ihm durch ein Band miteinander verbunden (GGJ 291–296). Und in dieser Verbundenheit wollen sie auch einem unter sich Gehorsam leisten. Damit ist von ihrer Seite der entscheidende Schritt zur Bildung eines neuen Ordens innerhalb der Kirche geschehen. Es ist aber kein gerader Weg, der Ignatius und die Gefährten dahin geführt hat, eher so, dass sie sich Schritt