Aufrichten in Würde: Methoden und Modelle leiborientierter kreativer Traumatherapie
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Buchvorschau
Aufrichten in Würde - Gabriele Frick-Baer
1
Annäherung
Ich widme dieses Buch den Menschen, die ein Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
Meine therapeutischen Erfahrungen beruhen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, auf der Arbeit mit erwachsenen Frauen, die als Kinder und Jugendliche tiefe Verwundungen davongetragen haben, mitten in Deutschland, mitten in normalen, sprich: sozial unauffälligen, meist sogar gut „angesehenen" Familien. Sie haben den Krieg, den Terror und den Horror innerlich erlebt und müssen ihn oft noch tagtäglich weiter erleben mitten in einer Zeit, die gesellschaftlich und politisch gesehen eine Zeit des Friedens ist. Ich bin voller Hochachtung, wie diese Klientinnen und Klienten ihr Leben meistern, und danke ihnen, dass ich von ihnen lernen durfte und darf. Sie verdienen den Schutz ihrer Intimität, wenn über sie geschrieben wird. Diese Intimität in diesem Buch zu wahren und zu gewährleisten – darum werde ich mich bemühen. Wenn ich ihre Erfahrungen mitteile, selbstverständlich anonymisiert und verfremdet, dann nicht, um das Leiden ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren, sondern nur deshalb und in dem Maße, wie es mir unerlässlich erscheint, um Wege der Unterstützung aus dem Schrecklichen aufzuzeigen. Ich hoffe, ich erweise mich dieser Menschen als würdig.
Dieses Buch ist geschrieben für Therapeutinnen und Therapeuten, die mit diesen Menschen arbeiten. Traumahilfe umfasst Traumatherapie und Traumabegleitung. Dieses Buch soll deshalb, so wünsche ich es mir, auch anderen, die traumatisierten Menschen helfend, begleitend und beratend zur Seite stehen, Einsichten bestätigen und vertiefen helfen, Perspektiven eröffnen und Anregungen geben. Es richtet sich an alle Kolleginnen und Kollegen, an die Frauen und Männer mit den unterschiedlichsten beruflichen Identitäten, die persönlich-professionelle Erschütterungen in Kauf nehmen, um den Menschen, die „aus der Welt gefallen sind", auf ihrem Weg (zurück) ins Leben zur Seite zu stehen. Ich hoffe, auch ihnen erweise ich mich als würdig.
Der Weg von Menschen, die sexueller Gewalt ausgesetzt waren, führt, wenn er heilsam gelingt, vom „Traumaopfer zur oder zum „Traumaüberlebenden
, wie u. a. Michaela Huber formuliert. Wie unterschiedlich dieser Weg und seine Bezeichnung für jede und von jeder einzelne/n Person auch ist, so gibt es doch eine Leitorientierung, die für Therapeut/innen und ebenso für die Klient/innen wegweisend sein kann. Wir, meine Kolleg/innen und ich, die sich den grundlegenden Werten der Kreativen Leibtherapie verpflichtet fühlen, nennen die Leitorientierung: „in Würde aufrichten".
Sexuelle Gewalt ist erniedrigend, der Weg des Verarbeitens und der Loslösung aus dem Trauma ist ein Weg des Aufrichtens. Auch andere traumatische Erfahrungen, denen Gewalt und der Verlust des Vertrauens und Selbstvertrauens innewohnt, führen zu Gefühlen der Erniedrigung, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins; auch die hiervon Betroffenen brauchen den Weg des Aufrichtens.
Aufrichten ist das Erleben, aus der Ohnmacht und Erstarrung wieder in Bewegung zu kommen, sich wieder rühren zu können. Aufrichten ist das Erleben, wieder zu stehen, wieder den Kopf zu heben, wieder der Welt in die Augen zu sehen.
Aufrichten heißt, sich körperlich wieder als durchlässig zu spüren, von unten nach oben und von oben nach unten, den Körper bzw. das Körperempfinden als zu sich selbst gehörend, als eigen, zurückzugewinnen.
