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Wenn die Blätter sich rot färben: Der fünfte Fall für Gamache
Wenn die Blätter sich rot färben: Der fünfte Fall für Gamache
Wenn die Blätter sich rot färben: Der fünfte Fall für Gamache
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Wenn die Blätter sich rot färben: Der fünfte Fall für Gamache

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About this ebook

Wer ist der tote Mann, den niemand kennt? Wie ist seine Leiche unbemerkt in das Bistro gelangt, das sich zwischen Bäckerei und Buchhandlung mitten in Three Pines befindet? Und wer hat den Mann getötet? Es ist ein grauer, verregneter Sonntagmorgen Anfang September. Zufällig hat Myrna Landers, die Buchhändlerin von Three Pines, den Toten entdeckt und gleich Olivier, den Wirt des Bistros, und seinen Lebensgefährten Gabri informiert. Die drei sind sich einig: lieber ein toter Fremder als ein toter Freund. Dass sich jemand ungesehen im beschaulichen Three Pines herumgetrieben hat, ist allerdings schon merkwürdig, zumal das Dorf so versteckt in den kanadischen Wäldern liegt, dass überhaupt nur wenige von seiner Existenz wissen. Armand Gamache, der gerade mit seiner Familie beim Sonntagsfrühstück in Montréal sitzt, muss mit seinem Team anrücken. Im Laufe der Ermittlungen gerät Olivier selbst immer mehr unter Verdacht. Welche dunklen Geheimnisse aus seiner Vergangenheit versucht er vor Gamache und den anderen Dorfbewohnern zu verbergen?
LanguageDeutsch
PublisherKampa Verlag
Release dateAug 27, 2020
ISBN9783311701743
Wenn die Blätter sich rot färben: Der fünfte Fall für Gamache
Author

Louise Penny

Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Québec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.

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    Wenn die Blätter sich rot färben - Louise Penny

    Für SPCA Monteregie

    und all die Menschen, die »die Himmelsglocken läuten« würden.

    Und für Maggie, die schließlich ihr ganzes Herz gegeben hat.

    1

    »Alle? Auch die Kinder?« Das Feuer im Kamin knackte und knisterte und verschluckte sein Seufzen. »Erschlagen?«

    »Schlimmer.«

    Darauf wurde es still. Und dieser Stille wohnten all die Dinge inne, die vielleicht schlimmer waren, als jemanden zu erschlagen.

    »Sind sie schon da?« Es lief ihm kalt über den Rücken, wenn er sich vorstellte, dass etwas Schreckliches durch den Wald kroch. Auf sie zu. Er blickte um sich, rechnete beinahe damit, dass ihn durch die dunklen Fenster rote Augen anstarrten. Oder aus den Ecken oder unterm Bett hervor.

    »Sie sind überall. Hast du das Licht am Nachthimmel gesehen?«

    »Das habe ich für Nordlichter gehalten.« Die rosa, grünen und weißen Erscheinungen, die über den sternenübersäten Himmel glitten. Wie etwas Lebendiges, das leuchtete und immer größer wurde. Und näher kam.

    Olivier Brulé senkte den Blick, er brachte es nicht fertig, seinem Gegenüber noch länger in die besorgten, irren Augen zu sehen. Er hatte schon so lange mit dieser Geschichte gelebt und sich immer wieder gesagt, dass sie nicht wahr war. Bloß ein Mythos, eine Geschichte, die erzählt und wieder erzählt und jedes Mal noch ein bisschen mehr ausgeschmückt wurde. An Feuerstellen wie der, an der sie gerade saßen.

    Es war eine Geschichte, mehr nicht. Sie tat ihm nichts.

    Doch in dieser einfachen Blockhütte, tief in der kanadischen Wildnis, schien sie mehr als das zu sein. Selbst Olivier merkte, dass er sie glaubte. Vielleicht weil es der Eremit tat.

    Der alte Mann saß in seinem Lehnstuhl auf der einen Seite des gemauerten Kamins und Olivier auf der anderen. Olivier blickte in ein Feuer, das seit mehr als zehn Jahren brannte. Eine uralte Flamme, die nicht verlöschen durfte, flüsterte und flackerte auf dem Rost, tauchte den Raum in weiches Licht. Mit dem eisernen Schürhaken gab er den glimmenden Holzscheiten einen Stoß, und die Funken wirbelten hinauf in den Schornstein. Kerzenlicht brach sich an Gegenständen, die in der Dunkelheit schimmerten wie die Augen von Tieren, die von der Flamme entdeckt worden waren.

    »Es dauert nicht mehr lange.«

    Die Augen des Eremiten glühten wie Metall kurz vor dem Schmelzpunkt. Er beugte sich vor, wie so oft, wenn sie beim Erzählen der Geschichte zusammensaßen.

    Olivier sah sich in dem Raum um. Die Dunkelheit wurde von flackernden Kerzen durchbrochen, die bizarre Schatten warfen. Es schien, als wäre die Nacht durch die Spalten zwischen den Holzstämmen gekrochen und hätte sich in der Hütte ausgebreitet, kauerte in Ecken und unter dem Bett. Viele Ureinwohner glaubten, dass das Böse in Ecken lebte, weshalb ihre traditionellen Behausungen rund waren. Im Gegensatz zu den eckigen Häusern, die sie von der Regierung bekommen hatten.

    Olivier glaubte nicht, dass das Böse in Ecken lebte. Eigentlich. Jedenfalls nicht bei Tag. Allerdings glaubte er, dass es Dinge gab, die in den finsteren Ecken dieser Hütte lauerten und um die nur der Eremit wusste. Dinge, die Oliviers Herz schneller schlagen ließen.

    »Wie geht es weiter?« Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.

    Es war spät, und Olivier hatte noch den zwanzigminütigen Fußmarsch durch den Wald nach Three Pines vor sich. Alle zwei Wochen legte er ihn zurück, und er kannte den Weg in- und auswendig, selbst im Dunkeln.

    Ausschließlich im Dunkeln. Die Beziehung zwischen ihnen existierte nur nach Einbruch der Nacht.

    Sie tranken Orange Pekoe. Etwas Besonderes, das dem Ehrengast des Eremiten vorbehalten war, wie Olivier wusste. Seinem einzigen Gast.

    Doch jetzt war es Zeit für die Geschichte. Sie beugten sich näher zum Feuer. Es war Anfang September, und zusammen mit der Nacht hatte sich ein kalter Hauch in der Hütte ausgebreitet.

    »Wo war ich? Ach ja, jetzt weiß ich wieder.«

    Olivier schloss die Hände noch etwas fester um den warmen Becher.

