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Muttermilch
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Muttermilch

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About this ebook

“Meine Milch war bitter, voll Ratlosigkeit, Milch der Verwesung. Ich bewahrte mein Kind davor.”
Mutter und Tochter - die Generationen von 1944 und 1969 - sind die erzählenden Stimmen des Romans.
Die Mutter wird nach einem Skandal mit einem Kriegsveteranen in die lettische Provinz verbannt. Ihre berufliche Karriere in Leningrad endet abrupt durch einen Staat, der ihr die Chance nimmt, sich beruflich und sozial zu verwirklichen. Die Isolation frisst sich in ihr Leben hinein, Bitterkeit und Ohnmacht prägen das Verhältnis zu ihrer Tochter. Die Großmutter bietet ihr, was die Mutter nicht leisten kann: Liebe und ein Zuhause, in dem sie – fast – wie eine mustergültige Sowjetbürgerin aufwächst. Die Familie trifft auf andere Ausgestoßene und Unangepasste, frömmelnde Russinnen, einen Hermaphroditen, einen oppositionellen Lehrer. Immer verlangt das Leben ihnen Kompromisse ab, die sie nicht eingehen wollen. Bis sich die Vorboten der Freiheit regen. Wozu sind sie noch fähig, als der politische Wandel im Land und in Europa beginnt?
Voller Symbolik und Feingefühl erzählt Nora Ikstena über die Liebe zur Freiheit und das Drama des Lebens bis zum Fall der Berliner Mauer.
LanguageDeutsch
PublisherKLAK Verlag
Release dateJul 29, 2019
ISBN9783948156374
Muttermilch
Author

Nora Ikstena

Nora Ikstena, geboren 1969 in Riga, Studium der Philologie und Anglistik in Lettland und den USA, ist eine der führenden Autorinnen der modernen lettischen Literatur. Ihre Bücher, Erzählungen und Essays wurden in viele Sprachen übersetzt. Für ihre Werke und ihre engagierte Kulturpolitik als Vorsitzende des Nationalen Kulturrates erhielt sie u.a. den Baltic Assembly Award (2006), den lettischen Drei-Sterne-Orden (2008), sowie den Excellence Award in Culture als weltweit bekannteste lettische Autorin des 21. Jahrhunderts (2018). Ihr Roman Muttermilch wurde bisher in fünfzehn Sprachen übersetzt und war auf der Shortlist für den EBRD-Literaturpreis 2019 in London.

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    Book preview

    Muttermilch - Nora Ikstena

    Impressum

    © Nora Ikstena, Riga 2015

    © KLAK Verlag, Berlin 2019

    Alle Rechte vorbehalten

    Satz/ Layout: Jolanta Johnsson

    Umschlag: Jolanta Johnsson

    Druck: BookPress, Olsztyn

    ISBN 978-3-948156-17-6

    *

    An den 15. Oktober 1969 erinnere ich mich nicht. Wie sollte ich auch. Obwohl es ja Leute gibt, die behaupten, dass sie sich an ihre Geburt erinnern. Vermutlich habe ich richtig im Mutterleib gelegen, denn es soll eine natürliche Geburt gewesen sein. Sie war weder besonders lang noch kurz, die Wehen kamen alle fünf Minuten. Meine Mutter war bei meiner Geburt fünfundzwanzig, demnach jung und gesund, was sich allerdings später als nicht ganz richtig herausstellte. In meinem Gedächtnis oder vielleicht in meiner Vorstellung geblieben ist aber das milde goldene Oktoberwetter, in das sich die Vorahnung der dunklen Tage mischt. Ein Schwellenmonat, zumindest in unserer Klimazone, in der sich die Jahreszeiten abwechseln und der Herbst langsam in den Winter übergeht.

    Die Bäume hatten vermutlich gelbe Blätter, und unsere Hausmeisterin fegte sie schimpfend zusammen. Sie war mit ihrer Familie aus dem sonnigen Kirgistan eingewandert und hatte für ihre hochqualifizierte Arbeit sofort eine Wohnung in der Mitschurin-Straße 20 zugeteilt bekommen. Ihr mandeläugiges Töchterchen saß auf der Fensterbank, aß Rote-Bete-Suppe und lud jeden freundlich in die Wohnung ein. Der einstige Prunk der Vorkriegszeit, den die jüdische Familie 1941 gezwungenermaßen zurückgelassen hatte, als die Deportation nach Sibirien sie vor dem gelben Stern im wenige Monate später von den Nazis besetzten Riga bewahrte, dieser Prunk der Vorkriegszeit wurde nun von der kirgisischen Vorstellung von Schönheit dominiert. Dicke Teppiche bedeckten das Parkett und Sonnenblumenkerne füllten die Porzellanschälchen, während auf dem Klavier Spucknäpfe standen. Zeiten und Konfessionen hatten sich vermischt. Und so war das überall in diesem Haus, in dessen Wohnung Nummer dreizehn man mich trug, sorgfältig gewickelt nach damaligem Brauch wie die Puppe eines Schmetterlings.

