Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie
By Tibor Zenker
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Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie - Tibor Zenker
Tibor Zenker:
Sherlock Holmes und die ägyptische Mumie
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Isabella Starowicz
Satz: Sophia Stemshorn
ISBN gedruckte Ausgabe 978-3-99001-502-5
ISBN E-Book 978-3-99001-503-2
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
INHALT
SHERLOCK HOLMES UND DIE PROLETARISCHE REVOLUTION
SHERLOCK HOLMES UND DIE KÖNIGLICHEN GÄRTEN
SHERLOCK HOLMES UND DAS WASSER DES LEBENS
SHERLOCK HOLMES UND DER JAPANISCHE GESANDTE
SHERLOCK HOLMES UND DER FLUCH DES VAMPIRS
SHERLOCK HOLMES UND DIE ÄGYPTISCHE MUMIE
SHERLOCK HOLMES UND DIE PROLETARISCHE REVOLUTION
A m 16. März 1883 waren wir zu einer vertraulichen Unterredung in die Regent’s Park Road 122 in Primrose Hill geladen. Es ging um einen potenziellen Auftrag, dessen Tragweite wir zwar noch nicht erahnen konnten, der jedoch bald Holmes’ Interesse wecken sollte.
Wir fanden uns im Büro eines Angehörigen einer deutschen Unternehmerfamilie aus Barmen, Rheinpreußen, wieder, die zwischenzeitlich ihre Geschäftstätigkeit auch auf England ausgedehnt hatte. Der ältere Herr mit langem Philosophenbart, der uns nun gegenübersaß, war mir jedoch nicht als Vertreter der Textilindustrie bekannt, sondern – ganz im Gegenteil – als prominenter Kritiker unseres Wirtschaftssystems. Seine frühe Studie zur »Lage der arbeitenden Klasse in England«, obwohl nur teilweise in unserer Sprache vorliegend, war mir während meiner Ausbildung begegnet, lieferte sie doch erste Ansätze zu sozialmedizinischen Überlegungen. Holmes hingegen machte mir bei der Begrüßung nicht gerade den Eindruck, als wüsste er, mit wem er es zu tun hatte.
»Sie müssen wissen«, erklärte ich, an Holmes gewandt, »Mr. Frederick oder eigentlich Friedrich Engels ist ein bekannter Proponent des so genannten wissenschaftlichen Sozialismus, ein Theoretiker des Kommunismus. Sein Werk hat große politische Bedeutung, weit über England hinaus.«
Holmes verzog keine Miene. »Mhm«, brummte er und quittierte meine Darlegung mit einem schlichten Kopfnicken.
»Zu viel der Ehre«, begann nun Engels in professionellem, aber in der Aussprache immer noch recht deutschem Englisch. »Es war vielmehr mein guter Freund Karl Marx, der die Zusammenhänge von Ökonomie und Gesellschaft, von Klassenkampf und Revolution entdeckte und wissenschaftlich begründete. Da habe ich zeitlebens nur die zweite Geige gespielt. Und dies mit aller Demut und Dankbarkeit.«
Mir war freilich nicht entgangen, dass besagter Herr Marx eben erst vor zwei Tagen in seiner Wohnung in der Maitland Park Road verstorben war. Bevor Holmes: »Bitte wer?«, fragen konnte, versicherte ich rasch: »Unsere aufrichtige Anteilnahme zum Tod Ihres Kollegen und Freundes.«
Nun begannen Holmes’ graue Zellen sofort zu arbeiten: »Hegen Sie etwa den Verdacht«, fragte er, »dass Mr. Marx keines natürlichen Todes gestorben ist? Sind wir hier, um ein mögliches Kapitalverbrechen zu untersuchen?«
»Ein Verbrechen liegt wohl vor«, antwortete Engels, »doch bezieht es sich keineswegs auf das unmittelbare Ableben von Herrn Marx. Er war fast die ganze Zeit über hier im Londoner Exil krank, äußerlich und innerlich. Zigarren, Alkohol und rücksichtslose Nachtarbeit, Raubbau an der eigenen Gesundheit taten das Ihrige – nein, es ist äußerst bedauerlich und ein schwerer Schlag für das Proletariat der ganzen Welt, dass Marxens Schaffen allzu früh beendet wurde, aber keine große Überraschung.«
»Die Todesursache gibt also keinerlei Anlass zur Hinterfragung?«, warf ich ein.
