Interdisziplinarität auf der Sekundarstufe II
By Marc Eyer
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Die Struktur der Maturitätsschulen ist in hohem Mass auf Fachdisziplinen ausgerichtet. Dies zeigt sich in der Ausbildung der Lehrpersonen, der Gliederung der Lerninhalte sowie in der Schulorganisation. Dem gegenüber steht der Bildungsauftrag, der eine Vernetzung von disziplinären Inhalten zu einem ganzheitlichen Wissen und Können fordert. Dieses Buch zeigt auf, welchen Beitrag fächerübergreifender Unterricht dazu leisten kann, und gibt Einblick in die Didaktik und in Organisationsformen des interdisziplinären Arbeitens.
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Book preview
Interdisziplinarität auf der Sekundarstufe II - Marc Eyer
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
1 Einführung und Verankerung
1.1 Der Fächerkanon an unseren Schulen
1.2 Der Lehrplan des Abendlandes
1.2.1 Von den Vorstufen des geplanten Lehrens zur Arete und zur Paideia
1.2.2 Der Lehrplan der Sophisten
1.2.3 Platon
1.2.4 Enkyklios Paideia
1.2.5 Septem Artes Liberales
1.2.6 Vom frühen Christentum ins Mittelalter
1.2.7 Humanismus und Reformation
1.2.8 Curriculum Scholasticum
1.2.9 18. und 19. Jahrhundert
1.3 Verankerung der Interdisziplinarität in der klassischen Pädagogik
1.3.1 Lehrplangeschichtliche Einordnung
1.3.2 Amos Comenius: omnes – omnia – omnino
1.3.3 Diesterwegs Regeln für den Unterricht
1.3.4 Deweys Projektunterricht
1.3.4 Wagenschein – Rettet die Phänomene
1.3.5 Reichweins schaffendes Schulvolk
1.4 Disziplinäre Schulen – multidisziplinäre Realität
1.5 Ziele interdisziplinärer Bildung
2 Modelle des fächerübergreifenden Unterrichtens
2.1 Drei Modelle
2.1.1 Disziplinärer Ansatz
2.1.2 Phänomenologischer Ansatz
2.1.3 Transdisziplinärer Ansatz
3 Organisation und Qualität von fächerübergreifendem Unterricht
3.1 Drei Organisationsformen
3.2 Qualitätsmerkmale
3.3 Beurteilen und Evaluieren
4 Methoden interdisziplinären Unterrichtens
4.1 Das Sokratische Gespräch
4.2 Problem Based Learning
4.3 Lehrstückunterricht
4.4 Projektarbeit nach Dewey
4.5 Teamteaching
5 Interdisziplinarität im Kontext aktueller schulpolitischer Entwicklungen
5.1 Basale Studierkompetenzen
5.2 MINT als Katalysator für fächerübergreifende Projekte
5.3 Selbstgesteuertes, selbstorganisiertes Lernen
5.4 Bildung für nachhaltige Entwicklung
6 Dank
7 Abbildungsverzeichnis
8 Tabellenverzeichnis
9 Literaturverzeichnis
Vorbemerkung
Sekundarstufe II wird im schweizerischen Bildungssystem jene schulische Ausbildung genannt, die nach dem 9. Schuljahr an die obligatorische Volksschulstufe Sekundarstufe I anschliesst. Zu den Schulen der Sekundarstufe II gehören die Gymnasien, die Berufsmittelschulen und die Fachmittelschulen. Die Bildungsgänge zur gymnasialen Maturität, zur Berufsmaturität und zur Fachmaturität fordern von ihren Lehrpersonen ein Lehrdiplom für die Sekundarstufe II. Die vorliegende Publikation bezieht sich in ihren Ausführungen hauptsächlich auf den Unterricht in solchen Bildungsgängen und richtet sich an Studierende, Lehrpersonen und Hochschuldozierende mit dieser Zielstufe.
Die Lehrpläne der Berufsmaturitätsschulen (BMS) und der Fachmaturitätsschulen (FMS) unterliegen nicht der schweizerischen Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (MAR 95), sondern dem Berufsbildungsgesetz (BBG). Bezüge zur MAR 95 in dieser Publikation, die z. B. im Zusammenhang mit den Zielformulierungen für fächerübergreifenden Unterricht stehen, gelten daher streng genommen nur für die Arbeit am Gymnasium. Im Kapitel «Interdisziplinarität an FMS und BMS» wird speziell auf die Besonderheiten der interdisziplinären Arbeit an FMS und BMS eingegangen.
Die fachwissenschaftliche Ausbildung von Lehrpersonen für die Sekundarstufe II ist sehr spezialisiert. Als Voraussetzung für das Lehrdiplom für die Sekundarstufe II wird in der Schweiz ein fachwissenschaftlicher Abschluss auf Masterstufe in einem oder zwei Fächern, die im Kanon der genannten Bildungsgänge angeboten werden, verlangt. Die Lehrpersonen der Sekundarstufe II haben daher eine gründliche und spezialisierte fachwissenschaftliche Ausbildung absolviert, bevor sie an einer Hochschule das Lehrdiplom erwerben. Das Ziel dieser Publikation besteht einerseits darin, Akteuren auf der Sekundarstufe II den Blick für das Zusammenwirken der Disziplinen hinsichtlich einer differenzierten und ganzheitlichen Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten zu geben. Andererseits soll es darum gehen, konkrete Ansätze interdisziplinären Arbeitens zu diskutieren und auf Methoden und Organisationsformen hinzuweisen, die sich für fachübergreifende Zugänge zu Inhalten eignen. Die kleine Auswahl von Methoden und Organisationsformen, auf welche hier eingegangen wird, versteht sich als exemplarische und nicht als abschliessende und ausschliessliche Aufzählung.