Aufrichten ist der Prozess, aufrichtig werden zu können, mit sich und mit anderen, durch das Misstrauen, die Angst und die Scham hindurch und mit Misstrauen, Angst und Scham.
Aufrichten bedeutet zu spüren, wer das ist, wenn „ich ‚Ich’ sage".
Aufrichten braucht einen Boden, auf dem ein Mensch stehen kann.
Aufrichten braucht Rückendeckung und ein aufrichtiges bzw. aufrichtige Gegenüber und eine Umgebung, die Freiheit für die Entwicklung von Eigen-Sein ermöglicht und Halt gibt.
In Würde aufrichten bedeutet nicht, sich aufzurichten um jeden Preis, sondern bedeutet auch, sich wegducken zu können, wenn es hilfreich ist, um sich zu schützen. Kämpfen, sich wehren, fliehen, sich verstecken, sich erwärmen für bestimmte wohltuende Menschen und anderen die kalte Schulter zeigen, all das kann „in Würde aufrichten" beinhalten. Nicht verhärten, sondern Härte zeigen gegen Entwürdigung. Nicht zerfließen, aber weich bleiben oder weich werden.
Diese Leitorientierung hilft uns Therapeut/innen. Sie hilft auch den Menschen, mit denen wir arbeiten. Sie und wir stellen uns bei schwierigen Entscheidungen die Frage: Hilft die mögliche Lösung genau diesem bestimmten Menschen, sich in Würde aufzurichten, oder nicht? Hilft es z. B. diesem einzelnen Menschen zum Wiedererlangen seiner Würde, vor den Täter hinzutreten und ihn anzuklagen? Oder würde die Würde, die Aufrichtigkeit, eher an der Härte und grausamen Uneinsichtigkeit des Gegenübers zerschellen?
Wir achten die Kompetenz der Klient/innen zu entscheiden, welchen Schritt in der Therapie, in der Traumabewältigung sie gehen können und wollen. Die Haltung der Klient/innen-Kompetenz ist eine Voraussetzung dafür, den Weg des Aufrichtens zu beschreiten. Bevormundung, mag sie noch so gut gemeint sein, erniedrigt oder hält unten. Zu ermutigen und zu stützen, was oft und gerade in der Arbeit mit traumatisierten Menschen nötig ist, mit Erfahrungen, Meinungen und Ideen zur Bewältigung nicht hinter dem Berg zu halten, sondern sie den Klient/innen zur Verfügung zu stellen, damit sie für sie Sinnvolles auswählen können, ist etwas anderes als Bevormundung. Doch dazu später.
Der Prozess des Aufrichtens bedarf der Begleitung und des Halts. Wenn Menschen sexuelle Gewalt erfahren oder andere traumatisierende Situationen durchleben mussten, waren sie und fühlten sie sich allein. Und nach solchen Erfahrungen wurden sie erst recht oft allein gelassen, wurden sie nicht gesehen und nicht gehört, sollte allzu oft der Mantel des Schweigens über das Geschehene, über das Leiden ausgebreitet werden. Besonders, wenn dem „kindlichen Ich" Gewalt angetan wurde und wird, versteht es die Welt nicht mehr und verliert jedes Verständnis für sich im Bezug zur Welt. Wenn dann niemand da ist, der oder die das Geschehene zurechtrückt, Täter und Opfer als solche benennt, das Unfassbare begreifbar macht, bleibt das Verständnis und Selbstverständnis auf der Strecke.