    »Die furchtbare Macht hat alles vernichtet, was ihr im Weg stand. Die Alte Welt und die Neue. Alles weg. Außer …«

    »Außer?«

    »Ein winziges Dorf ist übrig geblieben. Versteckt in einem Tal, sodass die finstere Armee es bisher nicht entdeckt hat. Aber das wird sie. Und dann wird ihr mächtiger Anführer an der Spitze seiner Armee stehen. Er ist riesig, größer als jeder Baum, und er trägt eine Rüstung aus Felsen und scharfkantigen Muscheln und Knochen.«

    »Chaos.«

    Das geflüsterte Wort verschwand in der Dunkelheit, wo es sich in eine Ecke kauerte. Und wartete.

    »Chaos. Und die Furien. Krankheit, Hunger, Verzweiflung. Sie schwärmen aus. Auf der Suche. Und sie werden keine Ruhe geben. Niemals. Nicht bevor sie es finden.«

    »Das, was gestohlen wurde.«

    Mit grimmiger Miene nickte der Eremit. Er schien das Gemetzel vor sich zu sehen, die Zerstörung. Die Männer und Frauen, die Kinder, die vor der erbarmungslosen, seelenlosen Macht flohen.

    »Aber was genau war es? Was konnte so wichtig sein, dass sie alles vernichten mussten, um es zurückzubekommen?«

    Olivier zwang sich dazu, die Augen nicht abzuwenden und in das zerfurchte Gesicht zu blicken statt in die Dunkelheit. In die Ecke zu dem Ding, von dem sie beide wussten, dass es dort in seinem schäbigen kleinen Leinensack lag.

    Der Eremit schien jedoch seine Gedanken lesen zu können, und Olivier sah, wie auf dem Gesicht des Alten ein verschlagenes Grinsen erschien. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden.

    »Nicht die Armee will es zurückhaben.«

    Jetzt sahen sie beide hinter der furchtbaren Armee das Ding lauern. Dieses Ding, das selbst vom Chaos gefürchtet wurde. Das Verzweiflung, Krankheit, Hunger vor sich hertrieb. Mit einem einzigen Ziel. Das zu finden, was ihrem Meister entwendet worden war.

    »Es ist schlimmer als Morden.«

    Ihre Stimmen waren leise, kaum hörbar. Wie die von Verschwörern, deren Sache bereits verloren war.

    »Wenn die Armee endlich findet, was sie sucht, wird sie stehen bleiben. Und zur Seite treten. Und dann kommt das Schlimmste, was man sich nur vorstellen kann.«

    Darauf folgte wieder Stille. Und in dieser Stille verbarg sich das Schlimmste, was man sich nur vorstellen konnte.

    Im Wald draußen begann ein Rudel Kojoten zu heulen. Sie hatten irgendein Tier in die Enge getrieben.

    Ein Mythos, weiter nichts, beruhigte Olivier sich. Nur eine Geschichte. Erneut blickte er auf die glimmenden Scheite, um das Entsetzen im Gesicht des Eremiten nicht sehen zu müssen. Dann schaute er auf seine Uhr, drehte das Zifferblatt in Richtung der Feuerstelle, bis es orange leuchtete und ihm die Zeit sagte. Halb drei morgens.

    »Das Chaos nähert sich, Old Son, und es lässt sich nicht aufhalten. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist es da.«

    Der Eremit nickte, seine Augen tränten, vielleicht vom Rauch des Feuers, vielleicht von etwas anderem. Olivier lehnte sich zurück, stellte überrascht fest, dass ihn plötzlich jeder einzelne Muskel schmerzte, und ihm wurde klar, dass er während dieser ganzen fürchterlichen Geschichte völlig angespannt dagesessen hatte.

    »Tut mir leid. Es ist schon spät, und Gabri macht sich bestimmt Sorgen. Ich muss gehen.«

    »Schon?«

    Olivier stand auf, pumpte frisches kaltes Wasser in das Emaillebecken und spülte seinen Becher aus. Dann drehte er sich um.

    »Ich komme bald wieder.« Er lächelte.

    »Warte, ich will dir etwas geben«, sagte der Eremit und sah sich in der Blockhütte um. Oliviers Blick schoss in die Ecke, wo der kleine Leinensack lag. Ungeöffnet. Mit einem Stück Schnur zugebunden.

    Der Eremit lachte leise. »Eines Tages vielleicht, Olivier. Aber nicht heute.«

    Er ging zu dem von Hand gehauenen Kaminsims, nahm einen winzigen Gegenstand und hielt ihn seinem gut aussehenden blonden Besucher entgegen.

    »Für die Einkäufe.« Er deutete auf Käse, Milch, Tee, Kaffee, Brot und die Konservenbüchsen auf der Arbeitsplatte.

    »Nein, dafür nehme ich nichts. Es ist mir eine Freude«, sagte Olivier, aber beide kannten das Spiel und wussten, dass er das kleine Geschenk annehmen würde. »Merci«, sagte Olivier an der Tür.

    Im Wald fand eine wilde Jagd statt, als ein dem Tod geweihtes Geschöpf davonhetzte, um seinem Schicksal zu entfliehen, und Kojoten hinterherhetzten, um es zu besiegeln.

    »Sei vorsichtig«, sagte der alte Mann und ließ seinen Blick über den Nachthimmel wandern. Und dann, bevor er die Tür schloss, flüsterte er ein einzelnes Wort, das rasch vom Wald verschluckt wurde. Olivier fragte sich, ob der Eremit sich bekreuzigte und ein Gebet sprach, sich gegen die Tür lehnte, die massiv war, aber vielleicht nicht massiv genug.

    Und er fragte sich, ob der alte Mann die Geschichten von der großen, grimmigen Armee glaubte, mit der Chaos herannahte und die Furien anführte. Erbarmungslos, unaufhaltsam. Nah.

    Und hinter ihr kam noch etwas anderes. Etwas Unaussprechliches.

    Und er fragte sich, ob der Eremit an die Gebete glaubte.

    Olivier knipste seine Taschenlampe an und suchte mit dem Lichtstrahl die Dunkelheit ab. Er war von grauen Baumstämmen umgeben. Er leuchtete hierhin und dorthin, suchte nach dem schmalen Pfad durch den spätsommerlichen Wald. Sobald er ihn gefunden hatte, beschleunigte er seine Schritte. Und je schneller er lief, desto mehr fürchtete er sich, und je mehr er sich fürchtete, desto schneller lief er, bis er ins Stolpern geriet, von finsteren Worten durch den finsteren Wald gejagt.

    Endlich brach er zwischen den Bäumen hervor und blieb schwankend stehen, die Hände auf die Knie gestützt, nach Atem ringend. Dann richtete er sich langsam auf und blickte hinunter auf das Dorf im Tal.

