Vergeben kann man nicht müssen: Weiterleben, wenn Unverzeihliches passiert … - Reale Fälle, aufgezeichnet und kommentiert von Andrea
By Andreas Malessa and Ulrich Giesekus
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About this ebook
Wohin mit ohnmächtiger Wut? Mit Demütigung und Bitterkeit? Können tief verletzte Paare im "Rosenkrieg" ihrer Trennung noch im Vaterunser beten: "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern?"
Ein Theologe und ein Psychologie stellen fest: Vergeben kann man nicht müssen! Gleichzeitig sind sie überzeugt: Vergeben kann man wollen – und es ist ein bis in die körperliche Gesundheit hineinreichender Heilungsprozess.
Aber "wie geht" Vergebung praktisch, wenn Unverzeihliches geschieht? Die Schilderungen realer Fälle und die praktischen Anmerkungen helfen, eigene Entscheidungen zu treffen, und öffnen gangbare Wege zur Vergebung – für eine hoffnungsvolle Zukunft!
Andreas Malessa
Andreas Malessa, Jahrgang 1955, wurde bekannnt als Teil des Gesangs-Duos "Arno & Andreas" und gab rund 1400 Konzerte im In-und Ausland. Er ist Hörfunkjournalist beim DeutschlandRadio/Kultur in Berlin und beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt. Seine Fernseh-Sendungen "Um Himmels Willen", "Paternoster", "Um Elf" und "Lebensfragen" machten ihn als kompetenten Fachjournalisten für Religion und Kultur bekannt. Seine Reportagen aus der Dritten Welt und seine scharfzüngigen Satiren werden von den Lesern zahlreicher Zeitschriften geschätzt. Nach Abitur und Theologiestudium in Hamburg zog der "überzeugte Norddeutsche" als Wahl-Schwabe in die Nähe von Stuttgart, ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert verheiratet, hat zwei fast erwachsene Töchter, liebt Fern-Reisen, gute Romane, Rotwein und kritisch mitdenkende Zuhörer. Als Buchautor und Publizist ist der evangelisch-freikirchliche Theologe ein vielgefragter Fachreferent für religiös-kulturelle, sozialethische und kirchliche Themen.
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Book preview
Vergeben kann man nicht müssen - Andreas Malessa
Kapitel 1
Ein explosives Gemisch
Erstaunlich, wie wütend man im Straßenverkehr werden kann
Parkplätze in der Innenstadt sind rar. Fahrradwege auch. Beide sind nicht überall eindeutig markiert. Weit rechts entlang der Straße verläuft eine Fabrikmauer, davor ein gepflasterter Fußweg, zwischen diesem Fußweg und der Fahrbahn gibt es einen etwa zwei Meter breiten Streifen unbefestigten Bodens.
Auf dem stehen, diagonal eingeparkt, viele, viele Autos. Ich bin in Eile und schon zweimal suchend im Karree gefahren, da schert ein Wagen aus der Reihe auf dem Seitenstreifen aus, gibt eine Lücke frei – ich hab es geschafft! Habe einen Platz ergattert. Aussteigen, vorsichtshalber ein paar Schritte nach rechts und links gehen und nachschauen: nein, kein Verbotsschild, kein Parkschein-Automat weit und breit, nichts! Glück gehabt, denke ich. Schließe den Wagen ab und gehe meinen Besorgungen nach.
Als ich wiederkomme, kleben mitten auf der Windschutzscheibe vier, fünf Aufkleber: „Parke nicht auf unseren Wegen!", steht da. Darunter das Bild eines Fahrrads, stilisiert zu einem zornigen Augenpaar.
Mein Puls geht schneller, ich werde rot. Mit dem Daumennagel kratze ich hektisch an jedem Sticker herum – vergeblich. Die Dinger kleben bombensicher.
Ich schaue verstohlen umher, ob mich jemand sieht. In meine Wut mischt sich jetzt eine satte Portion Scham und verdichtet sich zu einem brodelnden Gebräu in mir. „Moment, mahnt mein Verstand, „ganz ruhig. Erst die Fakten.
Na ja, ein diagonal eingeparkter Wagen von knapp fünf Metern Länge ist in der Tat etwas länger, als dieser Sandstreifen breit ist. Das nach rechts eingeschlagene Vorderrad meines Autos berührt die verwitterten Pflastersteine entlang der Mauer. Aber – nützt es jetzt noch was, dies einzugestehen? Das ändert nichts an der Sachlage. Außerdem: Soll dieser holprige, grasdurchwachsene Plattenpfad ein Fahrradweg sein? Wo steht das? Auf diesem Gehsteig ärgern die Radfahrer die Fußgänger wahrscheinlich genauso, wie ich die Radfahrer – bzw. den Radfahrer – geärgert habe!
