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Ikarus finden
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Ikarus finden

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About this ebook

Hermann ist mit seinem Studium arg ins Stocken geraten, und mit seiner Freundin Luise läuft es auch nicht gut. Eines Tages eskaliert ein Streit zwischen den beiden. Er zieht sich nach seiner Art zurück auf seine Couch in die Scheinwelt seichter Abenteuerfilme. Schließlich schläft er ein und findet sich in einem Traum wieder, in dem ihm seine Helden leibhaftig begegnen. Er gerät in ein phantastisches Abenteuer, das weit ins Universum führt und dabei die Grenzen alles Möglichen überschreitet.
Eine sagenhafte Geschichte rund um ein unglaubliches Vorhaben, garniert mit einem amüsanten mathematischen Rätsel. Eine Traumreise, die Hermann auf die richtige Spur für seine Zukunft führt. Und nicht nur das, sogar Vergangenes muss neu gedacht werden.
LanguageDeutsch
Release dateAug 10, 2021
ISBN9783754381076
Ikarus finden
Author

Wolfgang Kofler

Wolfgang Kofler, geb. 1962 in Innsbruck. Aufgewachsen in einer Familie, unter Freunden und Mentoren, die mir Türen geöffnet haben zu Musik, Malerei, Geschichte und Wissenschaft. Studierter Techniker, leitender Angestellter eines Unternehmens in Westösterreich. Sachverständiger und Lehrbeauftragter. Dankbar dafür, in einer Welt leben zu dürfen, welche die Möglichkeit bietet, sich mit der Suche nach Zusammenhängen und unerwarteten Verbindungen des Lebens beschäftigen zu können.

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    Book preview

    Ikarus finden - Wolfgang Kofler

    Dieses Buch widme ich meinen Eltern, die mir stets Wachheit und Interesse gegenüber den unterschiedlichsten Dingen dieser Welt vorgelebt haben. Ihnen verdanke ich die Freude am kreativen Denken und Tun.

    Es wäre jedoch nicht zustande gekommen, wenn nicht Menschen mit Rat und Tat dazu beigetragen hätten. Allen voran mein Freund Günther, der mich eines Abends mit einem feinen, scheinbar harmlosen mathematischen Rätsel überrascht hatte, und zwar in Form eines ungleichen Wettrennens zwischen einem großen, unermüdlichen Läufer und einem kleinen, unscheinbaren Tierchen. Die Lösung des Rätsels war bald gefunden, der unerwartete Ausgang des Rennens Anlass genug, die Geschichte fortzuspinnen. Eines kam zum anderen und schließlich entstand daraus die Idee, daraus einen Roman zu machen. Nicht nur dafür steht ihm der erste Dank zu. Ohne seine Tipps und Ratschläge würde der Geschichte der wesentliche Schwung fehlen.

    Dass der Text schließlich zum Leben erweckt wurde und die handelnden Personen Gestalt angenommen haben, liegt vor allem an den kreativen Hinweisen meiner theaterbegeisterten Schwester Lisi und meinem Freund Anders. Von nicht geringerem Nutzen waren die Hinweise, die mir Konni durch ihren gezielten Blick auf die Struktur der Kapitel gegeben hat. Mein besonderer Dank gilt meinem Lektor Hans Augustin, der sich akribisch um Grammatik und Wahl geeigneter Worte gekümmert und darüber hinaus auch äußerst hilfreiche inhaltliche Hinweise gegeben hat. Für die liebevolle und professionelle Arbeit an Layout und Buchgestaltung bedanke ich mich bei Alexander Augustin. Er gab damit dem Buch das persönliche Aussehen. Nicht zuletzt danke ich meiner lieben Frau Anja, die für den geeigneten Rahmen gesorgt hat, um an dem Faden der Geschichte weben zu können.

    Wolfgang Kofler

    im Sommer 2021

    Inhalt

    Der Countdown läuft

    Der Traum beginnt …

    Eine antike Begegnung

    Der Lebensfaden

    Der Plan des Dädalus

    Wo und wann sind wir?