    Ich habe manchmal einen Traum, aus dem ich mit einem Brechreiz erwache. Ich liege an die Brust meiner Mutter geschmiegt und sauge daran. Die Brust ist groß und milchreich, aber ich bekomme nichts heraus. Ich sehe meine Mutter nicht, sie hilft mir nicht und ich kämpfe ganz allein mit ihrer Brust. Plötzlich habe ich Erfolg und in meinen Mund fließt eine ekelhafte bittere Flüssigkeit, an der ich würge, bis ich mit einem Gefühl von Übelkeit aufschrecke.

    Wie komisch es ist, so abgetrennt zu existieren. Getrennt von etwas so Natürlichem, Erhabenem, Schönem, jahrhundertelang Besungenem. Eine Mutter stillt ihr Kind. Ihr Gesicht ist erleuchtet, ihre Augen blicken auf das wunderbare Gottesgeschenk in ihren Armen. Die Augen des Kindes blicken hilflos und vertrauensvoll, die Stimmen der Natur sind ineinander verwoben, die Milch, die aus der Mutterbrust strömt, ist das Wasser des Lebens, das das Kind trinkt, und das Band zwischen ihnen ist ewig und endlos.

    Als junge Ärztin wusste meine Mutter vielleicht, dass ihre Milch dem Kind mehr schaden als nutzen konnte. Wie anders ließe sich erklären, dass sie gleich nach der Geburt verschwand. Fünf Tage lang war sie fort, dann kehrte sie heim mit schmerzenden Brüsten, in denen die Milch ausgebrannt war.

    Die Mutter meiner Mutter hatte mich zwei Tage lang verzweifelt mit Kamillentee gefüttert. Dann ging sie zur Milchküche, wo eine misstrauische Ärztin sie auf Russisch beschimpfte und meine Mutter ein Flittchen nannte, ihr aber dennoch die schriftliche Genehmigung erteilte, Milchpulver zur Säuglingsernährung abzuholen.

    In den zwanzig Jahren, die ich mit meiner Mutter zusammen war, habe ich sie nicht fragen können, warum sie mich, einen hilflosen kleinen Säugling, von ihrer Brust gerissen hat. Ich konnte es nicht, denn damals wusste ich noch nichts davon. Und vielleicht war die Frage auch unpassend, denn es fügte sich, dass ich zu ihrer Mutter werden musste.

    *

    An den 22. Oktober 1944 erinnere ich mich nicht. Doch ich stelle ihn mir vor. Riga frisch befreit von den Hitlerdeutschen. Bei den Bombenexplosionen sind die Fenster der Frauenklinik zersprungen, es ist feucht und kalt, und die Frauen, die gerade entbunden haben, wickeln sich hilflos in ihre blutigen Laken. Übermüdete Schwesternhelferinnen trinken Hochprozentiges und wickeln tote Säuglinge in Päckchen ein. Es grassiert eine Seuche, die allgemein Nasentyphus genannt wird. Jammern und Weinen ist zu hören, Bomben pfeifen durch die Luft, und durch das Fenster dringt Brandgeruch. Meine Mutter hat mich heimlich aus der Säuglingsstation geholt. Sie hat mich an sich gewickelt und pumpt mir ihre Milch in die Nase. Aus meinem Näschen läuft eine Mischung aus Eiter, Milch und Blut. Ich würge und atme, würge und atme.

    Und dann plötzlich Ruhe und Frieden. Ein Pferdchen zieht einen Wagen über einen sonnigen, herbstlichen Weg von Riga nach Babīte. Mein Vater hält den Wagen mehrmals an, damit meine Mutter mich stillen kann. Ich würge nicht mehr, atme ruhig und sauge gierig Mutters Milch. Wir haben ein schönes Haus in der Oberförsterei von Babīte, es gibt dort kaum Möbel, auch keine Wiege, aber meine Mutter bereitet mir ein Bett in einem großen Koffer.