„Euch kenn ich, ihr Brüder, schießt es mir durch den Kopf. „In knallengen Hirschlederhosen mit spiegelverglasten blauen Sportbrillen rast ihr in geduckter Haltung auf sündhaft teuren Rennrädern angeberisch durch die Stadt. Fünfzig oder sechzig Stundenkilometer schnell. Ihr seid lebensgefährlich für spazierende Rentner oder Mütter mit Kinderwagen! Aber mir gegenüber, dem parknotgebeutelten Autofahrer, wollt ihr das arme Opfer spielen! Und beansprucht eure vermeintlichen Rechte, indem ihr Windschutzscheiben verschandelt: Parke nicht auf unseren Wegen. Pah!
Ich steige ein, will losfahren. Die Aufkleber sind aber so exakt in Augenhöhe platziert, dass ich kaum etwas sehen kann. Mein Wut-und-Scham-Gemisch wird mit Ohnmacht und ängstlicher Sorge angereichert. Der selbst ernannte Radwegschützer hat ganz bewusst meine Fahrsicherheit beeinträchtigt, will mich kalkuliert gefährden. Ist es eventuell jemand, der auch Radmuttern lösen oder Bremsen manipulieren würde?
„Moment, versucht mein Kopf den Topf von der Flamme zu nehmen. „Jetzt übertreibst du aber. Ein verärgerter Radfahrer ist kein Killer, okay?
Meine Wut hält dagegen: „Der Typ – oder war es eine Frau? – muss die Aufkleber ja vorbereitet bei sich haben. Eine Bikerin, die diese Waffen ihrer Streitlust immer mit sich herumträgt wie ich meine Geldbörse oder den Wohnungsschlüssel. Eine permanent aggressive Autohasserin. Allzeit bereit, ihre arrogante Oberlehrerhaftigkeit durch Sachbeschädigung zu beweisen.
Und wenn diese verdammten Bepper sich auch mit heißem Wasser und Spülmittel nicht ablösen lassen? Was kostet so eine Frontscheibe eigentlich? Zahlt das die Versicherung? Nie im Leben."
Die Heimfahrt wird zum Spießrutenlauf. Ich bilde mir ein, an jeder Ampel würden sich alle entgegenkommenden Fahrer kaputtlachen, warum jemand mit fünf Zetteln vor der Nase Auto fährt. In mein Wut-Scham-Ohnmacht-Angst-Gemisch wird jetzt noch eine Prise Demütigung gestreut. Gleich werde ich vor allen Fensterfronten unserer Nachbarn ankommen und hoffentlich von niemandem begrüßt werden …
„Jetzt mal halblang, schüttelt mein innerer Kopf den äußeren, „du aufgeregtes kleines Hähnchen! Plusterst dich hier auf und krähst! Ein Freund deiner Tochter wurde von türkischen Jugendlichen grundlos zusammengeschlagen und lag mit gebrochenem Nasenbein im Krankenhaus. Eine Kollegin von dir wurde in ihrer früheren Redaktion dermaßen gemobbt, dass sie sich während der Arbeitszeit heulend im Klo einschloss. Es werden Frauen vergewaltigt, es werden Kinder sexuell missbraucht und ermordet. Und du jammerst wegen fünf Aufklebern!
Ich beginne mich über meinen Ärger zu ärgern.
Dieses Buch ist kein Ratgeber nach dem Motto „Vergeben – leicht gemacht".
Es gibt genügend viele davon, und ich freue mich, wenn sie Leserinnen und Lesern helfen. Aber im Unterschied dazu wurde ich gebeten, Geschichten und Beobachtungen zu erzählen, die das hehre Wort Vergebung von seinem (oft hohen) Sockel herunter und in den Alltag hineinstellen. Die seinen fern strahlenden Heiligenschein erden – und zu einer nah und warm leuchtenden Zimmerlampe machen.
Denn das kann die Vergebung sein: ein Licht, das die Räume unserer eigenen Seele wieder heimatlich, unsere Familien und Arbeitsplätze bewohnbar und unsere gesellschaftliche Zukunft verheißungsvoll macht.
Vorher aber, auf dem Weg dahin, sollten wir den Begriff Vergebung getrost erst mal gegen den Strich bürsten. Gut, wenn wir dann feststellen können: Vergebung gilt. Auch in den „schweren Fällen". Aber wir wollten es uns ja nicht – zu – einfach machen:
Vergeben „kann" man nicht einfach.
In meiner kleinen Autobegebenheit konnte ich das einfach, weil es nur eine Bagatelle war und sich die Sache so leicht auflöste, wie sich die Aufkleber mit scharfen Putzmitteln auflösen ließen. Außerdem blieb und bleibt mein „Verletzer" anonym.