    Three Pines schlief, wie es das immer zu tun schien. Mit sich und der Welt im Reinen. Sich dessen, was um es herum geschah, nicht bewusst. Oder vielleicht nahm es auch alles wahr, zog aber seinen Frieden vor. Hinter einigen Fenstern brannte sanftes Licht. In bescheidenen alten Häusern waren die Vorhänge zugezogen. Der süße Geruch der ersten Herbstfeuer wehte ihm entgegen.

    Und mitten in dem kleinen Quebecer Dorf standen drei riesige Kiefern, wie Wächter.

    Olivier war in Sicherheit. Er griff in seine Tasche.

    Das Geschenk. Die winzige Bezahlung. Er hatte sie liegen lassen.

    Fluchend drehte Olivier sich um und blickte auf den Wald, der sich hinter ihm wieder geschlossen hatte. Erneut dachte er an den kleinen Leinensack in der Ecke der Blockhütte. An dieses Ding, mit dem ihn der Eremit gelockt hatte, das er ihm versprochen, vor die Nase gehalten hatte. Das Ding, das ein Mann versteckte, der sich selbst versteckte.

    Olivier war müde und missmutig, und er ärgerte sich über sich selbst, weil er das kleine Geschenk vergessen hatte. Und er ärgerte sich über den Eremiten, weil er ihm dieses andere nicht gegeben hatte. Das Ding, das er sich mittlerweile verdient hatte.

    Nach kurzem Zögern machte er kehrt und tauchte erneut in den Wald ein, tastete sich vorwärts, während sein Ärger immer größer wurde. Und während er weiterging und schließlich rannte, folgte ihm eine Stimme, drang von hinten auf ihn ein, trieb ihn vorwärts.

    »Das Chaos ist hier, Old Son.«

    2

    »Geh du ran.«

    Gabri zog sich die Decke bis unters Kinn und blieb still liegen. Doch das Telefon klingelte weiter, und Olivier neben ihm bekam offenbar nichts mit von der Welt. Draußen fiel sanfter Nieselregen, und das erste Licht des feuchtkalten Sonntagmorgens breitete sich in ihrem Schlafzimmer aus. Aber unter der Daunendecke war es warm und gemütlich, und er hatte nicht die Absicht, sich von der Stelle zu rühren.

    Er stupste Olivier an. »Aufwachen.«

    Nichts, nur ein Schnauben.

    »Es brennt!«

    Immer noch nichts.

    »Ethel Merman!«

    Nichts. Du lieber Himmel, war er etwa tot?

    Gabri beugte sich über seinen Lebensgefährten, sah die kostbaren, dünner werdenden Haare, die auf dem Kissen und über seiner Stirn lagen. Die Augen geschlossen, friedlich. Oliviers Geruch stieg ihm in die Nase, ein Hauch Moschus, leicht verschwitzt. Bald würden sie beide duschen und nach Ivory-Seife duften.

    Das Telefon klingelte erneut.

    »Es ist deine Mutter«, flüsterte Gabri Olivier ins Ohr.

    »Was?«

    »Geh ans Telefon. Es ist deine Mutter.«

    Olivier setzte sich auf, öffnete mit Mühe die Augen und blickte sich verschlafen um, als würde er aus einem langen Tunnel auftauchen. »Meine Mutter? Aber sie ist doch schon seit Jahren tot.«

    »Wenn jemand von den Toten aufersteht, um’s dir mal richtig zu geben, dann sie.«

    »Wenn’s mir einer gibt, dann du.«

    »Hättest du wohl gern. Geh endlich ans Telefon.«

    Olivier streckte den Arm über Gabri, der wie ein Berg neben ihm aufragte, und nahm den Hörer ab.

    »Allô?«

    Gabri kuschelte sich wieder in die warmen Kissen, als sein Blick auf die Leuchtanzeige der Uhr fiel. 6:43. An einem Sonntag. Am langen Labour-Day-Wochenende.

    Wer rief denn in dieser Herrgottsfrühe an?

    Er setzte sich auf und sah seinem Lebensgefährten ins Gesicht, beobachtete es, wie ein Flugpassagier während des Starts das Gesicht der Stewardess beobachtete. Wirkte sie beunruhigt? Verängstigt?

    Er sah, wie Oliviers Gesichtsausdruck von leicht besorgt zu verwirrt wechselte, und im nächsten Moment sackten seine fragend hochgezogenen blonden Augenbrauen nach unten, und alles Blut wich aus seinem Gesicht.

    Du lieber Gott, dachte Gabri. Wir stürzen ab.

    »Was ist los?«, fragte er leise.

    Olivier gab keine Antwort, hörte zu. Aber sein hübsches Gesicht sprach Bände. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

    »Was ist passiert?«, zischte Gabri.

    Mit flatternden Regenmänteln rannten sie über den Dorfanger. Myrna Landers, im Kampf mit ihrem riesigen Regenschirm, kam ihnen entgegen, und gemeinsam liefen sie zum Bistro. Es dämmerte, und die Welt war grau und feucht. Nach der kurzen Strecke bis zum Bistro klebten ihnen die Haare am Kopf, und ihre Kleider waren durchgeweicht, aber das war Olivier und Gabri ausnahmsweise egal. Schlitternd blieben sie neben Myrna vor dem Backsteingebäude stehen.

    »Ich habe bei der Polizei angerufen. Sie müssten bald da sein«, sagte Myrna.

    »Bist du dir sicher?« Olivier sah seine Freundin und Nachbarin an. Sie war groß, dick und nass, trug quietschgelbe Gummistiefel zu einem lindgrünen Regenmantel und umklammerte ihren roten Regenschirm. Sie sah aus wie ein explodierter Wasserball. Aber gleichzeitig hatte sie noch nie ernster ausgesehen. Natürlich war sie sich sicher.

    »Ich bin rein und hab nachgesehen«, sagte sie.

    »Mein Gott«, flüsterte Gabri. »Wer ist es?«

    »Keine Ahnung.«

    »Was soll das heißen?«, fragte Olivier. Dann legte er die schmalen Hände an die Schläfen, um seine Augen gegen das schwache Morgenlicht abzuschirmen, und spähte durch das Fenster seines Bistros. Myrna hielt ihren leuchtend roten Regenschirm über ihn.

    Oliviers Atem beschlug die Scheibe, aber vorher sah er noch, was Myrna gesehen hatte. Da war jemand im Bistro. Er lag auf den alten Holzdielen. Mit dem Gesicht nach oben.

    »Was ist?«, fragte Gabri und reckte den Hals, um über Oliviers Kopf hinweg etwas sehen zu können.