Wer kein Verständnis erlebt, kann auch kein Verständnis für sich gewinnen. Viele Opfer sexueller Gewalt haben nicht nur die Erinnerung an das traumatische Geschehen oder Teile davon verdrängt, sondern auch das Verständnis für sich verloren. „Verständnis beinhaltet „Verstehen
: warum sie so sind, wie sie sind; warum sie so handeln, wie sie handeln; warum sie so fühlen, wie sie fühlen. Das Ringen um Verstehen, die Suche nach Verständnis, ist oft ein verzweifelter Prozess auf Seiten der Klient/innen. Wir Therapeut/innen haben es viel leichter mit dem Verstehen: Was sich für uns als folgerichtiges Lebensmuster aus der erfahrenen Traumatisierung darstellt, was uns zutiefst verständlich ist, ist für die Klient/innen alles andere als selbstverständlich. Das müssen wir wissen und beachten und in diesem Prozess müssen wir beharrliche Anwälte des Verstehens bleiben. „Verständnis" meint noch etwas, was über Verstehen hinaus geht: das Mitgefühl. Und das ist den traumatisierten Klient/innen oft verloren gegangen – wohlgemerkt: nicht das Mitgefühl für andere, aber das Mitgefühl für sich selbst. Mit neutraler Stimme und unbeteiligter Miene erzählen sie von dem Schrecklichen und Erniedrigenden, das ihnen widerfahren ist, als ob es das Normalste von der Welt wäre.
Erst wenn wir als Therapeut/innen und beteiligte Menschen Mitgefühl für ihr Leiden zeigen, kann ein Prozess beginnen, in dem sie selbst Mitgefühl für sich und für das Kind oder die junge Heranwachsende, die sie einmal waren, und für die, die sie heute sind, entwickeln.
Dieses Buch handelt von Verständnis in diesem doppelten Sinn. Es ist zwar auch aus Forschungsaktivitäten (qualitative Interviews mit traumatisierten Menschen und systematischer Auswertung von Therapieprozessen) entstanden, vor allem aber ist es Resultat des gemeinsamen Ringens um Verständnis. Das meiste, was ich gelernt habe und in diesem Buch weitergeben möchte, habe ich in den Begegnungen mit den Klient/innen gelernt.
Verständnis ist der Beginn des Aufrichtens, ein weiterer und oft schwieriger Weg folgt. Ich bitte die Klient/innen immer wieder zu überprüfen: „Ist der Weg, den wir einschlagen, immer noch der richtige für Sie?" Der Weg des Aufrichtens braucht Pausen und Innehalten genauso wie mutige Sprünge nach vorn. Er beschäftigt sich mit dem Hier und Jetzt des Alltagslebens und er führt zur Begegnung mit dem Schrecken des Erfahrenen. Dieser Weg braucht Zuversicht. Manchmal, wenn der Klientin oder dem Klienten die Zuversicht zeitweilig abhanden kommt, bin ich es, die stellvertretend für sie die Zuversicht hat und hält. In einer vertrauensvollen Beziehung ist das manchmal und phasenweise der einzige Lichtblick und Orientierungspunkt in Verwirrung, Verzweiflung und Dunkelheit.
Mein Leitsatz, der es mir möglich macht, Menschen auf diesem Weg durch den Schrecken zu begleiten, lautet:
„Schrecklicher als damals, nicht einmal so schrecklich wie damals, kann es nicht werden. Denn jetzt sind Sie nicht mehr allein damit. Jetzt passe ich auf, dass Ihnen nichts passiert."
Wenn wir diesen Satz einer Klientin oder einem Klienten sagen und aufrichtig meinen, hat er Wirkung. Zum Schrecken des Traumas, hilflos sexueller Gewalt ausgeliefert gewesen zu sein, kommt und kam vor allem der Schrecken des Alleinseins und des Alleingelassen-Werdens. Dies zu durchbrechen, Halt und Unterstützung anzubieten und mitfühlende Begleitung in den Dienst der therapeutischen Arbeit zu stellen, hilft beim Prozess des Aufrichtens und ist somit ein zentraler Leitsatz meiner Arbeit und der meiner Kolleg/innen.
Am Herzen liegt mir und uns ferner:
Wir stehen auf der Seite der Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, mitfühlend und parteilich, unterstützend und aufrichtend. Das sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht.