Image - img_03000003.pngAbbildung 1: Die üblichen Bildungswege in der Schweiz, Stand Oktober 2016. Image - img_02000004.jpg direkter Zugang Image - img_02000005.jpg Zugang mit Zusatzqualifikation. Mit Zusatzqualifikationen sind viele weitere Querverbindungen möglich.
1 Einführung und Verankerung
Der Pädagoge und Physiker Martin Wagenschein beginnt in «Natur physikalisch gesehen» wie folgt:
Es kommt uns heute darauf an, die jungen Menschen urteilsfähig, ja mündig werden zu lassen. Damit nehmen wir hoffentlich endgültig Abschied von dem enzyklopädischen Ideal der ‹Allgemeinen Bildung› im Sinne eines möglichst vollständigen Bestandes angehäufter Kenntnisse ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang. (Wagenschein, 1953, S. 5)
Mehr als sechzig Jahre später sieht ein normaler Tag unserer Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium etwa so aus: 1. Lektion: Mathematik, Kurvendiskussion; 2. und 3. Lektion: Geschichte, Weimarer Republik; 4. Lektion: Musik, Afrikanische Rhythmen; 5. und 6. Lektion: Deutsch, Frischs «Stiller» und Grammatik; 7. und letzte Lektion: Französisch, Repetition des Subjonctif. Ähnlich zusammenhanglos könnte der Alltag der Lehrpersonen aussehen, z. B. eines Physiklehrers: Doppellektion zur Einführung in die harmonischen Schwingungen; anschliessend eine Lektion Korrektur von Prüfungen zur Wärmelehre; am Nachmittag eine Lektion über das Brechungsgesetz; dann noch eine Doppellektion zur Induktion und zu Transformatoren.
Etwas überzeichnet besteht unser Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler sowie für die Lehrpersonen aus einer durch den Stundenplaner der Schule höchst ausgeklügelten Verschachtelung von Unterrichtslektionen, deren Inhalte einen vollkommen zusammenhanglosen Brei von Wissen ergeben. Die Schülerinnen und Schüler wechseln von einem zum anderen ohne Hilfestellungen, ja gar ohne Vorstellung, ob sich überhaupt aus all dem ein Ganzes, ein Gefüge, ein allgemeinbildendes Fundament bauen lässt. Verschnaufpausen gibt es wenige, selten einmal einen Hinweis auf Verbindungen zu anderen Fächern.
Wie rechtfertigt die Schule diese Struktur?
1.1 Der Fächerkanon an unseren Schulen
Es gibt organisatorische Gründe für die fachliche Feingliederung des Curriculums an unseren Schulen. So werden z. B. an einem durchschnittlichen Gymnasium knapp tausend Schülerinnen und Schüler in einem Rasterstundenplan von 5 mal 9 Lektionen in 50 Klassen von 200 Fachlehrpersonen unterrichtet. Von den 200 Lehrpersonen sind zwei Drittel Lehrpersonen, die ein Teilpensum unterrichten, die also nicht die ganze Woche verfügbar sind. Folgende Prämissen, die manchmal pädagogisch, aber meistens organisatorisch begründet sind, schränken die Organisationsform der Schule ein. (Die Aufzählung ist nicht abschliessend.)
• Es sollen Jahrgangsklassen gebildet werden.
• Die Klassen sollen in ihrer Zusammensetzung weitgehend zusammenbleiben, eine pädagogische Einheit und ein soziales Gefüge bilden («Klassengeist»).
• In bestimmten Zeitgefässen (Lektionen) soll von einer Lehrperson ein Fach (Disziplin) unterrichtet werden.
• In einer bestimmten Klasse unterrichtet immer dieselbe Lehrperson dasselbe Fach.
Für die meisten öffentlichen Schulen gelten diese oder ähnliche Prämissen mit den entsprechenden Konsequenzen für den Unterrichtsalltag. So ist z. B. der «Epochenunterricht»[1], wie er an Rudolf-Steiner-Schulen stattfindet, unter den beschriebenen Voraussetzungen kaum zu organisieren. Blocktage und Studienwochen können, ohne dabei mit dem «Normalunterricht» in Konflikt zu kommen, nur in wenigen dafür vorgesehenen Schulwochen durchgeführt werden.
An kaum einem öffentlichen Gymnasium steuern pädagogische Prämissen dominant die Struktur der Unterrichtsgliederung. Wie könnten denn solche pädagogischen Prämissen lauten? Hier einige Beispiele:
• Die Lernenden sollen sich über einen angemessenen Zeitraum mit einem Unterrichtsgegenstand auseinandersetzen können, betreut durch die entsprechenden Lehrpersonen.
• Statt «enzyklopädischem Anhäufen von Wissen» soll exemplarisches Lernen gefördert werden.
• Fachbereiche (Disziplinen) sollen sich bei Bedarf zusammenschliessen können.
Die Unterteilung des Stoffs an Mittelschulen in Fächer (Disziplinen) kann historisch begründet werden (vgl. Abschnitt 1.2). Unabhängig davon muss über Sinn und Unsinn einer solchen Aufteilung aus heutiger Sicht nachgedacht werden.
Für die Schülerinnen und Schüler erfolgt spätestens beim Eintritt in die Maturitätsschule bzw. häufig bereits beim Übertritt in die Sekundarstufe I der abrupte Übergang von einer ganzheitlichen zu einer spezifizierten Betrachtung der