    Aber eine Antwort war nicht nötig. Oliviers Gesicht sagte alles. Gabri drehte sich zu der großen schwarzen Frau neben ihm.

    »Ist er tot?«

    »Schlimmer.«

    Gabri fragte sich, was schlimmer als tot sein konnte.

    In ihrem Dorf kam Myrna einem Arzt am nächsten. Sie hatte in Montréal als Psychologin gearbeitet, bevor zu viele traurige Geschichten und zu viel gesunder Menschenverstand die Oberhand gewannen und sie ihren Beruf an den Nagel hängte. Sie hatte ihr Auto vollgeladen, um ein paar Monate durch die Gegend zu fahren, bevor sie sich irgendwo niederließ. An irgendeinem Ort, wo es ihr gefiel.

    Eine Stunde von Montréal entfernt stieß sie auf Three Pines, hielt an, um im Dorfbistro einen Café au Lait zu trinken und ein Croissant zu essen, und ging nie mehr weg. Sie lud ihr Auto aus, mietete den Laden neben dem Bistro mit der Wohnung darüber und machte einen Buchladen mit Antiquariat auf.

    Die Leute kamen, um Bücher zu kaufen und um sich zu unterhalten. Sie brachten Myrna ihre Geschichten mit, manche zwischen Buchdeckeln verwahrt, andere im Herzen. Manche Geschichten waren wahr, andere erfunden. Sie honorierte sie alle, auch wenn sie ihnen nicht jede abkaufte.

    »Wir sollten reingehen«, sagte Olivier. »Damit niemand der Leiche zu nahe kommt. Alles in Ordnung mit dir?«

    Gabri hatte die Augen geschlossen, doch jetzt öffnete er sie wieder. Er wirkte etwas gefasster. »Ja. Das ist nur der erste Schock. Ich glaube, ich kenne ihn nicht.«

    Myrna sah auf seinem Gesicht die gleiche Erleichterung, die sie empfunden hatte, als sie vor der Leiche stand. So traurig es war, aber ein toter Fremder war wesentlich besser als ein toter Freund.

    Im Gänsemarsch betraten sie das Bistro, dicht aneinandergedrängt, als könnte der Tote die Hand ausstrecken und einen von ihnen mit sich ziehen. Vorsichtig näherten sie sich ihm und starrten auf ihn hinunter, aus ihren Haaren und von ihren Nasen tropfte Regenwasser auf seine abgetragene Kleidung und bildete eine Pfütze auf den breiten Holzdielen. Schließlich zog Myrna die beiden Männer sanft vom Abgrund zurück.

    Denn genau so empfanden sie es. An diesem Feiertagswochenende waren sie in ihrem gemütlichen Bett aufgewacht, in ihrem gemütlichen Zuhause, in ihrem gemütlichen Leben und stellten fest, dass sie plötzlich über dem Rand einer Klippe hingen.

    Alle drei wandten sich stumm ab. Sahen einander mit großen Augen an.

    Da lag ein toter Mann im Bistro.

    Und nicht nur tot, sondern noch schlimmer.

    Während sie auf die Polizei warteten, brühte Gabri eine Kanne Kaffee auf, und Myrna zog ihren Regenmantel aus, setzte sich ans Fenster und sah in den nebligen Septembertag hinaus. Olivier legte Holz in die Kamine an beiden Enden des Raums und machte Feuer. Er stocherte heftig darin herum und spürte die Wärme an seiner feuchten Kleidung. Sein Körper fühlte sich taub an, und das lag nicht nur an der Kälte, die ihm bis in die Knochen gekrochen war.

    Als sie sich über den Toten gebeugt hatten, hatte Gabri »Der Arme« gemurmelt.

    Myrna und Olivier hatten genickt. Was sie sahen, war ein alter Mann in schäbiger Kleidung, der zu ihnen hochstarrte. Sein Gesicht war blass, in seinen Augen lag ein überraschter Ausdruck, sein Mund stand leicht offen.

    Myrna hatte auf seinen Hinterkopf gedeutet. Die kleine Wasserpfütze färbte sich allmählich rosa. Gabri beugte sich vorsichtig näher, während Olivier sich nicht rührte. Was ihn fassungslos und schockstarr dastehen ließ, war nicht der zerschmetterte Hinterkopf des toten Mannes, sondern seine Vorderseite. Sein Gesicht.

    »Mon Dieu, Olivier, der Mann wurde ermordet. Oh mein Gott.«

    Olivier starrte weiter in die toten Augen.

    »Aber wer ist das?«, flüsterte Gabri.

    Es war der Eremit. Tot. Ermordet. Im Bistro.

    »Ich weiß es nicht«, sagte Olivier.

    Der Anruf erreichte Chief Inspector Armand Gamache nach dem Sonntagsbrunch, als er zusammen mit Reine-Marie gerade den Tisch abgeräumt hatte. Aus dem Esszimmer ihrer Wohnung im Montréaler Stadtteil Outremont konnte er die Stimmen seines Stellvertreters Jean-Guy Beauvoir und seiner Tochter Annie hören. Sie unterhielten sich nicht. Sie unterhielten sich nie. Sie stritten. Vor allem wenn Jean-Guys Frau Enid nicht als Puffer dabei war. Enid hatte sich heute entschuldigen lassen, weil sie Stundenpläne ausarbeiten musste. Jean-Guy dagegen schlug nie eine Einladung zu einer kostenlosen Mahlzeit aus. Selbst wenn sie einen Preis hatte. Und dieser Preis war jedes Mal Annie.

    Begonnen hatte es bei frisch gepresstem Orangensaft, bei Rührei und Brie war es weitergegangen und über frischem Obst, Croissants und confitures hatte es sich noch einmal gesteigert.

    »Wie kann man denn den Einsatz von Elektroschockpistolen verteidigen?«, war Annies Stimme aus dem Esszimmer zu vernehmen.

    »Das war wieder mal ein wunderbarer Brunch, merci, Reine-Marie«, sagte David, stellte das schmutzige Geschirr neben die Spüle und gab seiner Schwiegermutter einen Kuss auf die Wange. Er war von mittlerer Statur und hatte dunkles, bereits lichter werdendes Haar. Mit seinen dreißig Jahren war er ein paar Jahre älter als seine Frau Annie, wirkte aber meist jünger. Gamache dachte oft, dass seine hervorstechendste Eigenschaft seine Lebendigkeit war. Nicht hyperaktiv, aber voller Energie. Er hatte ihn sofort gemocht, als Annie ihm David vor fünf Jahren vorgestellt hatte. Im Gegensatz zu den anderen jungen Männern, die Annie mit nach Hause gebracht hatte, meistens Juristen wie sie selbst, hatte David nicht versucht, den Chief Inspector an Männlichkeit zu übertrumpfen. An solchen Spielchen hatte Gamache kein Interesse. Und sie beeindruckten ihn auch nicht. Was ihn beeindruckte, war, wie sich David bei ihrem Kennenlernen verhalten hatte. Er hatte das Gesicht zu einem strahlenden Lächeln verzogen, ein Lächeln, das den ganzen Raum zu füllen schien, und einfach nur »Bonjour« gesagt.