Engels schüttelte den Kopf. »Keinesfalls, Dr. Watson«, sagte er. »Magen, Leber, Haut und Lunge waren angegriffen. Diverse Kuraufenthalte – von Karlsbad bis Algier – brachten nur begrenzte oder vorübergehende Linderung. Schlussendlich erlag Marx einer entschiedenen Bronchitis. Dies ist auch im Totenschein vermerkt.«
»Nun, wenn dem so ist«, entgegnete ich, »dann verstehe ich noch nicht so ganz, worin unsere Aufgabe besteht. Welcher Art ist denn das Verbrechen, das Sie unsererseits zu untersuchen wünschen?«
Engels zögerte einige Sekunden und strich sich über den Bart, ehe er antwortete: »Diebstahl. Es handelt sich um einen Diebstahl.«
Es war schon damals ein offenes Geheimnis, dass Karl Marx durchgängig in prekären finanziellen Verhältnissen gelebt hatte, weswegen ihn Engels immer wieder mit erheblichen Geldbeträgen unterstützen musste. Daher erschloss sich mir nicht unmittelbar, welch wertvollen Gegenstand man denn aus seinem Besitz hätte entwenden können. Dementsprechend hakte ich nach:
»Meines Wissens, Herr Engels, beschränkte sich das Eigentum von Herrn Marx auf eher wenige Güter«, meinte ich.
»Ganz recht«, antwortete Engels und tippte sich an die Schläfe. »Sein Reichtum befand sich in seinem Kopf. Seine Gedanken, seine Erkenntnisse sind unbezahlbar. Seine Arbeiten verfügen über mehr Wert als die königlichen Kronjuwelen, die schlussendlich lediglich einen Preis haben.«
Holmes war mit seiner Geduld langsam am Ende: »Werter Herr Engels! Hätten Sie nun endlich die Güte, uns mitzuteilen, was denn in Gottes Namen gestohlen wurde? Es wird ja nicht gerade das Gehirn von Herrn Marx sein, das nun ein Hehler feilbietet…«
Engels legte seine betagte Stirn in Falten. »Verzeihen Sie, Mr. Holmes«, erklärte er, »wenn ich Sie ein wenig auf die Folter gespannt habe und diese Ihre Annahme abermals nicht deutlich verneinen kann. Wie die menschliche Arbeitskraft im Kapitalismus zur Ware wird, so wird es letztendlich auch der menschliche Körper selbst. Und sei es: zur Diebesware. In der Tat ist es der gesamte Leichnam von Karl Marx, der gestohlen wurde.«
Es folgte einer der wenigen Momente, in denen Holmes mit offenem Mund seinem Erstaunen freien Lauf ließ. Ich amüsierte mich innerlich kurz über seine Sprachlosigkeit, durchbrach dann aber das Schweigen.
»Sie wollen also sagen«, fragte ich, »dass der Leichnam verschwunden ist?«
»Ganz recht«, bestätigte Engels. »Er wurde, offenbar in der Nacht auf heute, aus dem Beerdigungsinstitut entwendet.«
»Bemerkenswert«, murmelte Holmes, der sich langsam wieder sammeln konnte. »Wer macht so etwas? Und warum?«
»Nun, meine Herren«, setzte Engels fort, »ich hege die Hoffnung, dass Sie es sein werden, die genau dies herausfinden. Geld spielt keine Rolle – Sie können Ihr Honorar selbst festlegen. Dies zum einen. Zum anderen ist schon für morgen das Begräbnis am Highgate Friedhof angesetzt. Gäste vom Kontinent sind bereits angereist. Es wäre doch einigermaßen unwürdig, wenn wir uns von einem leeren Sarg verabschieden müssten. Insofern gebührt meines Erachtens der Wiederbeschaffung der sterblichen Überreste eine gewisse Priorität.«
»Selbstverständlich«, antwortete ich. »Wenn wir allerdings den Leichnam finden, so führt uns das ohnehin gewiss auch zum Täter.«
Holmes nickte zur Bestätigung, machte dabei aber immer noch ein leicht verträumtes Gesicht, denn der Diebstahl einer prominenten Leiche war ein Fall ganz nach seinem Geschmack: bizarr, mysteriös und mutmaßlich kompliziert.
