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Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit: Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeit
Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit: Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeit
Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit: Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeit
Ebook396 pages4 hours

Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit: Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeit

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About this ebook

Die in diesem Buch vereinigten Aufsätze verdanken ihre Entstehung dem lebenslangen Auftrag, jeden Menschen als sich entwickelnde freie Persönlichkeit zu verstehen, die auf einem potenziell beständigen Ich-Kern fußt. Stets geht es Bernardo Gut darum, den involvierten Einzelnen kritisch zu begleiten, ihn zu fördern - und dessen Ringen nach Unabhängigkeit wohlwollend anzuerkennen.

Bernardo Gut widmet sich den ihn immer wieder intensiv beschäftigenden individualitätsrelevanten Fragen und Anliegen: Welche Grundphänomene treten auf, wenn zwei Individuen etwas vereinbaren? - Was heißt »Existenz« bei rein gedanklichen Inhalten? - Welche logisch einsehbaren Erwägungen haben bestimmte Denker zur Auffassung geführt, es gebe immer-währende Wesen? - Wie kann ein Intellektueller nach einem ihn erschütternden Zusammenbruch seiner vertrauten Alltagswelt innere Selbstgewissheit erringen? - Was vermag ein Einzelner angesichts der ihn bedrängenden, mächtigen Wir-Gruppen und welches sind seine Pflichten gegenüber seinesgleichen? - Wann entspringt im Einzelnen eine wahrhaft freie Selbstbewegung und führt zur Selbstgestaltung? - Welche Erfahrungen und Reflexionen können naturwissenschaftlich Geschulte veranlassen, die Realität rein ideeller Inhalte anzuerkennen?
LanguageDeutsch
Release dateOct 28, 2021
ISBN9783772541162
Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit: Urphänomene sich entwickelnder freier Persönlichkeit

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    Book preview

    Existenzielle Gewissheit und individuelle Beständigkeit - Bernardo Gut

    BERNARDO GUT

    Existenzielle Gewissheit

    und individuelle Beständigkeit

    Urphänomene

    sich entwickelnder freier Persönlichkeiten

    VERLAG FREIES GEISTESLEBEN

    Für Regula, in Liebe und Dankbarkeit.