    Er war anders als jeder andere Mann, für den Annie sich jemals interessiert hatte. David war kein Wissenschaftler, kein Sportler, er sah auch nicht umwerfend gut aus. Er würde nicht der nächste Premierminister von Québec werden, nicht einmal der Chef einer Anwaltsfirma.

    Nein, David war einfach freundlich und aufgeschlossen.

    Annie hatte ihn geheiratet, und Armand Gamache hatte zusammen mit Reine-Marie seine einzige Tochter mit Freuden zum Altar geführt. Und zugesehen, wie dieser nette Mann der Ehemann seiner Tochter wurde.

    Denn Armand Gamache kannte das Gegenteil von nett. Er kannte Grausamkeit, Verzweiflung, Entsetzen. Und er wusste, was für eine in Vergessenheit geratene und wertvolle Eigenschaft »nett« war.

    »Wär’s dir lieber, wenn wir Verdächtige einfach erschießen?« Im Esszimmer war Beauvoirs Stimme lauter und schärfer geworden.

    »Danke, David«, sagte Reine-Marie und griff nach den Tellern. Gamache gab seinem Schwiegersohn ein frisches Geschirrtuch und gemeinsam trockneten sie ab, während Reine-Marie spülte.

    »Also«, David wandte sich dem Chief Inspector zu, »was meinst du, haben die Habs dieses Jahr eine Chance auf den Cup?«

    »Nein«, schrie Annie, »ich erwarte, dass ihr endlich lernt, wie man jemanden festnimmt, ohne ihn zu verletzen oder zu töten. Ich erwarte, dass ihr Verdächtige als genau das betrachtet. Als Verdächtige. Nicht als minderwertige Kriminelle, die ihr zusammenschlagen, unter Strom setzen oder erschießen könnt.«

    »Ich denke schon«, sagte Gamache, gab einen Teller zum Abtrocknen an David weiter und nahm sich den nächsten. »Der neue Torwart ist gut, und ich finde, dass sie sich im Angriff weiterentwickelt haben. Das ist eindeutig ihr Jahr.«

    »Aber in der Verteidigung haben sie immer noch Schwächen, oder?«, sagte Reine-Marie. »Die Canadiens konzentrieren sich immer viel zu sehr auf die Offensive.«

    »Versuch du mal, einen bewaffneten Mörder festzunehmen. Das würde ich wirklich gern sehen. Du, du …« Beauvoir verhaspelte sich. Die Unterhaltung in der Küche geriet ins Stocken, während sie lauschten, was er als Nächstes sagen würde. So einen Streit brachen die beiden bei jedem Brunch vom Zaun, an jedem Weihnachtsfest, Thanksgiving, Geburtstag. Die Wortwahl variierte. Wenn sie sich nicht wegen Elektroschockpistolen in die Haare gerieten, stritten sie über Kindertagesstätten, das Bildungssystem oder die Umwelt. Wenn Annie blau sagte, sagte Beauvoir orange. Das war schon so gewesen, als Inspector Beauvoir vor zwölf Jahren zur Mordkommission der Sûreté du Québec gestoßen war. Er war ein Mitglied des Teams geworden und ein Mitglied der Familie.

    »Du was?«, fragte Annie.

    »Du blöde Paragrafenreiterin.«

    Reine-Marie zeigte auf die Hintertür der Küche, die zu einem schmalen Balkon mit einer Feuertreppe führte. »Sollen wir?«

    »Flüchten?«, flüsterte Gamache in der Hoffnung, sie würde es ernst meinen, wenngleich er es bezweifelte.

    »Du könntest sie doch einfach erschießen, Armand«, schlug David vor.

    »Ich fürchte, Jean-Guy zieht schneller«, antwortete der Chief Inspector. »Er würde mich zuerst erwischen.«

    »Trotzdem«, sagte seine Frau, »einen Versuch wäre es wert.«

    »Paragrafenreiterin?«, sagte Annie, und ihre Stimme triefte vor Verachtung. »Großartig. Du blöder Fascho.«

    »Aber ich könnte vielleicht eine Elektroschockpistole nehmen«, sagte Gamache.

    »Fascho? Fascho?« Jean-Guy Beauvoir kreischte fast. In der Küche richtete sich Henri, der Schäferhund der Gamaches, in seinem Korb auf und legte den Kopf schief. Angesichts seiner überdimensional großen Ohren hegte Gamache die Vermutung, dass er nicht reinrassig war, sondern eher eine Kreuzung zwischen einem Schäferhund und einer Satellitenschüssel.

    »Oh, oh«, sagte David. Henri rollte sich in seinem Korb zusammen, und es war offensichtlich, dass David am liebsten zu ihm gekrochen wäre.

    Alle drei blickten wehmütig durch die Hintertür in den verregneten, kalten Septembertag hinaus. Labour-Day-Wochenende in Montréal. Annie erwiderte etwas Unverständliches. Beauvoirs Antwort war dagegen deutlich zu verstehen.

    »Du kannst mich mal.«

    »Nun ja, ich denke, das war’s für heute«, sagte Reine-Marie. »Will noch jemand Kaffee?« Sie zeigte auf die Espressomaschine.

    »Non, pas pour mois, merci«, sagte David mit einem Lächeln. »Und für Annie bitte auch keinen mehr.«

    »Blöde Kuh«, murmelte Jean-Guy vor sich hin, als er die Küche betrat. Er riss ein Geschirrtuch vom Haken und begann wütend einen Teller abzutrocknen. Gamache nahm an, dass sie das Indian-Tree-Muster zum letzten Mal sahen. »Bitte sagen Sie, dass Sie sie adoptiert haben.«

    »Nein, alles selbst gemacht.« Reine-Marie reichte ihrem Mann den nächsten Teller.

    »Du kannst mich mal.« Annies dunkler Schopf tauchte kurz in der Küchentür auf und verschwand wieder.

    »Unser Goldkind«, sagte Reine-Marie.