    Jeden Morgen schaut mein Vater nach den Tannen in seiner Baumschule. So geht das bis Weihnachten, als plötzlich ein Lastwagen mit Soldaten in die Försterei fährt. Sie schreien herum in einer Sprache, die meine Eltern nicht verstehen. Die Soldaten springen vom Wagen und fangen an, die jungen Tannen zu fällen. Mein Vater läuft aus dem Haus, vorher schließt er noch meine Mutter im Dachzimmer ein, wo sie mich im Koffer versteckt, in den sie zuvor Löcher gebohrt hat, damit ich atmen kann. Mein Vater schreit: „Ihr Halunken, ihr Halunken!" und versucht, die Tannen zu retten. Sie schlagen ihn blutig und werfen ihn zusammen mit den gefällten Bäumen auf den Lastwagen. Die Rotte zieht fluchend durch das Haus, hämmert an alle Türen. Meine Mutter sitzt mit angehaltenem Atem im verschlossenen Dachzimmer im Schrank, auf den Knien hält sie den Koffer, in dem ich atme. Der Lärm ist schrecklich, sie demolieren das Haus. Bis alles still ist und man nur noch ein Geknatter hört, als der Lastwagen abfährt.

    Gegen Morgen klettert meine Mutter aus dem Schrank. Sie stillt mich, bindet mich an sich, zieht eine dicke Schicht Kleidung an und geht zu Fuß zurück nach Riga. Erst am späten Abend erreichen wir die Tomsons-Straße, die bald darauf nach Mitschurin umbenannt wird, und die Wohnung Nummer dreizehn. Meine Mutter ist todmüde, aber sie muss noch die von den Bomben zerschlagenen Fenster zukleben, sonst erfrieren wir beide.

    *

    Ich weiß nicht, wie meine Mutter und Großmutter unter sich die Geschichte von Mutters Verschwinden lösten, denn sie wurde nie erwähnt. Den Duft der Muttermilch ersetzte in meiner Kindheit das Aroma von Medikamenten und Desinfektionslösungen, das meine Mutter stets wie eine Wolke umschwebte, wenn sie erschöpft vom Nachtdienst in der Frauenklinik zurückkehrte, oder wenn sie zu Hause stundenlang wach auf ihrem Bett lag. Ihre Handtasche war vollgestopft mit Tabletten, Ampullen und diversen Metallwerkzeugen. Durch einen Vergleich mit Abbildungen im Lexikon der Medizin erkannte ich darin später die verschiedenen, in meinem Bewusstsein furchtbaren, Instrumente eines Frauenarztes. Ziemlich gruselig erschien mir diese Welt, in die jede ihrem Mutterinstinkt folgende Frau zu gegebener Zeit unvermeidlich hineingezogen wird. Wenn meine Mutter einmal eine Nacht zu Hause verbrachte, saß sie lange wach bei Zigaretten und Kaffee, gebeugt über Berge medizinischer Fachbücher und Nachschlagewerke. Auf ihrem Schreibtisch reihten sich Zettel aneinander, auf denen neben schriftlichen Notizen Zeichnungen von Gebärmuttern, Eileitern, Becken und Scheiden in verschiedenen Kombinationen, aus verschiedenen Winkeln und Perspektiven erschienen.

    Meine Mutter kannte sonst nichts von der Welt. Sie schloss demonstrativ die Tür, wenn im Nebenzimmer die Fernsehnachrichten mit dem lispelnden Leonid Iljitsch Breschnew eingeschaltet wurden, sie las nicht die Zeitung Rīgas Balss, nach der die Leute an der Ecke der Gorkistraße schon ab fünf Uhr abends anstanden. Genauso lange Schlangen bildeten sich am Nachmittag in den Fleisch- und Milchgeschäften, wo hin und wieder das eine oder andere zum Verkauf angeboten wurde: Würstchen oder Fleischwurst oder gar abgepackte Butter, und man durfte maximal ein Pfund kaufen. Auch davon wusste sie nichts. Aber neben den Bergen medizinischer Fachliteratur stand Melvilles Moby Dick. Die Sehnsucht nach der unfassbaren Freiheit eines eigenen Lebens.