Wir betrachten die Folgen traumatischen Erlebens, wie z. B. Dissoziationen, nicht als Krankheit, sondern als eine produktive, kreative Lösung, die es ermöglicht, in und nach einer als existenziell bedrohlich und unaushaltbar erlebten Situation weiterleben zu können (s. auch Becker 1992 und 2006). Das Leiden der Betroffenen, das sich aus diesen Bewältigungsstrategien ergibt, bedarf therapeutischer Begleitung, wenn sie chronisch werden und das Leben beeinträchtigen.
Wir verstehen uns als Teil der Strömung engagierter Therapeutinnen und Therapeuten, die sich, oft in Engagement und Fachlichkeit auf Judith Herman beziehend, um die Entwicklung und Verbreitung spezieller und würdigender Therapieansätze verdient gemacht haben (Huber, Reddemann und viele andere mehr).
Wir stützen uns auf die Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie, die seit Mitte der 90er Jahre einen enormen Aufschwung des Interesses fand und zahlreiche für Diagnostik, Therapie und sonstige Hilfen wichtige Einsichten hervorbrachte (Fischer/Riedesser, van der Kolk, Farlane, Horowitz, Keilson und viele andere mehr). Der besseren Lesbarkeit willen bin ich mit Zitaten und Literaturverweisen in diesem Buch sehr sparsam umgegangen. Ich verweise auf das Literaturverzeichnis und v.a. auf eine in Vorbereitung befindliche Veröffentlichung, die ausführlich auf den Forschungsstand Bezug nehmen wird.
Was wir beitragen wollen und können, sind v.a. Modelle, Methoden und Erfahrungen kreativer Therapien. Wenn Worte allein nicht reichen, können die Ausdrucks- und Kommunikationsweisen des Tanzes, des Musizierens, des Gestaltens und der Poesie das Ungesagte und das Unsagbare hervorbringen und neue Wege des Heilens ermöglichen. Das ist unsere Erfahrung, seit wir mit Opfern sexueller Gewalt und anderer traumatisierender Erfahrungen arbeiten. Die Forschungen der Psychotraumatologie haben gezeigt, dass das Erleben vieler Traumaopfer einfriert und in Fragmente zerfällt und so verbalen Dialogen und Erzählstrukturen nicht zugänglich ist. Oft muss also über die Ebene des Verbalen hinausgegangen und an den bildhaften und anderen sensorischen Qualitäten der Fragmente angeknüpft werden. Wir haben seit vielen Jahren beobachtet, dass hier kreative Therapie in einem Maße hilft, dass ich mir eine Traumatherapie und -begleitung ohne kreativ-therapeutische Methoden kaum noch vorstellen kann.
Doch mit diesem Buch verfolge ich den Anspruch, über die Vermittlung praktischer kreativ-therapeutischer Methoden hinauszugehen bzw. sie in Verbindung zu bringen mit den grundlegenden therapeutischen Werten, Haltungen und Modellen, denen sie entspringen. Um in Worte zu fassen, was in den kreativ-therapeutischen Prozessen geschieht und wie kreative Therapien wirken, haben wir unsere theoretischen Modelle entwickelt bzw. vorhandene weiterentwickelt. Da kreative Therapie immer ein Prozess des Erlebens ist, waren die leib-phänomenologischen Gedanken von Merleau-Ponty, Fuchs und anderen Philosophen („Leib kommt vom indogermanischen „lip
oder „lib und bedeutet „Leben, Erleben, der erlebende Mensch
, ist also nicht mit „Körper" gleichzusetzen) ein besonders fruchtbarer Boden. Darüber hinaus haben Erkenntnisse und Modelle der Säuglingsforschung und der Neurowissenschaften viele der Erfahrungen kreativ-therapeutischer Prozesse bestätigt und vertieft. Aus diesen Auseinandersetzungen sind theoretische Modelle hervorgegangen, die dann wiederum unsere Praxis bereichert und die Entwicklung neuer praktischer Methoden angeregt haben.