    Von ihren beiden Kindern kam Daniel mehr nach seinem Vater. Groß, nachdenklich, analytisch. Er war freundlich und ruhig und stark. Als Annie auf die Welt gekommen war, hatte Reine-Marie, vielleicht aus einem natürlichen Impuls heraus, gedacht, dieses Kind würde ihr ähneln. Warmherzig, intelligent, fröhlich. Mit einer ausgeprägten Leidenschaft für Bücher, die bei Reine-Marie dazu geführt hatte, dass sie Bibliothekarin geworden war und schließlich die Leitung einer Abteilung der Bibliothèque nationale in Montréal übernommen hatte.

    Doch Annie hatte sie beide überrascht. Sie war klug, ehrgeizig und witzig. Sie war leidenschaftlich, in allem, was sie tat und fühlte.

    Eigentlich hätten sie es sich denken können. In Annies ersten Lebensmonaten war Armand stundenlang mit ihr im Auto herumgefahren und hatte versucht, das schreiende Baby zu beruhigen. Mit seinem tiefen Bariton hatte er ihr Lieder von den Beatles und von Jacques Brel vorgesungen. »La Complainte du phoque en Alaska« von Beau Dommage. Das war Daniels Lieblingslied. Eine gefühlvolle Ballade. Bei Annie bewirkte sie gar nichts.

    Eines Tages drehte er den Zündschlüssel, nachdem er das kreischende Kind in seinem Sitz angeschnallt hatte, und auf dem Kassettendeck begann eine alte Kassette der Weavers zu laufen.

    Als die Falsettostimmen zu singen anfingen, hatte Annie sich beruhigt.

    Zunächst war es ihm wie ein Wunder erschienen. Aber nach der hundertsten Runde um den Block mit einem glucksenden Kind und dem »Wimoweh, a wimoweh« der Weavers begann Gamache sich nach den guten alten Zeiten zu sehnen und stand kurz davor, selbst zu kreischen. Doch irgendwann schlief der kleine Löwe ein.

    Annie wurde zu ihrem Löwenjungen. Und wuchs zu einer Löwin heran. Aber manchmal, wenn sie miteinander spazieren gingen, erzählte sie ihrem Vater von ihren Ängsten und ihren Enttäuschungen und den kleinen Sorgen ihres jungen Lebens. Und dann überkam Chief Inspector Gamache der Wunsch, sie fest an sich drücken, damit sie nicht dauernd die Tapfere geben musste.

    Sie war leidenschaftlich, weil sie Angst hatte. Vor allem und jedem.

    Der Rest der Welt sah eine starke, edle Löwin. Er blickte auf seine Tochter und sah ein verschrecktes Löwenbaby vor sich, auch wenn er ihr das nie sagen würde. Oder ihrem Mann.

    Erneut tauchte Annie in der Tür auf. »Können wir reden?«, fragte sie ihren Vater, ohne Beauvoir eines Blickes zu würdigen. Gamache nickte und drückte sein Geschirrtuch David in die Hand. Sie gingen den Flur hinunter in das gemütliche Wohnzimmer, in dem unzählige Bücher ordentlich aufgereiht in Regalen standen und nicht ganz so ordentlich unter Tischen und neben dem Sofa gestapelt waren. Auf dem Beistelltisch lagen Le Devoir und die New York Times, und im Kamin brannte ein angenehmes Feuer. Nicht die lodernden Flammen eines bitterkalten Winters, sondern die sanft züngelnde Flamme eines frühen Herbstes.

    Sie sprachen ein paar Minuten über Daniel, der mit seiner Frau und seiner Tochter in Paris lebte und gegen Ende des Monats Vater einer zweiten Tochter werden würde. Sie sprachen über ihren Mann David und seine Eishockeymannschaft, die sich auf die Winterspielzeit vorbereitete.

    Größtenteils hörte Gamache zu. Er war sich nicht sicher, ob Annie etwas auf dem Herzen hatte oder nur reden wollte. Henri trottete ins Zimmer und legte den Kopf auf Annies Schoß. Sie kraulte seine Ohren, was er mit Seufzen quittierte. Schließlich legte er sich vor den Kamin.

    In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Gamache ignorierte es.

    »Ich glaube, das ist das Telefon in deinem Arbeitszimmer«, sagte Annie. Sie sah es durch die offene Tür in dem mit Büchern vollgestopften Zimmer, wo es immer schwach nach Sandelholz und Rosenwasser roch, neben dem Computer und dem Notizbuch auf dem alten Schreibtisch stehen.

    In dem Zimmer gab es drei Stühle, und Daniel und sie hatten sich immer auf die beiden Drehstühle gesetzt und sich so lange im Kreis gedreht, bis ihnen schlecht wurde, während ihr Vater ruhig in seinem Lehnstuhl saß und las. Oder manchmal auch einfach nur in die Ferne sah.

    »Ja, ich denke auch.«

    Das Telefon klingelte erneut. Ein Geräusch, das sie gut kannten. Irgendwie unterschied es sich von dem anderer Telefone. Dieser Klingelton kündigte einen Tod an.

    Annie rutschte auf dem Sessel hin und her.

    »Das kann warten«, sagte er ruhig. »Wolltest du mir etwas sagen?«

    »Soll ich rangehen?« Jean-Guy streckte den Kopf durch die Tür. Er lächelte Annie zu, dann wanderte sein Blick rasch zum Chief Inspector.

    »Ja, bitte. Ich komme gleich.«

    Er drehte sich wieder zu seiner Tochter, aber inzwischen war David ins Zimmer gekommen, und Annie hatte wieder ihr öffentliches Gesicht aufgesetzt. Es unterschied sich nicht einmal so stark von ihrem privaten. Vielleicht war es nur etwas weniger verletzlich. Und während David sich neben sie setzte und ihre Hand nahm, fragte ihr Vater sich kurz, warum in Gegenwart ihres Mannes ihr öffentliches Gesicht nötig war.

    »Es gab einen Mord, Sir«, sagte Inspector Beauvoir leise. Er war an der Tür stehen geblieben.

    »Ja«, sagte Gamache und sah zu seiner Tochter.

    »Geh nur, Papa.« Sie wedelte mit der Hand, nicht um ihn wegzuschicken, sondern um ihm zu verstehen zu geben, dass er ihretwegen nicht bleiben müsste.

    »Das hat Zeit. Hast du Lust auf einen Spaziergang?«

    »Es gießt in Strömen«, sagte David und lachte. Gamache hatte seinen Schwiegersohn wirklich sehr gern, aber manchmal war David reichlich begriffsstutzig. Annie lachte ebenfalls.

    »Also echt, Papa, bei dem Wetter würde nicht mal Henri rausgehen.«

    Henri sprang auf und lief zu seinem Ball. Die beiden verhängnisvollen Wörter »Henri« und »rausgehen« übten in ihrer Kombination eine unwiderstehliche Macht aus.