    Ich erinnere mich nicht daran, dass Mutters Hand mich berührte, aber ich erinnere mich an ihren durchstochenen Oberschenkel, an dem sie das Spritzensetzen übte. Ich erinnere mich, wie sie mit blauen Lippen im Bett lag, als sie das erste Mal ein Medikament überdosiert hatte, möglicherweise im Rahmen eines medizinischen Experiments. Ich erinnere mich an den Geruch ihres Morgenrocks, den Geruch der bitteren Tinkturen, die man ihr gab, als man sie ins Krankenhaus brachte. Und ich erinnere mich an den Flur der Frauenklinik, wo ich nach dem Nachtdienst auf sie warten durfte. Dann gingen wir ins Café in der Aloja-Straße und aßen Soljanka und grusinische Würstchen, und sie goss sich aus einer Ampulle Koffein in den Kaffee. Und ich weiß noch, wie starr unsere kleine Straße war, wie auf einem Bild, das aus einer anderen Zeit ausgeschnitten und in die heutige eingeklebt sein könnte. Nur die elegant gekleideten Leute auf dem Weg zu den Pferderennen im Hippodrom um die Ecke waren daraus verschwunden. An ihrer Stelle eilten nun andere Menschen mit eingezogenem Kopf auf dem Weg zur Arbeit dem Kommunismus entgegen. Aus ihren löchrigen Einkaufsnetzen lugten Stangenbrot und Kefirflaschen mit grellgrünen Deckeln und in graues Papier eingeschlagene Wäschepakete, die mit dünner brauner Kordel verschnürt waren.

    *

    Seit dem Drama in der Baumschule waren mindestens neun Jahre vergangen. Ich war eine Musterschülerin und nahm an Schulaufführungen und Kundgebungen teil. Ich hielt das große M, als wir Kinder die russische Botschaft My za mir! Wir für den Frieden! bildeten. Jeden Morgen lag für mich eine frisch gebügelte Schürze bereit, die Zöpfe wurden fest auf den Hinterkopf geflochten oder zu Affenschaukeln gebunden. Meine Mutter liebte und verwöhnte mich. Eines Tages tauchte ein großgewachsener, freundlicher Mann bei uns auf. Meine Mutter sagte, das sei nun mein Stiefvater. Am Abend, als er fort war, sah ich meine Mutter zum ersten Mal weinen. Sie saß in unserer langen engen Küche mit dem Fenster zum Hof, auf dem Herd dampfte ein Topf Kürbis zum Einlegen, und meine Mutter erzählte.

    Mein Töchterchen, mein liebes Töchterchen. Dein Papi wurde verhaftet, weil er die Tannenbäumchen retten wollte. Die Tannenbäumchen wollte er retten, und was hatte er davon, wäre er nicht hinausgerannt, hätte er nicht „ihr Halunken" geschrien, wäre er heute noch bei uns. Aber er liebte den Wald und seine Tannenbäumchen, und er rannte hinaus. Sie haben ihn zusammengeschlagen, abgeführt, drei Tage lang habe ich ihn gesucht, bis ich ihn am Bahnhof Šķirotava gefunden habe. Hinter Gittern, voller Wunden, ganz ausgezehrt. Durch das Gitter hindurch hat er meine Hand genommen und sie ganz fest gehalten, bis ein Aufseher kam und ihm mit dem Gewehrkolben auf die Hand schlug, auch meine hat er dabei getroffen. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. Es fehlte jede Spur. Bis einer aus der Ferne die Nachricht brachte, dass er tot sei. Fünf Jahre ist das jetzt her. Er ist tot, mein Töchterchen, dein Papi.

    Ich erinnere mich nicht, dass es mir viel ausgemacht hätte. Ich erinnere mich an Mamas weinerliche Stimme und daran, dass sie für alles Verkleinerungsformen benutzte – Töchterchen, Tannenbäumchen, Papi. Mein stattlicher Stiefvater gefiel mir, und an meinen Vater konnte ich mich nicht erinnern.

    Bis eines Nachmittags am Kiosk bei meiner Schule, wo es einen Sodaautomaten gab, von dem zu trinken kategorisch verboten war, aber genau das war es, was man am meisten wollte, ein großer aufgedunsener Mann zu mir kam und sagte, er sei mein Vater. Ich rannte weg, so schnell ich konnte, schreiend und weinend rannte ich nach Hause, wo ich meine Mutter bleich wie ein Leintuch vorfand. Er war nicht gestorben. Er war zurückgekommen.