»Bevor Sie jedoch zur Tat schreiten«, sagte Engels nachdrücklich, wofür er sich auch von seinem Stuhl erhob, »hätte ich noch ein wichtige Bitte. Das Begräbnis von Karl Marx und sein Andenken sind von immenser Bedeutung für die proletarische und sozialistische Bewegung auf der ganzen Welt. Ich möchte Sie daher ersuchen, in dieser Angelegenheit so diskret wie möglich vorzugehen. Die Presse darf davon nichts erfahren.«
»Gewiss, das versteht sich von selbst«, bestätigte Holmes.
Engels hob nun sogar mahnend seinen rechten Zeigefinger: »Da ist noch mehr! Auch die Töchter von Marx, Laura und Eleanor, wissen nichts vom Verschwinden des Leichnams – und so soll es auch bleiben. Die beiden haben binnen kürzester Zeit nicht nur ihren Vater, sondern davor auch schon ihre Mutter und ihre älteste Schwester verloren. Sie sind am Ende ihrer Kräfte. Selbiges gilt für Marxens Haushälterin, Fräulein Helena Demuth.«
»Ich verstehe«, antwortete Holmes. »Da der Leichnam nicht zu Hause verschwunden ist, benötigen wir ohnedies keine Zeugenaussagen. Und als Täterinnen scheiden die drei Damen wohl aus.«
Die letzte, analytisch zweifellos korrekte, aber doch ein wenig unpassende Bemerkung rasch übergehend, brachte ich die Sprache auf den Ausgangspunkt der Ermittlungen: »Wir werden zunächst das Bestattungsinstitut unter die Lupe nehmen, nicht wahr?«
Engels nickte mir zu, nahm eine Visitenkarte vom Schreibtisch und überreichte sie mir: »Bestattung Seelenfried« stand darauf – und eine Adresse in unmittelbarer Nähe des Highgate Friedhofs.
***
Auf der Fahrt nach Camden, wo sich der geradezu monumentale Friedhof auf dem Highgate Hill befand, schwieg Holmes zunächst eine Weile, bis er sich einige Gedanken zurechtgelegt hatte.
Als er endlich aufblickte, fragte ich ihn ungeduldig: »Nun, Holmes, was halten Sie von der Angelegenheit?«
»Offenkundig handelt es sich nicht um eine gewöhnliche Entführung«, antwortete er. »Eine solche zielt üblicherweise auf die Erpressung eines Lösegeldes ab, weswegen das Opfer hierfür tunlichst lebendig zu sein hat. Ich denke nicht, dass wir es mit einem Erpressungsversuch zu tun haben. Ein entsprechendes Schreiben hätte Herrn Engels ja auch bereits vorliegen müssen…«
Ich wartete einige Sekunden darauf, dass Holmes weitere und vor allem zweckmäßigere Überlegungen mit mir teilen würde, doch dies geschah nicht. Unwillkürlich klatschte ich in die Hände und rief: »Und das ist alles? Holmes, wenn Sie mich zum Narren halten wollen…«
»Keineswegs, mein guter Watson«, unterbrach mich Holmes sofort. »Wir wollen lediglich das Unmögliche ausschließen, so offensichtlich es auch sei.«
Ich war noch nicht besänftigt. »Ja, wenn das so ist«, begann ich, »dann können wir wohl noch weitere Szenarien verbannen. Herr Marx wird wohl auch nicht als proletarischer Messias am dritten Tage auferstanden sein, um in den Himmel, an den er nicht glaubt, aufzusteigen. Ebenso wenig wird er als reanimierter jamaikanischer Voodoo-Zombie durch die Straßen Londons trotten.«
Doch Holmes ließ sich nicht provozieren. »Das wollen wir hoffen – um seiner selbst und seiner hinterbliebenen Töchter Willen«, antwortete er trocken. »Und dennoch hat es jemand für zweckmäßig erachtet, den Körper zu stehlen. Wir können jedenfalls festhalten, dass wir mehrere Täter suchen – ein Mensch alleine hätte die Tat nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchführen können, was im Zuge eines nächtlichen Diebstahls, der rasch, unbemerkt und gut organisiert vonstattengehen muss, wenig hilfreich gewesen wäre.«
Zweifellos ein Punkt für Holmes. Damit lagen in der Tat erste Einschätzungen zu den Umständen des Diebstahls vor. Auch konnten wir davon ausgehen, dass die Tätergruppe planmäßig vorging, womit wiederum feststand, dass wir es tendenziell mit Profis zu tun haben würden – und nicht mit einem unüberlegten, impulsiven Akt, der vielleicht nur auf einem makabren Scherz oder dergleichen beruhte.