    INHALT

    Cover

    Titel

    Vorwort

    Urphänomene der Rechtssphäre I

    Grundlagen, relative und absolute Rechte

    Abstract

    Einleitung

    1. Rechtliche Gebilde – Gegenstand positiver Rechtsprechung

    2. Ein Versprechen – und was es impliziert

    3. Soziale Akte – ihre Bedeutung für die Erwahrung eines Versprechens

    4. Relatives und absolutes Erlöschen des Anspruches

    5. Antonio und Shylock – Einbindung des Versprechens in die gesamte Rechtssphäre

    6. Bestimmungen positiven Rechts – im Widerspruch zu rechtlichen Urphänomenen?

    7. Verzichten – Ausüben eines absoluten Rechtes

    8. Zusammenfassung und Ausblick

    Anmerkungen

    Urphänomene der Rechtssphäre II

    Korrelative Rechtsrelationen und fundamentale Menschenrechte

    Abstract

    Einleitung

    1. Kennzeichen der Rechtssphäre

    2. Negieren als Ursprung des Rechtsbewusstseins

    3. Fremdwahrnehmung als Grundlage von Rechtsbeziehungen

    4. Fundamentale Menschenrechte

    Anmerkungen

    Urphänomene der Rechtssphäre III

    Die Idee einer Gesamtheit freier, selbständiger Einzelner

    Abstract

    1. Vom inneren Abstand und dem Kampf um individuelle Menschenrechte

    2. Erklärung über Menschenrechte im Islam

    3. Der selbständige, unabhängige Einzelne – bedrängt, ausgestoßen, verfolgt

    Anmerkungen

    Widerspruchsfreiheit und Existenz

    Anselms Argument zur Existenz Gottes und Finslers Mengenlehre

    Summary: Consistency and Existence

    Einleitung

    1. Existenznachweis und konkretes Aufzeigen in der Zahlenlehre

    2. Anselm von Canterburys Argument zur Existenz Gottes

    2.1. Anselms drei Schritte.

    2.2. Anselms drei Voraussetzungen

    3. Einwände Gaunilos und Anselms Replik

    4. Einwände Kants, Freges und Brentanos

    4.1. Kant

    4.2. Frege

    4.3. Brentano

    5. Finslers Entdeckung seltsamer Mengen

    5.1 Finslers Ausgangspunkt

    5.2 Die größte Ordnungszahl

    5.3 Die Menge aller Mengen

    6. Anselms Argument und Finslers Existenzbegriff

    7. Vorstellen, Urteilen, Behaupten – und aktives Vernehmen

    Zusammenfassung

    Anmerkungen

    Logische Klarheit und existenzielle Gewissheit

    Abstract

    Einleitung

    I. Vom Selbstverlust zur werdenden Gewissheit

    1. Alltägliches – Scheinbar Belangloses

    2. Stufen des Vertrauens – Tiefe der Erschütterung

    3. Rettender Abstand – Wissen um Gebrechlichkeit

    4. Logische Sicherheit – Werdende Gewissheit

    II. Stufen reflektierter Selbstgewissheit

    5. Von der Ahnung zur Behauptung

    6. Implizit Gefordertes – Explizit Behauptetes

    7. Primat impliziter Aussagen

    8. Vier immanente Prinzipien einer Behauptung

    9. Erfüllbare – Nicht erfüllbare Zirkel

    10. Gesetzte Intention – Erkanntes Gesetz

    III. Gewissheit intellektueller Zukunftsaussagen?

    11. Postulate – Axiome – Folgesätze

    11.1. Logik als beweisende Wissenschaft

    11.2. Mathematische Erkenntnisse als Folge frei gesetzter Postulate

    11.2.1 Euklids Elemente

    11.2.2 Finslers Mengenlehre

    IV. Stufen individueller Persönlichkeitsentwicklung

    12. Fünftes immanentes Prinzip – Nichts bleibt folgenlos

    13. Ich-Stärke als Quelle der Selbstlosigkeit

    Anmerkungen

    Analysing Leibniz’s Approach to Space, Time, and the Origin of Self-Motion

    Abstract

    Kurzfassung

    Introduction

    1. Leibniz’s first concepts of place and time

    2. Co-existence, the relation of difference, and the ‹inner nature› of things

    3. Degrees of difference – Steiner’s qualitative dimensions of space

    4. Leibniz and Steiner on time – and Leibniz’s idea of a true movement

    5. The origin of self-motion according to Plato, Aristotle, and Plotinus

    5.1 Plato: the soul – immortal origin of self-motion

    5.2 Aristotle: the prime mover – unmovable inducer of motion and time measurement

    5.3 Plotinus: the activity within rest – unfolding in time an image of eternity

    6. Divine priority of nature  – up-welling of time, and human priority of time

    Conclusion

    Footnotes

    Zwingende Plausibilität?