    Der große Held tritt auf

    Besuch aus der Tiefe

    Diskurs am Felsplateau

    Beliebig lang – die Maßnehmung des Dädalus

    Die Nadel im Heuhaufen

    Die Verabschiedung

    Stairway to heaven

    Unscheinbar sei des Größten Feind

    Nobody is perfect

    Ahnen, ohne zu wissen

    Alles ist relativ

    Im Stillstand der Zeit

    Highway „zu hell"

    … einen Moment später

    … zwei Wochen später

    Herakles und die Spinne

    Glossar

    Träume sind wie bunte Drachen im Wind.

    Halten wir sie an der Schnur,

    damit sie uns nicht entgleiten.

    (Lupomarcia, Conte von Siena, 1829)

    DER COUNTDOWN LÄUFT

    00:01:45 … 00:01:44 … 00:01:43 …

    Einen Moment lang starrt er ungläubig auf die rote LED-Anzeige, die ihm herausfordernd entgegenblinkt. „Verdammt, viel Zeit bleibt nicht mehr …", murmelt er aber sogleich mehr beiläufig als besorgt vor sich hin, als hätte er sich doch gar nichts anderes erwartet. Schweiß steht ihm auf der teils blut-, teils ölverschmierten Stirn. Angstschweiß ist es nicht. Angst steht nicht in seinem Drehbuch.

    Wir befinden uns im letzten, alles entscheidenden Teil der Mission. Das, was bisher geschah, kann in wenigen Worten als kühn, nein viel mehr, als irre und halsbrecherisch bezeichnet werden. Im Einstieg das Meisterstück, Igors fiesem Plan auf die Spur zu kommen; seine geschickt getarnte Spur aufzunehmen und nicht mehr loszulassen, wie ein Hund, der sich in den Arm des flüchtenden Einbrechers verbeißt; die Hetzjagd quer über drei Kontinente, ein rastloser Kanon gegenseitigen Nachstellens, Auflauerns und Entrinnens; als wäre dies nicht genug, eine schwindelerregende Straßenrallye in der Rushhour einer Millionenstadt; ein unter allen denkbaren Umständen doch jedenfalls tödlicher Sprung von einem hundert Meter hohen Gebäude. Szenen, die sowohl für Verfolger als auch Verfolgten jeden Augenblick zum ausweglosen Verhängnis führen könnten, abgefilmt in einer Dichte, als müsste auch noch der abgebrühteste Zuschauer um jeden Preis davon abgehalten werden, auf einen anderen Kanal zu wechseln.

    James Bond, mit Abstand verlässlichster Bösewichtentferner und Aushängeschild des britischen Geheimdienstes, hat es wieder einmal fast geschafft. Wie durch ein Wunder gelang es ihm, in dem weitläufigen Stollensystem unerkannt an den schwerbewaffneten Typen in den schwarzen Rollkragenpullovern vorbeizuhuschen, um schließlich den mehrfach gesicherten Eingang zum Kontrollzentrum der Bombe zu knacken. Lediglich bewaffnet mit Multifunktions-Armbanduhr und Schraubenschlüssel. Eben nur fast hat er es geschafft, denn an Erholung ist noch nicht zu denken. Nicht einmal für eine kurze Verschnaufpause bleibt Zeit. Steht er doch, gezeichnet von den zweistündigen Strapazen der neuen 007-Folge, im ramponierten, aber dennoch perfekt sitzenden Smoking vor dem schwarz glänzenden Stahlbehälter, der exakt bei Sekunde Null explodieren wird. Ein nagelneues Gerät, Behälter und Ventile in rostbeständiger Ausführung, energiesparende Lämpchen und hochauflösende Displays. Made in Japan, somit kaum Hoffnung auf Versagen des Auslösemechanismus. Auf dem Typenschild steht neben der Seriennummer in fett gedruckten Lettern: „Achtung, Lebensgefahr - Fünfzig Megatonnen!" Die Uhr tickt und zählt ohne Rücksicht auf Held und Zuschauer Sekunde für Sekunde herunter. Bond weiß, dass sie nicht in die negativen Zahlen hinein und bis zum Nimmerleinstag weiterticken wird. Ihm ist glasklar, was passiert, wenn der Sekundenvorrat erschöpft ist.

