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Lesereise England: Von Küste zu Küste
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Lesereise England: Von Küste zu Küste
Ebook131 pages1 hour

Lesereise England: Von Küste zu Küste

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Sturmumtoste Gipfel, ausgedehnte Hügellandschaften und eine reiche Geschichte, die gleichermaßen von Dichtern der Romantik wie dem industriellen Bergbau geprägt ist. Erik Lorenz erkundet die Faszination Nordenglands in luftigen Höhen und unter Tage, von der Westküste zur Ostküste Englands. Er erklimmt die Gipfel des Lake District, klettert über die jahrhundertealten Steinmauern der Yorkshire Dales, durchstreift die Weiten der North York Moors – und taucht unterwegs in die englische Seele ein.
LanguageDeutsch
PublisherPicus Verlag
Release dateFeb 17, 2021
ISBN9783711754462
Lesereise England: Von Küste zu Küste

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    Lesereise England - Erik Lorenz

    Der erste Schritt

    Aufbruch zur anderen Seite

    Das Meer war unruhig: Der Westwind scheuchte es auf und peitschte mir die kalte, feine Gischt ins Gesicht. Unter dem grauen Himmel sah das Wasser weiter draußen aus wie flüssiges Blei, das in einem riesigen Tank hin und her schwappte und an den Seiten hochspritzte. Näher an der Küste, dort, wo die Wellen unter der Wasseroberfläche den Sand aufwirbelten, wechselten sich in einem fortwährenden Spiel weiße Schaumflecken und braune Flächen ab. Hier und da hauchte eine angespülte Qualle ihr letztes Leben aus.

    Ich schmeckte Salz auf meinen Lippen. Die Wellen brachen sich rauschend und drückten das Wasser beinahe bis an die Spitzen meiner Stiefel heran.

    Ich machte einen Schritt vorwärts.

    Ein paar Leute beobachteten mich neugierig. Eine Frau, die mit einem kleinen Kind auf dem Arm ein gutes Dutzend Meter entfernt stand, schaute mich mit hochgezogenen Brauen an.

    Vermutlich zweifelte sie an meinem Verstand. Ich wandte den Blick von ihr ab und betrachtete meine Füße. Das Wasser umspülte meine Stiefel: Es fuhr vor ihnen auseinander, strömte um die Sohlen herum und vereinigte sich hinter ihnen. Es strebte wenige Zentimeter weiter den Kiesstrand hinauf, bis es die letzte Kraft verlor und sich zurückfallen ließ, um nach ein paar Sekunden einen neuen Angriff auf die Küste zu starten.

    Eine Sache gab es noch zu tun.

    Ich ging zurück an den Strand und wühlte auf der Suche nach dem perfekten Stein im Kies herum. Er sollte nicht so groß sein, dass er mich störte, und nicht so klein, dass ich ihn unbemerkt verlieren konnte. Er sollte auch keine scharfen Kanten haben, die mir beim Gehen durch die Hose ins Bein stechen würden, aber die meisten waren über die Jahrhunderte ohnehin rundgewaschen worden. Schließlich fand ich einen hübschen runden Stein, grau, so groß wie zwei Pflaumenkerne, mit einer dünnen weißen Quarzspur.

    Jetzt war es so weit: Jetzt war ich bereit. Ich atmete tief ein. Meine Lungen füllten sich mit kühler, salziger Luft. Ich nahm sie auf und versuchte sie zu Kraft werden zu lassen, versuchte meine Muskeln ein letztes Mal bewusst zu entspannen, ganz locker zu sein. Dann machte ich den ersten, etwas unsicheren Schritt.

    Ich fühlte mich, als würde ich zum Gipfel des Mount Everest aufbrechen, als würde ich eine Reise zum Mond beginnen. Ein großer Moment. Es war mehr als nur der Aufbruch zu einer Wanderung. Mit diesem Schritt, mit dem ich vom Wasser zurücktrat, mit dem ich mich von der Irischen See entfernte, begann eine Zeit fortwährender Mühsal. Sie würde erst enden, wenn ich, voraussichtlich am Ende meiner Kräfte, auf der anderen Seite wieder am Meer stand.

    Die andere Seite.

    Der Gedanke, dass dies der Beginn meines Versuchs war, England zu Fuß zu durchqueren, beunruhigte und elektrisierte mich zugleich. Ich möchte es nicht dramatisieren: Ich hatte weder vor, einen Kontinent zu durchqueren noch über Tausende Kilometer einem Pilgerweg zu folgen. Der vor mir liegende Weg von West nach Ost erstreckte sich über ungefähr dreihundertzwanzig Kilometer. Ich plante keine Großtat, die alle anderen in den Schatten stellen würde.

    Trotzdem war ich beinahe überrascht, als mich beim zweiten, beim dritten Schritt noch immer keine unsichtbare Kraft hinderte. Ich wartete auf einen inneren oder äußeren Widerstand, etwas, das mich zurückhielt, abhielt, aber ich machte vorsichtig den nächsten Schritt und dann noch einen. Ich holte noch einmal tief Luft, und bevor ich mich versah, war ich auf dem Weg zur anderen Seite.