    Analyse ausgewählter Argumente Steiners zur Anerkennung geistiger Sphären

    Abstract

    Einleitung

    1. Immanent-logisches Überprüfen standortbedingter Auffassungen

    1.1 Von standortbedingten Ansichten zur übergeordneten Anschauung

    1.2 Drei charakteristische Erkenntnisintentionen

    2. Psychische und physische Phänomene, Sinnesmodalitäten, Sinnesenergien

    2.1 Psychische Phänomene, Stimmungen, physische Phänomene

    2.2. Sinnesmodalitäten, Sinnesorgane, spezifische «Sinnesenergien»

    2.3. Zusammenfassung der eingeführten Differenzierungen

    3. Relevanz verschiedener Formen von in obliquo Wahrnehmungen

    4. Gibt es einen gemeinsamen Ursprung von Sinnesgegenstand und Sinnesorgan?

    5. Analogisches Extrapolieren

    6. Beurteilung der referierten, teilweise erweiterten Gedankengänge Steiners

    Zusammenfassung

    Anmerkungen

    Literaturverzeichnis

    Namenregister

    Impressum

    VORWORT

    Die in diesem Buch vereinigten Aufsätze verdanken ihre Entstehung meinem lebenslangen Auftrag, jeden Menschen als sich entwickelnde freie Persönlichkeit zu verstehen, welche auf einem potenziell beständigen Ich-Kern fußt. Jeder der Beiträge widmet sich bestimmten individualitätsrelevanten Fragen und Anliegen selbstgesetzter Erkenntnisziele, eigenständiger Lebensgestaltung, wechselseitiger Vereinbarungen unabhängiger Persönlichkeiten.

    Die ersten drei Aufsätze handeln von Urphänomenen und Gesetzmäßigkeiten der allein uns Menschen zugänglichen Rechtssphäre. So geht es u.a. um die Fragen: Welche Grundphänomene treten auf, wenn zwei Individuen etwas vereinbaren? Und was vermag ein Einzelner angesichts der ihn eingrenzenden Behörden und mächtigen Wir-Gruppen – und welches sind seine Pflichten gegenüber Seinesgleichen?

    Im vierten Beitrag geht es um Erkenntnisinhalte rein gedanklicher Natur. Inwiefern können wir bei mathematischen Inhalten und logischen Einsichten von ‹Existenz› sprechen? Und welche logischen Erwägungen haben bestimmte Denker veranlasst zu behaupten, es gebe immerwährende Wesen?

    Der fünfte Aufsatz befasst sich mit der Frage, wie ein Intellektueller in einer tiefen, existenziellen Krise von Grund aus innere Selbstgewissheit erringen könne. Welche Bedeutung kommt dabei der abstrakten, puren Denktätigkeit zu und welche Rolle spielt die logische Sicherheit seiner einsamen Gedankengänge?

    In den zwei letzten Aufsätzen geht es wiederum um grundlegende gedankliche Inhalte. Im sechsten Beitrag untersuche ich Leibniz’ Zugang zum Verständnis der Ideen des Raumes und der Zeit sowie zur Frage, wie eine wahre, freie Selbstbewegung zu denken und realiter zu vollziehen bzw. zu erfahren sei. Und im abschließenden, siebten Aufsatz gehe ich anhand von Überlegungen Steiners der Frage nach, welche Erfahrungen und Reflexionen naturwissenschaftlich Geschulte veranlassen können, die aktive Präsenz rein ideeller Sphären anzuerkennen.

    Stets geht es mir darum, den involvierten Einzelnen kritisch zu begleiten, dessen Ringen nach Unabhängigkeit zu fördern. –

    Mein Dank gilt vor allem Herrn Jean-Claude Lin, der es gewagt hat, dieses Buch in das Programm des Verlags Freies Geistesleben, Stuttgart, aufzunehmen. Herrn Thomas Neuerer danke ich herzlich für die freundliche Zusammenarbeit und die geduldige, verständnisvolle Gesamtgestaltung des Buches. Ferner danke ich Frau Susanne Störmer und dem Franz Steiner Verlag, Stuttgart, die mir gestattet haben, den Aufsatz «Analysing Leibniz’s Approach to Space, Time, and the Origin of Self-Motion», Studia Leibnitiana, Bd. 49, H. 1 (2017), pp. 75–95, in diesem Buch als sechsten Beitrag abzudrucken.

    URPHÄNOMENE DER RECHTSSPHÄRE I

    Grundlagen, relative und absolute Rechte

    Verissimum illud, omnia incerta esse,

    simul a iure recessum est. –

    Wahr in höchstem Maße ist dies,

    dass alles unsicher ist,

    sobald vom Recht abgewichen wird.