    Igor, der dieses Schlamassel eingefädelt hat, ist in einschlägigen Kreisen als Warlord wohlbekannt. Der ehemalige Proficatcher hat genau die rücksichtslos entschlossene Art für solche Geschäfte. Rasch hat er sich in der Branche einen Namen gemacht. Den entscheidenden Durchbruch in die oberste Liga schaffte er mit Waffenlieferungen an syrische Dschihadisten, die sich in der antiken Stadt Palmyra verschanzt hatten.

    Historische Stätten hatten ihn immer schon angezogen. Nicht, dass er sich für Architektur oder Kunst des Altertums interessierte. Nein, absolut nicht. Gewichte statt Geschichte, Gewehre statt Lehre. So lautet seine Devise. Vielmehr bildet er sich ein, dass historische Weichenstellungen an ebensolchen Örtlichkeiten passieren sollten. Natürlich auch Bombenattentate.

    Unglücklicherweise war das Geschäft in Palmyra aufgrund des unerbittlichen Vorrückens der syrischen Regierungstruppen nicht von Dauer. Hals über Kopf musste Igor über die türkische Grenze nach Westen flüchten. Seine nächste Idee war, von der antiken Stadt Mykene aus eine Rakete in Richtung Marmarameer zu schicken, um den marinen Zugang der Russen zum Mittelmeer zu blockieren und gleichzeitig die bisher zurückhaltenden Europäer in das militärische Hütchenspiel hineinzuziehen. Auch daraus wurde nichts, weil sich Mykene mit seinen weltberühmten Ausgrabungen zu einem stark frequentierten Reiseziel selfieverliebter Tagesurlauber entwickelt hat. Besucherströme quasi rund um die Uhr. Es wäre nicht möglich gewesen, auch nur einen Kasten Bier auf unbemerkte Weise in die unterirdischen Gänge zu schmuggeln, geschweige denn eine ausgewachsene Megatonnenbombe.

    Ein Mann wie Igor lässt sich aber nicht so einfach von der Idee abbringen, seine Duftnote in die Weltgeschichte zu setzen. Kurzerhand nahm er seinen Schulatlas zur Hand und fand rasch das nächste Ziel, nämlich durch die Sprengung des auf der europäischen Seite gelegenen Felsens von Gibraltar gleich die ganze Meeresenge für die Schifffahrt unbrauchbar zu machen, wodurch die im Mittelmeerhafen von Gaeta stationierte sechste Flotte der US-Marine vom Atlantik abgeschnitten und isoliert werden sollte.

    Der Felsen von Gibraltar gleicht einem von Borkenkäfern befallenen Baumstrunk, durchzogen von Höhlen und Stollensystemen, verwinkelt und verzweigt, mit schwer einsehbaren Zugängen von Land und Wasser. Die kaum erschlossene Gorham-Höhle eignet sich perfekt für Igors schlimme Sache. In Mäandern verläuft sie vom Eingang auf Meereshöhe hinauf bis fast zum Gipfel. Ideal für Transport und Unterbringung der Bombe. Perfekt für eine geheime wie gemeine Operation dieser Art.

    Ich mag solche Filme. James Bond ist mein Superheld, cool und lässig in jeder noch so hoffnungslosen Situation, von messerscharfem Verstand und unerschütterlicher Entschlossenheit. Normalerweise würde ich in packenden Szenen glatt aufspringen und luftboxend mitkämpfen. Heute jedoch nicht. Heute will ich nicht mehr tun, als mich eingerollt in die Couch drücken, Bier trinken und fernsehen.