    An romantischen Wassern

    Ennerdale

    Für einige Stunden führte der Weg an der Küste entlang. Dann bog er rechts ab: landeinwärts, über Wiesen und Hügel, durch Dörfer und Farmen, die ich dank des öffentlichen Wegerechts durchschreiten durfte, das in Großbritannien herrscht. Während es beispielsweise in Deutschland ein allgemeines Betretungsrecht gibt, das den Gemeingebrauch an Wäldern, Fluren und anderen Flächen zu Erholungszwecken regelt und zum Wohle der Allgemeinheit das Eigentumsrecht einschränkt, durchzieht Großbritannien ein weitverzweigtes Netzwerk frei zugänglicher Pfade. Deren Geschichte reicht zum Teil bis ins Mittelalter zurück. So wird erlaubt, dass Wanderer wie ich sich nicht nur durch Wildnis und auf öffentlichen Straßen, sondern auch über Privatgrundstücke bewegen dürfen. Die Eigentümer dieser Grundstücke müssen sicherstellen, dass die Wege weder versperrt noch umgeleitet werden und dass die Nutzer nicht etwa von einem wilden Stier angegriffen werden. Sie dürfen auch keine Gebühr verlangen. Seit 1949 bemühen sich die Behörden, alle bestehenden Wegerechte in der sogenannten »Definitive Map« einzuzeichnen. Doch noch im Jahr 2000 fehlten Schätzungen zufolge über zehn Prozent der Wegerechte. Eine Frist bis zum ersten Januar 2026 wurde ausgesprochen, bis zu der noch nicht erfasste Wegerechte in einer digitalen Karte nachgetragen werden können. Alle, die nach Ablauf der Frist nicht in der Karte erfasst sind, verfallen. Dementsprechend bemühen sich Organisationen wie der mit hundertdreiundzwanzigtausend Mitgliedern größte britische Wanderverein The Ramblers, insbesondere in landschaftlich attraktiven Gebieten rechtzeitig Nachweise für möglichst viele Wegerechte zu erbringen. Auch dank ihres Engagements war es mir also vergönnt, heute und auf der restlichen Wanderung immer wieder über hübsche Wiesen und Weiden zu stapfen, statt nur den Straßen von einer Ortschaft zur nächsten zu folgen.

    Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in diesem Teil Englands von Küste zu Küste zu laufen. Neben der Richtung (von Westen nach Osten, wie die meisten Wanderer, oder andersherum) betrifft eine grundsätzliche Frage die Art der Unterbringung: Die meisten Wanderer steigen jede Nacht in Bed and Breakfasts, Jugendherbergen, Hostels und Hotels ab, die oftmals ganz wundervoll, in der Sommerzeit zumeist aber auf Monate hin ausgebucht und der Nachfrage entsprechend hochpreisig sind. Zweifelsfrei gibt es kaum etwas Erbaulicheres, als nach einem endlosen Tag des Laufens die geschwollenen Füße aus den Schuhen zu schälen und sich erst in eine mit warmem Wasser gefüllte Badewanne und dann in ein weiches Bett zu legen. Weil die Zimmer aber so frühzeitig gebucht werden müssen, schließt diese Option jegliche Flexibilität aus: Bereits Monate bevor der erste Schritt getan wird, muss festgelegt werden, in welchem Ort welche Nacht verbracht werden soll. Reiseführer raten aufgrund der raren Unterkünfte bei einer Wanderung in den Sommermonaten, die Übernachtungen bis zu einem halben Jahr im Voraus zu buchen.

    Ein halbes Jahr? Ich wusste nicht einmal, wo ich in einer halben Woche sein würde! Ich wollte es auch nicht wissen. Ich wollte mich treiben lassen. Meine Füße sollten entscheiden dürfen, wie langsam oder schnell sie gingen, und die Landschaft sollte mich hierhin oder dorthin locken können, zu diesem Umweg oder jenen Berg hinauf.

    Die offensichtliche Alternative zum Buchen einer Unterkunft ist: Man schleppt die Unterkunft selbst mit. Was ist befriedigender als das Wissen, ein ganzes Land zu durchqueren und dabei alles, was man braucht, von einer Seite zur anderen zu tragen? Das hieß für mich also: zelten. Ohnehin ist das der Wanderstil, der mir am besten gefällt. Ja, es ist wundervoll, abends in ein nettes Bed and Breakfast zu kommen, sich zu duschen, runter ins Restaurant zu gehen, zu essen und bei gedimmtem Licht die Füße zu massieren – keine Frage. Aber was kann schon das Gefühl übertreffen, nach einem langen Wandertag nicht einzukehren und die Mühsal hinter sich zu lassen, sondern draußen das Zelt aufzubauen und fortwährend in dem Umfeld zu verbleiben, in dem zu bestehen man sich entschieden hat?

    Am späten Nachmittag spähte ich über dichtes Buschwerk zu meiner Rechten – und erblickte die allerersten Ausläufer des prächtigen Lake District National Park. Der See Ennerdale Water schmiegt sich an die Füße unzähliger Hügel und Berge, die sich hinter ihm erheben: Blake Fell, Great Gable, Kelton Fell, Crag Fell, Red Pike, High Stile, Bowness Knott, High Pen, Low Pen und viele mehr. Lauter wohlklingende Namen, in denen das Raue im Schönen mitschwingt und die Lust machen, ihre Namensträger zu erforschen. Überhaupt sind viele Namen im Lake District – wie in Teilen des restlichen Englands – wunderbar klangvoll. Der Name des Gipfels Old Man of Coniston könnte der Nachname eines strengen Lehrers mit großen, tropfenförmigen Brillengläsern sein und der des Great Lingy Hill mit etwas Fantasie der seines langwüchsigen, faulen Schülers. Welche Schweinerei der Rabauke am Great Cockup fabriziert hat, will

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