    Hugo Grotius¹

    Abstract

    Are there any a priori laws in the Legal Sphere, in other words: fundamental phenomena solely inherent to the Realm of Rights and Justice which are completely independent of the prevailing external power relations? Taking up the ground-breaking investigations of Adolf Reinach (23.12.1883 – 16.11.1917), the following applies with respect to relative rights:

    1. There exist, indeed, legal structures complying to essentially intrinsic laws which remain independent of external influences, and, above all, are unaffected by any kind of arbitrariness.

    2. In the case of a relative legal structure beginning with a promise and leading to a contract, the latter’s validity rests on a social act encompassing the following steps:

    a) The person who has decided to promise something to another individual must express either verbally or in writing, what he is willing to promise;

    b) The addressee must learn, i.e. become aware of the expressed promise, and understand it.

    3. The addressee’s claim – or rather, the liability assumed by him who promised, can be discharged in two ways:

    a) If he who made the promise, has kept it;

    b) If the addressee renounces to the fulfilment of his claim.

    4. When the addressee renounces his claim, he asserts an absolute right – there being nothing equivalent to it on the side of him who bound himself with his promise. From a psychological viewpoint, he who renounces dissolves the relation he had tied on behalf of the promise, whereas he who meets the claim lifts, i.e. cancels with the fulfilment the relation.

    5. The actual legal validity of a promise or a contract does also depend on its real content: it can be reduced in scope or completely abolished on two grounds:

    a) If the content of the promise or contract stands in overt contradiction to the acknowledged fundamental principles of law and – or rather – does not respect the ethical conventions the community in question unanimously holds to be basic.

    b) If the positive, established law of a community of rights contains determinative regulations, which prevent that certain formal a priori or material implications be derived from a promise or a contract that has come about.

    6. Looking at what has been referred to in points 4. and 5., we are consequently led to a further fundamental legal phenomenon – that it is neither feasible to adequately consider a concrete promise nor to judge correctly a definite contract without taking into account the entire Realm of Rights and Justice they are embedded in.

    7. The fundamental phenomena I have dealt with are of a strictly a priori nature, but they concern only relative legal structures – insofar as they entail a content of positive social character. In stark contrast to this quality, I have also hinted at the absolute right to renounce a claim, which offers a remarkable example of a fundamental legal phenomenon the content of which comprehends a clearly negative social character. This finding raises two questions:

    (i) Can we conceive absolute rights having a content with a definitely positive social character?

    We have furthermore seen that if promises and contracts are to be accepted and be valid in a given legal community, their real content has to be in accordance with certain legal principles and ethical views the community considers to be essential. This carries us to a second question:

    (ii) Providing that we conceive the human individual as a putative personality rooted in a potentially perennial individuality, wherefrom it emerges, develops, and progresses – can we then establish absolute legal structures, essential for an individual person, which are completely independent of the various, mutually differing legal communities?

    These questions open a vast field of investigations I’m partly outlining in the following two essays.

    Einleitung

    «Alle Begründungen von bestimmten Rechten, wie sie z.B. die Naturrechtlehrer versuchten, sind Sophistereien. Alles Recht hat seinen Ursprung in der Macht. Der Stärkere überwindet den Schwächeren und drängt ihm seinen Willen auf. Dieser richtet sich nach jenem; was der erstere will, gilt als Recht. Nachdenken darüber, ob jemand ein Recht wirklich zustehe, beruht auf einem Verkennen dieses Charakters des Rechtes. Wie lange ein Recht gilt, kann nur davon abhängen, wie lange derjenige, der sich das Recht erobert hat, es zu verteidigen im Stande ist.» Diese Sätze schrieb R. Steiner (1861–1925) als erläuternde Fußnote zu J. W. v. Goethes (1749–1832) Aphorismus: «Welches Recht wir zum Regiment haben, danach fragen wir nicht – wir regieren. Ob das Volk ein Recht habe, uns abzusetzen, darum bekümmern wir uns nicht – wir hüten uns nur, dass es nicht [sic!] in Versuchung komme, es zu tun»².