    Normalerweise trinke ich nicht, na ja, selten, jedenfalls nicht regelmäßig. Aber heute ist „Ausnahmsweise". Ich habe keine Ahnung, wie oft ich schon zum Kühlschrank gegangen bin, um eine Dose Bier zu holen. Ein fürchterlicher Tag. Aber daran mag ich jetzt nicht denken. Am liebsten mag ich heute gar nichts mehr denken. Und dafür kommt mir Bond gerade recht. Da kann ich mich ablenken. Den Film habe ich zwar schon gesehen, aber das stört mich nicht.

    Schon in Bubenzeiten hatte ich Abenteuer- und Heldengeschichten verschlungen, die Schatzinsel, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Kapitän Nemo, die Reise zum Mond.

    Später, hinausgewachsen aus den Kinderschuhen Klassiker wie Robinson Crusoe, der Graf von Monte Christo und auch die sagenhaften Abenteuer der griechischen Helden und Halbgötter, wie die Irrfahrten des Odysseus, die Argonautensage und Geschichten der Kämpfer um Troja. Nicht zuletzt auch die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand, weil man sich auf deren Strickmuster verlassen konnte: Die Bösen werden bestraft, die Guten gerettet. Die Besten schneiden sich am Ende gegenseitig in den Finger, um Blutsbruderschaft zu schließen.

    Die Wunderkräfte-Comicfiguren, wie Super-, Bat- und Spiderman, die sich infolge ihrer Kryptoninfektion ohne Beulen und Kratzer aus dem heillosesten Schlamassel herauswinden, kann ich nicht leiden. Diesen Typen ist wohl überhaupt nicht beizukommen. Genauso wie diese autistischen Superhirn-Detektive, die in unerträglicher Perfektion anhand eines verwischten Fußabdrucks Psyche, Absicht und Aufenthalt des durchgeknallten Serientäters entlarven. Die sind in unwirklicher Weise durchkonstruiert, die Story Endprodukt rückwärts geschriebener Drehbücher.

    Ich bin nicht so naiv, zu glauben, ein wirkliches Heldenleben wäre auch nur ansatzweise vergleichbar mit einem Filmabenteuer. Dennoch habe ich mich nicht davor wehren können, mich dann und wann als supercoolen Agenten vorzustellen, wohlwissend, dass sich ein solcher Job außer Reichweite befindet. Abgesehen davon, dass ich nicht über die dafür notwendige Kraft in Armen und Beinen verfüge, mag ich auch nicht berufsmäßig in der Welt herumgondeln. Diese Typen sind doch ständig auf Achse. Terroristen und andere Spinner, die aus irgendwelchen kranken Motiven die Welt bedrohen oder gar zerstören wollen, verstecken sich ja meist besonders gut. Erst muss man sie ewig suchen und wenn man sie endlich gefunden hat, laufen sie gleich wieder davon. Dann heißt es hinterherfliegen, rennen, klettern, tauchen und was sonst noch alles. Jedenfalls Außendienst extrem, und das ist nichts für mich.

    Dafür hatte ich einen anderen Traum, einen ganz ernsthaften. Ich wollte Mathematiker werden, und zwar ein richtig berühmter. Einer von der Art, die mit gerunzelter Stirn und zerzausten Haaren komplizierte Formeln wälzen. Das war kein Hirngespinst wie die Idee mit dem Agenten, nein, da war ernsthaftes, tiefes

    Verlangen in mir. Nicht zuletzt hielt ich auch diesen Weg für mächtig heldenhaft, nur eben nicht mit Schießen und Bomben entschärfen, sondern durch Entschlüsseln der Geheimnisse des Universums. Ein James Bond der Wissenschaft!

    Die fixe Idee vom Mathematiker kam nicht über Nacht. Schon in frühen Jugendjahren hatte ich begeistert mit Zahlen herumgespielt und mathematische Rätsel geknackt. Meine Mutter war mächtig stolz auf mich. „Hermann, hatte sie immer wieder gesagt, „du bist ja ein richtiges kleines Genie. Aus dir wird einmal ganz ein Großer! In der Schule hatte ich mich toll gefühlt, wenn ich als Erster der Klasse mit der gelösten Rechenaufgabe vor dem Lehrer stand, und noch überragender, wenn er mich vor den anderen als angehender Zahlenzauberer hervorhob.