    »Na dann«, sagte Gamache, als der Schäferhund wieder ins Zimmer gesprungen kam. »Ich muss arbeiten.«

    Er bedachte Annie und David mit einem bedeutungsvollen Blick und sah dann zu Henri. Das konnte nicht einmal David missverstehen.

    »Na schön«, sagte er gut gelaunt, erhob sich von dem bequemen Sofa und machte sich mit Annie auf die Suche nach Henris Leine.

    Als Chief Inspector Gamache und Inspector Beauvoir in Three Pines ankamen, hatte die örtliche Polizei das Bistro bereits abgesperrt, und die Dorfbewohner standen unter aufgespannten Regenschirmen herum und starrten auf das alte Backsteingebäude. Schauplatz so vieler Essen und Drinks und Feiern. Jetzt Schauplatz eines Verbrechens.

    Bevor Beauvoir den flachen Hügel ins Dorf hinunterfuhr, bat Gamache ihn anzuhalten.

    »Was ist?«, fragte der Inspector.

    »Ich möchte nur mal schauen.«

    Die beiden Männer saßen in dem warmen Auto und betrachteten das Dorf, während sich die Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe gemächlich hin und her bewegten. Vor ihnen lag der Dorfanger mit dem Teich und der Bank, den Rosen- und Hortensienbeeten, spätblühendem Phlox und Stockrosen. Und an seinem Ende standen die drei großen Kiefern wie ein Anker für Anger und Dorf.

    Gamaches Blick wanderte zu den Häusern rings um den Dorfanger. Cottages mit verwitterten weißen Schindeln und breiten Veranden, auf denen Korbstühle standen. Winzige Natursteinhäuser, vor Jahrhunderten von den ersten Siedlern errichtet, die das Land gerodet und die Steine aus der Erde geholt hatten. Die meisten Häuser waren jedoch aus rotem Backstein, erbaut von den United Empire Loyalists, die vor der Amerikanischen Revolution geflohen waren. Three Pines lag nur wenige Kilometer von der Grenze zu Vermont entfernt, und anders als heute hatte es damals keine engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten gegeben. Die Menschen, die das Dorf gegründet hatten, waren auf der verzweifelten Suche nach einem Zufluchtsort gewesen, um einem Krieg zu entkommen, an den sie nicht glaubten.

    Der Blick des Chief Inspectors wanderte an der Rue du Moulin entlang den Hügel hinauf bis zu der kleinen weißen Kirche St. Thomas.

    Dann sah er wieder zu der Schar von Leuten, die unter ihren Regenschirmen beieinanderstanden, redeten, auf etwas zeigten, etwas anstarrten.

    Oliviers Bistro lag in der Mitte der in einem Halbkreis angeordneten Läden. Einer war an den anderen gebaut. Erst kam der Gemischtwarenladen von Monsieur Béliveau, dann Sarahs Bäckerei, dann Oliviers Bistro und schließlich Myrnas Buchladen und Antiquariat.

    »Fahren wir.« Gamache nickte.

    Auf diese Aufforderung hatte Beauvoir nur gewartet, und er ließ das Auto langsam wieder anrollen. Auf die eng aneinandergedrängten Verdächtigen zu, auf den Mörder zu.

    Allerdings hatte eine der ersten Lektionen, die der Chef Beauvoir beigebracht hatte, als er ihn in die berühmte Mordkommission der Sûreté du Québec holte, gelautet, dass sie sich auf der Jagd nach einem Mörder nicht vorwärtsbewegten. Sie bewegten sich rückwärts. In die Vergangenheit. Dort hatte das Verbrechen begonnen, dort hatte der Täter begonnen. Irgendein Ereignis, von allen anderen wahrscheinlich längst vergessen, hatte sich im Mörder festgesetzt. Und es hatte in ihm zu schwären begonnen.

    Das, was tötet, kann man nicht sehen, hatte der Chef Beauvoir gewarnt. Das macht es so gefährlich. Es ist keine Pistole und auch kein Messer oder eine Faust. Es ist nichts, was man kommen sieht. Es ist ein Gefühl. Ranzig geworden, verfault. Das auf eine Gelegenheit zum Zuschlagen wartete.

    Langsam näherte sich das Auto dem Bistro, der Leiche.

    »Merci«, sagte Gamache eine Minute später, als ein Polizist von der örtlichen Dienststelle der Sûreté ihnen die Tür zum Bistro öffnete. Der junge Mann hatte dazu angesetzt, den Fremden zu fragen, wer er eigentlich sei, dann jedoch gezögert.

    Beauvoir genoss es jedes Mal von Neuem. Die Reaktion der Polizisten vor Ort, wenn ihnen dämmerte, dass dieser große Mann Anfang fünfzig nicht einfach ein neugieriger Anwohner war. Für die jungen Polizisten sah Gamache wie ihr Vater aus. Er hatte etwas Distinguiertes. Stets trug er Anzug und Krawatte oder, wie an diesem Tag, ein Jackett und eine graue Flanellhose.

    Sie registrierten den sorgfältig gestutzten ergrauten Schnurrbart. Auch seine Haare begannen um die Ohren herum, wo sie sich leicht lockten, grau zu werden. An regnerischen Tagen wie diesem trug der Chef eine Tweedkappe, und wenn er sie beim Betreten eines Raums abnahm, sahen die jungen Polizisten eine beginnende Glatze. Und was ihnen noch auffiel, waren die Augen dieses Mannes. Sie fielen jedem auf. Sie waren von einem tiefen Braun, nachdenklich, intelligent und noch etwas anderes. Etwas, das den berühmten Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec von jedem anderen ranghöheren Beamten unterschied.

    Seine Augen waren freundlich.

    Es war zugleich seine Stärke und seine Schwäche, wie Beauvoir wusste.

    Gamache lächelte dem verdatterten jungen Agent zu, der sich Auge in Auge mit dem berühmtesten Polizisten von ganz Québec wiederfand. Er streckte die Hand aus, und der junge Agent starrte sie einen Moment lang an, bevor er sie ergriff. »Patron«, sagte er.

    »Ach, ich habe so gehofft, dass Sie kommen.« Gabri kam auf ihn zugeeilt, vorbei an den Polizisten, die sich über das Opfer beugten. »Wir haben darum gebeten, dass die Sûreté Sie schickt, aber offenbar ist nicht vorgesehen, dass Verdächtige einen bestimmten Ermittler anfordern.« Er umarmte den Chief Inspector und drehte sich zu den anderen Polizisten im Raum um. »Ich hab’s doch gesagt, dass ich ihn kenne.« Dann flüsterte er Gamache zu: »Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns nicht küssen.«

    »Eine gute Idee.«

    Gabri wirkte müde und angespannt, aber gefasst. Er sah leicht derangiert aus, was aber nicht weiter ungewöhnlich war. Hinter ihm stand Olivier, still, geradezu abwesend. Auch er sah derangiert aus, was äußerst ungewöhnlich war. Er machte einen erschöpften Eindruck und hatte dunkle Ringe unter den Augen.