    Gehen wir von diesen Behauptungen bzw. Maximen aus, so müssen wir annehmen, dass weder der gefeierte Entdecker der Existenz von Urphänomenen sinnlicher Modalität, der auch den Ausdruck ‹Urphänomene› geprägt hat³, noch sein namhafter Interpret, dessen erklärtes Ziel es war, die dem phänomenologischen Ansatz Goethes entsprechende Erkenntnistheorie zu formulieren, in Hinblick auf die Rechtssphäre das Bestehen – geschweige die Relevanz – eines Sachverhaltes anzuerkennen bereit gewesen wäre, der dem Einen wie dem Anderen im Bereich des Physikalisch-Chemischen als das Wertvollste gegolten hat: das Vorhandensein sachbezogener, objektiver Urphänomene oder Grundgesetze. Es sei denn, wir fassten als rechtliches Urphänomen eben dies auf, dass jegliche effektive Rechtssatzung die aktuellen Machtverhältnisse widerspiegle, eine Lesart, die freilich dazu führte, dass wir dem Terminus ‹Urphänomen› in rechtlicher Hinsicht einen bloß übergeordnet-formalen Sinn, nicht jedoch eine inhaltlich-konkrete Bedeutung zuerkennen würden.

    Hervorheben möchte ich, dass die zitierte Aussage Steiners nicht episodischer Natur ist. So bemerkt er an anderer Stelle: «Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht. Man sehe nur ja nicht die einzelnen Rechtssatzungen verschiedener Völker als solche an. Sie sind auch nichts weiter als der Ausfluss individueller Intentionen. Was diese oder jene Persönlichkeit als sittliches Motiv empfunden hat, hat sich einem ganzen Volke mitgeteilt, ist zum Recht dieses Volkes geworden»⁴. Damit zusammenhängend, geht Steiner so weit, dass er der Rechtskunde jeglichen Wissenschaftscharakter abspricht: «Die Jurisprudenz ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Notizensammlung jener Rechtsgewohnheiten, die einer Volksindividualität eigen sind»⁵.

    Die angeführten Überlegungen Steiners gehören dem Frühwerk an, stammen aus seinem Wirken vor der Jahrhundertwende. In seinen späteren Jahren hat er bei seinem Entwurf einer Dreigliederung des sozialen Organismus eine Sphäre – Steiner spricht von ‹System› – öffentlichen Rechts definiert, «wo man es zu tun hat mit dem rein menschlichen Verhältnis von Person zu Person», und in diesem Kontext habe man «zu erstreben die Verwirklichung der Idee der Gleichheit»⁶. Aber auch dieser Idee kommt nur eine allgemeine regulative Bedeutung zu; sie ist ein Leitgedanke, kein inhaltlich konkretes Urphänomen.

    Nicht nur lehnte es Steiner ab, anzuerkennen, dass es der Rechtssphäre eigentümliche, allgemein gültige Grundgesetze gibt, er verwarf auch jegliche Ethik als Normwissenschaft⁷. Diesbezüglich war Goethe weniger explizit; irritierend wirkt allerdings, dass er beispielsweise nichts von den Vorstößen hielt, die Kapitalstrafe nicht mehr zu verhängen. So notierte er: «Wenn man den Tod abschaffen könnte, dagegen hätten wir nichts; die Todesstrafen abzuschaffen, wird schwer halten. Geschieht es, so rufen wir sie gelegentlich wieder»⁸. Und: «Wenn sich die Sozietät des Rechtes begibt, die Todesstrafe zu verfügen, so tritt die Selbsthilfe unmittelbar wieder hervor, die Blutrache klopft an die Tür»⁹. Steiner, der ansonsten sehr beflissen war, Goethes Sprüche in Prosa ausführlich zu kommentieren, hat sich über diese von kühler Skepsis oder bloßem Regierungskalkül diktierten Zynismus hinweggeschwiegen; was um so auffallender ist, als er die den zitierten Sprüchen unmittelbar vorangehenden und die auf sie folgenden Aphorismen Goethes mit teilweise langatmigen Fußnoten versehen hat.