    Diese mit Häckchen und Sternchen verzierten Zahlen und Buchstaben, grüppchenweise durch runde und eckige Bögen in die einzig möglich sinnstiftende Ordnung gebracht, haben was ganz Besonderes an sich. Eine Geheimsprache, ein Code für Auserlesene. Je komplizierter eine Formel aussah, je weniger Ahnung ich hatte, was sie bedeuten könnte, umso mehr zog sie mich an. Zuweilen fertigte ich kleine Zettelchen mit spontan hingekritzelten Zahlen- und Buchstabenmonstern an, die ich wie zufällig da und dort verlor, in der vielversprechenden Hoffnung, dass sie jemand finden und sogleich in ehrfürchtige Bewunderung verfallen würde.

    Dass ich einst Mathematik studieren werde, stand jedenfalls außer Zweifel. Ein Plan ohne Alternative. Die ersten Semester verliefen auch so, wie ich es mir vorgestellt hatte, lernte ich doch im tieferen Sinn verstehen, was in der Mittelschule an der Oberfläche durchschwommen wurde. Wie das Abtauchen in die Tiefe der Zahlenwelt. Der Tauchgang am sonnengefluteten Riff der Analysis war jedoch bald vorbei. Es ging tiefer, und mit der Tiefe wurde es zusehends diffuser und unheimlicher. Wie gerne wäre ich geblieben, Jahre noch hätte ich mich auf minus zwölf Metern mit Differentialrechnen beschäftigen können.

    Fast hätte ich im Frühjahr den ersten Studienabschnitt geschafft. Fast, weil in den vergangenen Monaten mein Fortschritt arg ins Stocken geraten ist. Zurzeit hänge ich bei Theoretischer Informatik. Dabei geht es um enorme Datenmengen verschiedenster Art, die mathematisch in den Griff zu bekommen sind. Gerade bei diesen Theorien und Algorithmen habe ich das Gefühl, dass ich sie nicht greifen kann. Keine Anwendung von vorgedachten Rechenabläufen, die geradewegs auf klare, eindeutige Ergebnisse hinzielen, sondern Ansätze, die in unerschlossene Räume führen. Zuweilen verstehe ich nicht einmal, worum es überhaupt geht und komme mir richtiggehend verloren vor. Wie ein Tiefseetaucher, der an dem kurzen Ende der durchtrennten Verbindungsschnur von seiner Unterwasserstation in die unbekannte Weite des Ozeans davontriftet.

    Sicherlich geht es den meisten meiner Kollegen genauso. Nur die Allerwenigsten scheinen keine Schwierigkeiten zu haben und sind schon im zweiten Studienabschnitt. Entweder verwenden sie Nitrox in der Tauchflasche, haben Kiemen oder nehmen die Sache nicht so genau wie ich und tauchen auf einer ganz eigenen, mir unbekannten Weise durch.

    Natürlich weiß ich, dass Studieren nicht nur angenehm oder gar lustig ist. Ein berühmter Mathematiker wird man nicht mit einmal tiefer Luft holen. Nur weil man frech seine Zunge herausstreckt, wird man kein Albert Einstein. So wie man sich nicht bloß deshalb als Maler unsterblich macht, indem man sich ein Ohr abschneidet.

    Mich beschleicht die Angst, jeder Stufe der Erkenntnis könnte eine noch tiefere folgen. Je länger ich in die Welt der Mathematik blicke, umso dunkler und weiter wird sie, als wolle das große Wissen vor mir fliehen. Hoffentlich werde ich irgendwann doch noch glücklich auftauchen und dann sehen wir weiter.