    *

    Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter mich jemals zur Schule gebracht oder von der Schule abgeholt hätte. Das tat immer ihr Stiefvater, der sie adoptiert hatte. Wir gingen die nach dem russischen Klassiker Gorki benannte Straße entlang, ein leichter Wind wehte von der Straße des französischen Schriftstellers Barbusse eine Mischung aus Hopfen- und Schokoladengerüchen herbei. Das kündigte von Frieden und Zuhause. Es war nur ein kurzer Weg, ein Streifen Zeit im Raum der Geschichte. Irgendwo weit weg, in einer unerreichbaren geographischen Zone, desertierte jemand aus dem Vietnamkrieg und verdarb sich damit das Leben unter mustergültigen amerikanischen Gastgebern und Gastgeberinnen, die sich von Blumenkindern, Drogen und Rock ‚n‘ Roll abwandte. Irgendwo weit weg lag jemand in der sibirischen Weite unter dem Gras, jemand verbüßte noch seine Strafe für den Verrat am Volk, doch ein anderer war zurückgekehrt, um den Alltag für die ihm noch bestimmte Zeit schweigend zu ertragen. Irgendwo nicht ganz so fern lebte jemand ein alternatives Leben: las verbotene Bücher im Samisdat, trank Wodka und träumte vom freien Westen, der wie eine Fata Morgana hinter dem Eisernen Vorhang in der Luft schwebte. Aber hier in der Nähe lebten die Menschen ihren Alltag. Standen am Morgen auf, arbeiteten, legten sich schlafen. Verliebten sich, machten Kinder, lebten, starben.

    Ich hatte keine Angst vor den Amerikanern, ich fürchtete mich weder vor Onkel Sam noch vor einem Atomkrieg. Ich hatte Angst vor meiner Mutter. Manchmal wurde sie von einer satanischen Macht befallen, die aus ihr hervorbrach und alles um sie herum vernichtete, insbesondere die Liebe ihrer Nächsten. Dann hasste sie ihre Mutter, hasste noch mehr ihren Vater und hasste die Tatsache ihrer eigenen Geburt. Sie schloss sich im Klo ein und heulte, und der lange Flur, an dessen Ende ich stand und durch den dies Heulen drang, das meine Kinderknochen zum Zittern brachte, war Ausdruck eines endlosen, unerklärlichen Hasses auf ein Leiden, das ich noch nicht verstand, auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, auf die Gier nach Leben, in dem sich das Licht der Existenz wie in einem dunklen Tunnel in einem grausigen Strudel der Vergänglichkeit drehte.

    Dann wieder wurden die Momente der Dunkelheit von seltenen kleinen Lichtflecken abgelöst. Wir saßen im Wohnzimmer am offenen Fenster, durch das Essensgeruch und Kindergeschrei drangen. Meine Mutter zeichnete mit Buntstiften auf ein großes Blatt Papier, wie ein Baby auf die Welt kam. Ich saß auf ihrem Schoß und hatte keine Angst. Zuerst zeichnete sie ein lächelndes Baby im Bauch der Mama, dann zeichnete sie den Kopf des Babys, der gerade zwischen den Beinen der Mama herausgeglitten war, und die Grimasse auf seinem Gesichtchen zeugte von dem Leiden und dem Schrecken, die es hier erwarteten. Dann zeichnete sie Mama und Kind mit der Nabelschnur zwischen sich, sie schienen sich an der Hand zu halten und fröhlich zu tanzen. Dann zeichnete sie noch die Schere, die die Nabelschnur durchschnitt. Und dann zeichnete sie die Mama, die ihr Kindchen im Arm hielt und es mit sanften, aber zugleich erschreckten Augen betrachtete. Ich folgte den Bewegungen ihrer Hand, den Zügen des Stifts. Ihre Hand war klein und weiß, die Nägel abgebrochen, die Haut in der Handfläche trocken und aufgerissen vom ewigen Talkum, den sie in die Gummihandschuhe schütten musste. Ich saß auf Mamas Schoß, ich hatte keine Angst, und ich beugte mich nieder und schmiegte meine Wange in ihre Hand.

    *

    Meine Mutter beschloss, nicht zurück zu blicken. Sie heiratet meinen Stiefvater, der mich adoptierte und wie sein eigenes Kind liebte. Wir sprachen nie über meinen wahren Vater. Meine Mutter erfuhr auch nie, dass ich meinen Vater über mehrere Jahre hinweg besuchte. Er war schwerkrank aus der Verbannung heimgekehrt und lebte unter unmenschlichen Bedingungen in einer Kammer in einer Gemeinschaftswohnung, in der es immer feucht war und der Fußboden mit Zeitungen ausgelegt wurde. Fast immer war er leicht oder schwer betrunken. Wenn er etwas nüchterner war, erinnerte er sich an seine Studienzeit, an seine Forschungen über jungen Wald, an seinen Widerwillen gegen Studentenverbindungen. Er erinnerte sich, dass seine Mutter ihn als Kind wie einen kleinen Herrn kleidete und ihn Jeannot nannte. „Du, meine Tochter, hast blaues Blut", behauptete er, denn

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