    Die im Voraufgegangenen angeführten Äußerungen Steiners und Goethes zeigen mit ernüchternder, je erschreckender Deutlichkeit, dass wir bei der Suche nach inhaltlich verbindlichen Urphänomenen der Rechtssphäre und nach einer ethischen, wesensgemäßen Grundlegung der Menschenrechte uns weder direkt auf die denkerischen Ansätze Steiners berufen können, noch eine explizite moralische Stütze in Aussagen Goethes finden werden. Wer, enttäuscht, daraufhin das Schrifttum vieler anderer, zeitgenössischer und insbesondere «klassischer», Denker konsultiert, dürfte über ähnliche unbehagliche Erfahrungen zu berichten haben. Sehen wir uns kurz bei vier Philosophen um:

    Wie könnten wir uns bezüglich der genannten Fragen auf Platon berufen, der die Sklavenhaltung als selbstverständlich hinnahm?¹⁰. Was müssen wir von Thomas von Aquin halten, der die rücksichtlose Ausrottung der Häretiker propagierte?¹¹ Mit welcher Skepsis müssen wir Hegels Werk begegnen, der die damalige, autoritäre Gestalt des preußischen Staates zu rechtfertigen suchte?¹² Und was dürfen wir von Heidegger übernehmen, ohne Gefahr zu laufen, unbemerkt nationalsozialistische Gedankenkeime mitzuverwenden?¹³

    Damit stehen wir vor der Frage, ob wir tatsächlich nur zwischen einem willkürlich gesetzten kategorischen Imperativ, der, pointiert gesagt, den Einzelnen festnagelt¹⁴ – und einem simplifizierten ethischen Individualismus¹⁵, der jegliche allgemeine Verbindlichkeit vermissen lässt, wählen können. Oder gibt es ein Drittes, nämlich objektive Rechtsgesetze, die dem ethisch Unfreien zwar vorgeschrieben werden müssen, die sich jedoch auch der Freie zu eigen macht, weil er deren grundlegende Bedeutung einsieht?

    Sollte Letzteres zutreffen, so bestünde unsere Aufgabe darin, in freier Erkenntnisarbeit jene Rechtsgesetze aufzudecken, die einerseits an sich bestehen, anderseits auch äußerlich gelten müssen, soll sich jedes einzelne menschliche Individuum grundsätzlich zu einer freien Persönlichkeit entwickeln können. Sofern die gesuchten Gesetze einen derartigen Prozess fördern bzw. erst ermöglichen, hätten sich zwar die oben angeführten Ansichten Steiners über das Rechtswesen hinsichtlich der apriorischen, rein gedanklichen Ebene als unhaltbar herausgestellt, dieser Mangel hieße jedoch nicht zwingend, dass die erkenntnistheoretischen und freiheitsphilosophischen Ansätze Steiners und Solov’evs¹⁶ mit den – vorerst noch hypothetischen – Urphänomenen der Rechtssphäre unvereinbar seien. Wie es sich diesbezüglich verhält, wird sich erst im Laufe der Untersuchung erweisen.

    Da die Probleme, um die es in diesem ganzen Kontext geht, außerordentlich vielschichtig sind, will ich mich in diesem Aufsatz auf eine einzige Frage konzentrieren: Gibt es objektive, apriorische Rechtsgesetze, d.h. rechtliche Urphänomene?