    00:01:09 … 00:01:08 … 00:01:07 …

    Bond hat keine Schwierigkeiten, in Nullkommanix die Zerstörungskraft der Bombe abzuschätzen, schließlich war er in der Agentenschule der Hellste und Schnellste seines Jahrgangs. Hell beim Auswendiglernen von passenden Sprüchen für alle Lebenslagen, schnell beim Nummernschlossknacken und Zapfenrechnen. Die Explosion würde nach seiner Kalkulation glatt den ganzen Gibraltarfelsen zum Bersten bringen. Grauenhafte Bilder einer monströsen Flutwelle, eines unbewohnbaren Trümmerhaufens zwischen Europa und Afrika nehmen vor seinen Augen Gestalt an.

    „Genug damit, murmelt er in sich hinein, „jetzt heißt es klaren Kopf bewahren. Er muss sich losreißen von diesen Gedanken, jede Ablenkung wäre tödlich. Zu allem Überdruss hat er sich beim Aussteigen aus dem Schlauchboot die Schulter derart unglücklich gezerrt, dass ihm bei jeder Bewegung ein stechender Schmerz durch den Körper fährt. Aber auch darauf darf er jetzt keine Rücksicht nehmen. Keine Zeit für Kinkerlitzchen, kein Nerv für Wehwehchen.

    Er lässt seinen Blick über den Auslöseapparat der Bombe schweifen. Schalter, Kästchen und haufenweise Drähte, aus anderen Missionen wohlvertraut in den Farben blau, rot und grün. In der Mitte des technischen Wirrwarrs grinst ihm die fiese Grimasse des gläsernen Behälters mit der giftgrünen Flüssigkeit entgegen, der mit einem leisen Klick den unheilvollen Zündmechanismus in Gang setzen wird. Der berüchtigte point of no return. Solange das Gefäß in Ruhe ist, ist alles gut, kann alles noch gestoppt werden. Sobald es sich aber – klick - zu entleeren beginnt, ist es gelaufen. Ohne Widerruf. Ab diesem Zeitpunkt kann die Explosion nicht mehr verhindert werden.

    Die letzten Sekunden ziehen sich unheimlich in die Länge. Das ist in solchen Filmen meistens so. Vorher trippeln die schönen Fräuleins wie ein Windhauch viel zu rasch über den Bildschirm. Dann, wenn es gefährlich wird und keine Zeit mehr bleibt, kommt einem jede Sekunde wie eine Ewigkeit vor.

    Obwohl das Abenteuer auch ohne mich seinen vorbestimmten Lauf nimmt, kann ich nicht einfach nur tatenlos zuschauen. Die Paprikachips gehen zur Neige. Ein paar klebrige Brösel hängen noch am Boden der Tüte. Beim Herausfischen verschmiere ich mir die Hand bis zum Ärmel mit einem Gemisch aus Salz und Fett und der Alkohol zeigt immer mehr seine Wirkung.

    Der Film biegt in die entscheidende Schlussphase ein und es ist nichts mehr da, sie angemessen versorgt mitzuerleben. Geht es sich noch aus, eine weitere Dose

    Bier und etwas Salziges zu organisieren? Vermutlich nicht, das Schicksal der westlichen Welt würde entschieden, während ich im geöffneten Kühlschrank herumkrame.

    Ich bin schlagartig hellwach. Jetzt heißt es, kaltschnäuzig und präzise sein, wie Bond. Ohne zu zögern drücke ich die Pausetaste, renne in die Küche und munitioniere mich für das Überleben der nächsten folgenschweren Sekunden auf. Ins Wohnzimmer zurück begebe ich mich deutlich bedächtiger, wäre ich am Hinweg doch beinahe über meine alte Ledertasche gestolpert. Außerdem kann ich mir sicher sein, dass die Fernbedienung des Fernsehapparats ohne meinen Eingriff nichts unternehmen wird.

    00:00:29 … 00:00:28 … 00:00:27 …

    Elena, eine überaus attraktive Frau mit dunklen Augen und Haaren war der eigentliche Schlüssel zu Igors geheimen Bombenlager. Ohne sie wäre Bond vermutlich noch bis zum Ende des Countdown im Inneren des Felsens herumgeirrt. Sie war es, die über den bösen Plan bis ins Kleinste Bescheid wusste, war sie doch über ein Jahr lang Igors engste Vertraute.