Unsere Kutsche erreichte schließlich das Bestattungsinstitut Seelenfried, das sich am südlichen Ende der Swain’s Lane befand, die, teilweise steil bergauf führend, den Friedhof in weiterer Folge in eine ältere West- und jüngere Osthälfte teilt, die lediglich durch einen Tunnel verbunden sind.
***
Das Institut war von überschaubarer Größe. Trotz der zahlreichen Beerdigungen, die täglich am benachbarten Friedhof stattfanden, dürfte das Geschäft eher im bescheidenen Ausmaß erfolgreich sein. Daher empfing uns der Inhaber auch persönlich – weitere Angestellte gab es nicht.
Er stellte sich als Jakob Seelenfried vor, ein schon etwas älterer, aus Prag stammender Jude, der hier in London vornehmlich Immigranten, diese jedoch jeder erdenklichen Religion zugehörig, zu seinen »Kunden« zählte.
»Es ist eine Katastrophe!«, stöhnte er, faltete die Hände und blickte gen Himmel respektive Zimmerdecke. »Da hat man einmal im Leben ein Glück mit einer berühmten Leiche, ich meine: mit einer Kundschaft. Man richtet’s schön her, dass sie fesch ist fürs Begräbnis, bettet sie in einen Sarg mit samtener Innenverkleidung, und dann verschwind’s einfach, dir nix – mir nix. Ein so ein Jammer!«
Um Herrn Seelenfrieds innere Ruhe war es offenkundig geschehen. Den Verlust – im wortwörtlichen Sinn – einer Kundschaft, zumal einer sehr wertvollen, schien er nur schwer verwinden zu können.
»Herr Seelenfried«, begann Holmes, »leider müssen wir Ihnen einige Fragen zum bedauerlichen Verlust der Kundschaft Karl Marx stellen.«
»Ja, wenn’s denn sein muss«, antwortete er schicksalsergeben. »Es hilft ja doch nichts.«
»Ist Ihnen denn früher schon mal ein Leichnam abhanden gekommen?«, fragte Holmes.
Der Bestatter reagierte ein wenig empört. »Wo denken Sie hin? In 37 Jahren nicht! Jedermann weiß: Bei Seelenfried können Sie sich beruhigt zur Ruhe betten. Zur ewigen Ruhe. Amen.«
Holmes nickte verständnisvoll und sah sich ein wenig in den Geschäftsräumlichkeiten um. Offensichtlich gab es keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen gegen Einbruch. Die Täter hatten nur das Glasfenster beim Eingang einschlagen müssen, hindurchgreifen und die Tür von innen öffnen. Innerhalb der Lokalität gab es keine weiteren Türen.
»Wie ich sehe«, bemerkte Holmes daher, »schützen Sie Ihr Geschäft nicht besonders gegen unbefugtes Eindringen. Nur ein simples Riegelschloss befindet sich an der Tür.«
Seelenfrieds Miene blieb verdunkelt. »Ja, selbstverständlich