Wir haben diesem Ensemble den Namen Kreative Leibtherapie gegeben. Einige unserer theoretischen Grundlagen, unsere Modelle Kreativer Leibtherapie wie z. B. Erregungskonturen, Primäre, Konstitutive und Raum- und Richtungs-Leibbewegungen haben sich aus der Verbindung der genannten Quellen, aus unserer eigenen therapeutischen Ausbildung mit unserer therapeutischen Praxis entwickelt. Unsere Erfahrungen haben wir sowohl in der Einzeltherapiepraxis als auch in den kreativ-therapeutischen Ausbildungsgruppen gesammelt, die mein Mann und ich geleitet haben.
Wir haben ein großes Interesse am Lehren, an der Nachvollziehbarkeit und Transparenz von therapeutischen Prozessen, und wir haben viel Neugierde und Freude an dem, was Kolleg/innen und Therapie-Lernende an eigenem Stil daraus entwickeln. Das Erleben jedes einzelnen Menschen in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, birgt Überraschungen, die keine therapeutische Einheit wie eine andere sein lässt. Und dennoch gibt es Erfahrungen, die wir jetzt schon über 20 Jahre machen dürfen, die sich bündeln lassen und als Modelle einen theoretischen Boden und Orientierungsrahmen bilden, die dann in den kreativen Methoden ihren Ausdruck finden.
An dieser Stelle muss und will ich meinem Mann Udo Baer meine Wertschätzung aussprechen: für sein leidenschaftliches Interesse am Wachstum von Menschen, für sein Engagement im Dienste der Heilung ihrer Verletzungen und für seine Leistung in der theoretischen Fundierung und Didaktik Kreativer Leibtherapie aussprechen.
Ohne seine unterstützende, mich aufrichtende, Mut machende Haltung und seine freigiebige und unermüdliche Diskussionsfreude ist die Entstehung dieses Buch undenkbar. Es ist in weiten Teilen im Grunde ein gemeinsames. Aber ergänzend z. B. zu unserem Fachbuch „Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und Modelle leiborientierter Tanztherapie (Baer, Frick-Baer 2001/08) oder dem musiktherapeutischen Fachbuch, „Klingen, um in sich zu wohnen
(Baer, Frick-Baer 2004) und den anderen gemeinsam herausgegebenen Büchern und Artikeln sowie dem Fortbildungsskript zur Kreativen Traumatherapie und -begleitung ist dieses Buch mein Versuch, den Besonderheiten der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Menschen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, Bedeutung und Gewicht zu geben. Mein aufrichtiges Anliegen ist es, meinen Anteil, so gut ich es vermag, dazu zu tun, dass diese Menschen im therapeutischen und begleitenden Prozess Unterstützung finden, sich aufzurichten.
Kreative Traumatherapie kann mit anderen Verfahren, die auf einem humanistischen Menschenbild beruhen, verbunden werden. Therapeut/innen dieser anderen Richtungen, die in ihrer professionell-persönlichen Haltung grundsätzlich am Erleben der Klient/innen, an ihrer Innenwelt und nicht an ihrer Erziehung interessiert und orientiert sind und den therapeutischen und helfenden Prozess als Resonanz- und Beziehungsentwicklungsprozess begreifen, können von ihr sicherlich professionell-persönlichen Gewinn haben. Auch wenn Kreative Leibtherapie als „Mutter" der Kreativen Traumatherapie eine fundierte, eigene Richtung ist, so ist sie offen für Integrationsbewegungen und bemüht sich um einen fruchtbaren Austausch. Abgrenzung gilt nicht anderen Verfahren, sondern Verletzungen der Würde.