    Wer weiß, was mit ihr geschehen wäre, hätte sie nicht an jenem lauen Abend auf der Terrasse des Casinos den eloquenten Gentleman kennengelernt, in Geist und Gestalt das glatte Gegenteil von Igor. Natürlich war es alles andere als eine zufällige Bekanntschaft vor romantischer Kulisse, die Begegnung hatte Bond ganz gezielt eingefädelt. Jedenfalls konnte er Elena von der anmaßenden Niederträchtigkeit des Vorhabens überzeugen. Was wirklich entscheidend war, sein unwiderstehlicher Charme oder die unleugbare Kraft des Faktischen, ist unklar. Egal. Jedenfalls wechselte die Schöne schnurstracks auf die Seite des Guten und klebt seitdem an des Agenten Augen und Ärmel.

    Als ehemalige Mitarbeiterin des Bösewichts in der ersten Führungsebene ist Elena bestens ausgebildet und krisenerprobt. Dennoch scheint ihr die momentane Zukunftsaussicht einigermaßen zu schaffen zu machen. Sowohl die Kontrolle über die Situation als auch über sich selbst verloren, fuchtelt sie panisch mit ihrer Nagelschere über dem Drahtgewirr herum.

    Bond weiß, dass er im Moment auf die Lady nicht zählen kann. Er legt seine Hand auf die ihre und bemüht sich um einen gelassenen Tonfall: „Elena, Baby – bleib cool. Ich verspreche dir, alles wird gut, und, nachdem ihn die eigenen Worte selbst nicht so richtig überzeugen, „und wenn nicht, warst in jedem Fall Du die große Liebe meines Lebens.

    Recht spät die Worte der Offenbarung, Sekunden vor der drohenden Katastrophe, aber sie tun gut und geben Perspektive, wenn auch nur durch einen schmalen Spalt. „Warum hast du das nicht schon früher gesagt, James, flüstert sie hervor, „jetzt wird es gleich zu spät sein für uns zwei!

    „Die rechte Zeit war noch nicht gekommen", wendet er ein. Aber jetzt sei er sich gewiss und wenn es wirklich die allerletzte Gelegenheit sein sollte, dürfe sie auf keinen Fall verpasst werden.

    Bonds Cream-Tea-süße Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Fast schlagartig schwinden Elenas hektische Bewegungen über der Bombe. Sie ist eins mit sich, Bond und der trüben Aussicht. Ein zittriges Lächeln flieht über ihr Gesicht. Er bemerkt im Augenwinkel, wie ihre Wangen leicht erröten. Das war ihm schon am Abend zuvor im Hotelzimmer aufgefallen, als er den Verschluss der sündteuren Halskette geöffnet und dabei nicht zufällig ihren Hals berührt hatte. Da ahnte er bereits, dass diese Frau etwas ganz Besonderes hätte und er noch Gelegenheit suchen wird, sie nicht nur als Agentengehilfin für sich zu gewinnen.

    Ich richte die Utensilien für den nunmehr heikelsten Teil der Mission in Griffweite zurecht und spule den Film um ein, zwei Minuten zurück, um an einer vertrauten Stelle wieder einzusteigen. Wie beiläufig öffne ich die Bierdose mit einer Hand und lasse zeitgleich mit der anderen den Plastikdeckel der Keksdose springen.

    „Auch ich kann simultan und präzise arbeiten. Nicht nur du, mein guter James", grinse ich spöttisch dem Fernsehapparat entgegen. Diese Handgriffe habe ich immerhin oft genug trainiert. Nebenbei könnte ich sogar noch einer angebeteten Schönheit in knappen, auserlesenen Worten und tiefgründiger Stimmlage die ewige Liebe versprechen.