    »Gerade ist jemand von der Rechtsmedizin eingetroffen.« Agent Isabelle Lacoste durchquerte den Raum, um Gamache zu begrüßen. Sie trug einen schlichten Rock und einen leichten Pullover und schaffte es, darin chic auszusehen. Wie die meisten Quebecerinnen war sie zierlich und selbstbewusst. »Ach, es ist Dr. Harris.«

    Alle blickten aus dem Fenster, und die Menge teilte sich, um eine Frau mit einem Arztkoffer durchzulassen. Anders als Agent Lacoste schaffte es Dr. Harris, in dem schlichten Rock und dem Pullover unter ihrem Regenmantel etwas altbacken auszusehen. Aber es wirkte bequem. Und an einem scheußlichen Tag wie diesem war »bequem« ziemlich verlockend.

    »Schön«, sagte der Chief Inspector und wandte sich wieder Agent Lacoste zu. »Was wissen wir?«

    Lacoste führte Gamache und Inspector Beauvoir zu der Leiche. Sie knieten sich hin, eine Handlung und ein Ritual, die sie schon Hunderte Male ausgeführt hatten. Es hatte etwas erstaunlich Intimes. Sie berührten den Toten nicht, aber sie beugten sich tief über ihn, kamen ihm näher, als sie sonst jemandem kommen würden, abgesehen von einem geliebten Menschen.

    »Das Opfer wurde von hinten mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen. Glatt, hart und schmal.«

    »Ein Schürhaken?«, fragte Beauvoir und blickte zu den Kaminfeuern, die Olivier angefacht hatte. Gamache folgte seinem Blick. Es war ein regnerischer Vormittag, aber nicht besonders kalt. Ein Feuer war nicht nötig. Aber wahrscheinlich sollte es auch eher trösten als wärmen.

    »Wenn es ein Schürhaken war, muss er sauber gewesen sein. Natürlich wird Dr. Harris sich das noch genauer ansehen, aber auf den ersten Blick sind an der Wunde keine Spuren von Schmutz, Asche, Holz oder Ähnlichem zu entdecken.«

    Gamache betrachtete das klaffende Loch im Kopf des Mannes. Hörte Agent Lacoste zu.

    »Also keine Tatwaffe?«, fragte Beauvoir.

    »Noch nicht. Wir suchen natürlich weiter.«

    »Wer war er?«

    »Das wissen wir nicht.«

    Gamache wandte den Blick von der Wunde ab und sah Lacoste an, sagte jedoch nichts.

    »Er hatte keinen Ausweis bei sich«, fuhr Agent Lacoste fort. »Wir haben seine Taschen durchsucht und nichts gefunden. Nicht mal ein Papiertaschentuch. Niemand scheint ihn zu kennen. Weiß, männlich, Mitte siebzig, würde ich sagen. Hager, aber nicht unterernährt. Knapp eins siebzig.«

    Vor einigen Jahren, als Isabelle Lacoste neu in der Mordkommission gewesen war, hatte sie es merkwürdig gefunden, dem Chef all das aufzuzählen, was er selbst sehen konnte. Aber es war eine seiner Lektionen gewesen, und deshalb tat sie es. Erst Jahre später, als sie selbst jemanden ausbildete, hatte sie begriffen, wie wichtig diese Übung war.

    Sie stellte sicher, dass sie alle dasselbe sahen. Polizisten waren ebenso fehlbar und subjektiv wie jeder andere Mensch. Sie übersahen Dinge oder interpretierten sie falsch. Durch das Aufzählen passierte das weniger leicht. Oder die gleichen Fehler wurden dadurch noch gravierender.

    »Er hatte nichts in den Händen und, wie es aussieht, auch nichts unter den Fingernägeln. Keine weiteren Verletzungen. Offenbar hat kein Kampf stattgefunden.«

    Sie richteten sich auf.

    »Dafür spricht auch der Zustand des Raums.«

    Sie sahen sich um.

    Nichts in Unordnung. Nichts umgeworfen. Alles sauber und ordentlich.

    Der Gastraum wirkte friedlich. Die in den beiden Kaminen flackernden Feuer nahmen dem Tag das Düstere. Der Schein der Flammen spiegelte sich in den polierten Holzdielen, die durch den Rauch und die Füße von Farmern im Lauf der Jahre dunkel geworden waren.

    Vor den Kaminen standen Sofas und große einladende Ohrensessel mit verblichenen Bezügen. Um Esstische aus dunklem Holz waren alte Stühle gruppiert. Vor den zweiflügeligen Erkerfenstern warteten drei, vier Ohrensessel auf die Dorfbewohner, die auf einen Café au Lait und ein Croissant vorbeikamen oder auf einen Scotch oder ein Glas Burgunder. Gamache vermutete, dass die Leute, die draußen im Regen herumstanden, einen Schnaps vertragen könnten. Auf Olivier und Gabri traf das auf jeden Fall zu.

    Chief Inspector Gamache und sein Team waren schon viele Male in diesem Bistro gewesen, hatten im Winter ein Essen vor dem prasselnden Kaminfeuer genossen und im Sommer einen kühlen Drink auf der Terrasse. Und dabei fast immer über Mord gesprochen. Aber nie mit einer Leiche direkt daneben.

    Sharon Harris trat zu ihnen und zog ihren nassen Regenmantel aus, bevor sie Agent Lacoste zulächelte und dem Chief Inspector förmlich die Hand schüttelte.

    »Dr. Harris«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Tut mir leid, dass wir Sie an Ihrem langen Wochenende stören.«

    Sie hatte zu Hause gesessen, sich durch die Fernsehsender gezappt, auf der Suche nach einem, wo ihr keine Predigt gehalten wurde, als das Telefon klingelte. Es war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Doch als sie jetzt auf die Leiche blickte, wusste sie, dass es nichts dergleichen war.

    »Ich überlasse Ihnen das Feld«, sagte Gamache. Durch die Fenster sah er die Dorfbewohner, die noch immer draußen herumstanden und auf weitere Neuigkeiten warteten. Ein großer, gut aussehender Mann mit grauen Haaren neigte den Kopf, um einer kleinen Frau mit zerzausten Haaren zuzuhören. Peter und Clara Morrow. Dorfbewohner und Künstler. Neben ihnen, stocksteif und den Blick unverwandt auf das

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