2
Das Traumaerleben und seine Folgen
2.1 Spuren und Phänomene
Die Traumatherapie und -begleitung soll und will Heilungsprozesse bei Menschen unterstützen, die an den Folgen traumatischer Erfahrungen leiden. An den Erscheinungsformen dieses Leidens, an dessen Phänomenen, gilt es anzuknüpfen, will man die betroffenen Menschen ernst nehmen. Dabei darf und soll es nicht bei einer Aufzählung der Phänomene bleiben. Die Aufmerksamkeit muss sich auf die Untersuchung der inneren Zusammenhänge zwischen den Phänomenen und dem Erleben der traumatischen Situationen richten. Ich werde die Untersuchung des Traumaerlebens und seiner Folgen damit beginnen, Phänomene darzustellen, mit denen Klient/innen v.a. in der Anfangsphase einer Therapie und dann, wenn sie nicht ausdrücklich wegen ihres Traumas Hilfe suchen, ihr Leiden beschreiben. Ich werde diesen Spuren folgen und von dort aus werde ich Verbindungen zum Erleben der traumatischen Situationen ziehen.
Jedes Phänomen des Erlebens eines Menschen kann in Verbindung mit Erfahrungen sexueller Gewalt stehen und als ein Symptom der Traumafolgen auftreten. Dies ist wichtig zu wissen, um sich immer wieder offen auf die Begegnung mit den Klient/innen einstellen zu können, deren Erleben ernst zu nehmen und deren Kompetenz zu achten. Die Symptomsammlungen des Posttraumatischen Stresssyndroms und anderer diagnostischer Klassifizierungen sind wichtige Hinweise und müssen als Anhaltspunkte herangezogen werden. Gegenüber solchen und ähnlichen Sammlungen ist dennoch Vorsicht angesagt. Selbstverständlich lässt nicht jedes einzelne Symptom auf Erfahrungen sexueller Gewalt oder anderer traumatischer Erfahrungen schließen, auch nicht jede Häufung mehrerer Symptome. Ebensowenig ist das Nicht-Vorhandensein bzw. Nicht-Offensichtliche „klassischer" Symptome ein Hinweis darauf oder ein Beweis dafür, dass dem betroffenen Menschen keine sexuelle Gewalt widerfahren ist. Zu individuell ist die Verarbeitung biografischer Erfahrungen in jeder Persönlichkeit, zu subjektiv ist jedes Leiden. Symptome geben keine Gewissheiten, sie sind eher Spuren, die zu Fragen und Suchbewegungen Anlass geben.
Es sind gerade am Anfang der therapeutischen Begegnung häufig nicht Symptome des Posttraumatischen Stresssyndroms oder sonstige offenkundige „Traumathemen (wie gestörte Sexualität, Flashbacks, Schlaflosigkeit, Ängste …), die im Erzählen der Klient/innen im Vordergrund stehen, sondern oft „harmloser
und alltäglicher daher kommende Phänomene, die allerdings nichtsdestoweniger im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Trauma stehen und die Qualitäten des Traumaerlebens beleuchten.
Das häufigste, worüber traumatisierte Klient/innen nach meinen Erfahrungen in einem Erstgespräch klagen, ist ihr mangelndes oder fehlendes Selbstwertgefühl. Dies äußert sich im Großen wie im Kleinen, bei besonderen Herausforderungen des Lebens wie im Alltag. Selbstverständlich ist der Umkehrschluss unzulässig, dass mangelndes Selbstwertgefühl immer oder meistens auf traumatische Erfahrungen schließen lässt. Doch auf der Skala der Phänomene, an denen Menschen mit Traumata leiden, scheint mir das geringe Selbstwertgefühl die „Nummer 1" zu sein. Mögen es manche Klient/innen auch hinter scheinbar selbstsicherem Auftreten oder beruflichem Erfolg verbergen, so ist die Selbstverunsicherung und oft Selbstabwertung doch das, was sie innerlich erleben. Wenn der innere Kampf dagegen und die Anstrengung, diesen Spagat aufrechtzuerhalten, zu groß und zu auslaugend werden, führt dies oft zum Schritt in die Therapie.
Dass das Selbstwertgefühl bei Opfern traumatischer Erfahrungen und insbesondere sexueller Gewalt gemindert und gestört ist bzw. als zerstört erlebt wird,