    Können würde ich das ganz bestimmt, da hege ich in der momentanen Bierlaune keinen Zweifel. Blöderweise fehlt mir aber dazu die schöne Agentin oder überhaupt eine Frau, die schon bei meiner geringsten Berührung hormondurchströmt erröten würde. Nicht, dass mir so eine Elena noch nie begegnet wäre, das hätte schon sein können. Das mit den Frauen ist keine einfache Sache, und heute schon gar nicht. Ich fürchte sogar, dass mit dem heutigen Tag das Thema Beziehung für mich wieder einmal in weite Ferne gerückt ist.

    An die zwei Jahre dürfte es her sein, dass ich Luise kennengelernt habe. Es geschah auf einem Universitätsfest im Park des Campusgeländes, als meine Augen an ihren grünen fröhlich flackernden hängengeblieben waren. Bis zum Morgengrauen unterhielten wir uns, scherzten und philosophierten über Gott und die

    Welt. Hals über Kopf hatte ich mich in dieses quirlige Energiebündel verliebt. Wenn sie lachte, blitzten ihre Zähne hervor und an den vergnügten Augenwinkeln strebten zarte Fältchen auseinander. Wenn sie etwas erzählte, tat sie dies zuweilen mit Händen und Füßen und setzte dabei ihre schlanke Figur geschickt in Szene.

    Ursprünglich spielte Luise mit dem Gedanken, in Geschichte zu immatrikulieren. Besonders interessierte sie sich für Alte Geschichte. Der wohl einzige

    Grund, es nicht zu tun, war ihre Befürchtung, im späteren Berufsalltag im Keller eines Museums sitzen und alte Knochen oder Tonscherben nummerieren zu müssen. Absolut nachvollziehbar, jemand wie sie wäre wohl kaum geeignet für ein solch bedächtig blutleeres Tun.

    Schließlich entschied sie sich für Sport und Geographie, um das Angenehme mit dem Notwendigen zu verbinden. Mit dieser Ausbildung will sie einen Job finden, der ihr die weite Welt öffnen würde. Sie will unterwegs sein, von einem

    Projekt zum nächsten reisen. Jedenfalls keine Arbeit mit vorgegebenem Stundenplan, nichts mit Stempeluhr und Jausenbox.

    Lernen macht ihr nichts aus, zumindest lässt sie sich nichts anmerken. Sie macht sich keine tiefschürfenden Gedanken über Sinn und Unsinn verschiedener Fächer, sondern tut einfach, was zu tun ist: Pauken, was der Studienplan vorgibt, in jener leichtfüßigen Art, wie ich sie kennengelernt habe.

    In dieser Hinsicht sind wir recht unterschiedlich. Oder auch: Waren wir? Möglicherweise ist es nun vorbei mit uns, oder doch nicht? Ich habe keine Ahnung, was ich denken soll. Wie gesagt, will und kann ich heute nicht mehr denken.

    Wir hatten eine richtige Beziehung miteinander, jedenfalls eine, die unter Studenten als solche gilt. Zwei- bis dreimal in der Woche verabredeten wir uns, gingen aus, trafen Freunde oder unternahmen sonst etwas. Am liebsten saß ich mit ihr in meiner Stammkneipe, wo wir uns dann und wann unsere Zukunft ausmalten. Anfangs hörte sie mir interessiert zu, wenn ich von meinem Traum des berühmten Mathematikers schwärmte, aber im Laufe der Zeit störte sie sich immer öfter daran. Dann meinte sie, dass es nicht Wert wäre, sich über ferne Zukunft Gedanken zu machen. Es wäre doch viel spannender, heute zu leben als von übermorgen zu träumen.

    Ab und zu gingen wir gemeinsam laufen. Sport finde ich gut, aber nicht auf allzu fanatische Weise oder gar als Wettkampf. Deshalb halte ich auch nichts von Pulsuhren, Trainingsplänen und solchen Dingen. „Aber Hermann, das macht doch nichts. Ich bin ja auch nicht die Beste in meiner Laufgruppe. Wir wollen uns nur gemeinsam bewegen und nicht mehr", versicherte sie mir. Das war wohl ehrlich gemeint, aber

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