    Gäbe es keine rechtlichen Urphänomene, könnte in der Rechtssphäre nie prinzipiell argumentiert werden; wir wären stets an willkürlich gesetzte Ausgangssätze gebunden, die sich je nach den Ortsgegebenheiten und den Zeitumständen ändern würden, das heißt: sich nach den herrschenden Machtverhältnissen richteten. Ließen sich jedoch echte rechtliche Urphänomene aufweisen, dann würde ein auf verbindlichen Prinzipien fundiertes Rechtsdenken etabliert. Dies müsste sich – wenngleich langsam und durch Rückfälle immer wieder bedroht und behindert – sowohl auf die positiv rechtliche Gesetzgebung als auch auf die bürgerliche Rechtsprechung fördernd und korrigierend auswirken.

    Solange die angeführte, grundlegende Frage nicht geklärt ist, vermögen wir auch nichts Verbindliches darüber auszusagen, ob es, beispielsweise, ein objektives, apriorisches Recht auf Eigentum gibt, oder, allgemeiner gefasst, ob es überhaupt Sinn macht, von Menschenrechten zu sprechen – diese verstanden als apriorische, wesensgesetzlich verankerte Urphänomene. Und wenn wir einsehen müssten, dass es aus gegenstandsimmanenten Gründen weder formale noch inhaltliche Rechtsprinzipien geben könne, hieße dies, dass das gesamte Rechtsdenken eines echten theoretischen Fundaments entbehrt und sämtliche Rechtssatzungen – paradoxerweise: notwendig – entweder einem Diktat entspringen oder auf letztlich unverbindlichen Konventionen beruhen. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag: erkenntnistheoretisch steht viel auf dem Spiel, und die Konsequenzen in handlungspraktischer Hinsicht sind beträchtlich.

    1. Rechtliche Gebilde –

    Gegenstand positiver Rechtssprechung

    ¹⁷

    In seiner Abhandlung «Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes» (1913) geht Adolf Reinach davon aus, dass die in einem bestimmten Gemeinwesen als verbindlich anerkannten Rechtssatzungen sich in ständigem Fluss und fortlaufender Veränderung befinden. Maßgebend für die Rechtsentwicklung seien die unentwegt wechselnden wirtschaftlichen Verhältnisse und Bedürfnisse sowie die in der Gemeinschaft vorherrschenden sittlichen Anschauungen. So unterscheiden sich die positiv-rechtlichen Bestimmungen, die in dem bürgerlichen Gesetzbuch eines bestimmten Staates enthalten sind, ganz wesentlich von naturwissenschaftlichen und namentlich von mathematischen Sätzen. Dass – um ein Beispiel zu nennen – innerhalb des Rahmens der euklidischen Geometrie beim rechtwinkligen Dreieck die Fläche des Hypotenusen Quadrates gleich der Summe der Flächen der beiden Kathetenquadrate ist, «das ist ein Zusammenhang, der von manchen Subjekten vielleicht nicht eingesehen wird, der aber unabhängig von allem Einsehen besteht, unabhängig von der Setzung der Menschen und unabhängig von dem Wechsel der Zeit»¹⁸.

    Sehen wir uns demgegenüber folgende Bestimmung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches über «Verwaltung, Nutzung und Verfügung von Errungenschaft und Eigengut im ordentlichen Güterstand der Errungenschaftsbeteiligung» innerhalb des Familienrechts an. Art. 201 lautet: «Innerhalb der gesetzlichen Schranken verwaltet und nutzt jeder Ehegatte seine Errungenschaft und sein Eigengut und verfügt darüber»¹⁹. Dies ist der seit dem 1.1.1988 gültige Gesetzestext. Nach dem alten Eherecht lauteten die entsprechenden Bestimmungen folgendermaßen: Art. 200: «Der Ehemann verwaltet das eheliche Vermögen. Er trägt die Kosten der Verwaltung …»²⁰ Und Art. 201: «Der Ehemann hat die Nutzung am eingebrachten Frauengut und ist hieraus gleich einem Nutznießer verantwortlich»²¹.

    Deutlich ist erkennbar, dass früher etwas als rechtlich «richtig» galt, das, von der heute vorherrschenden sittlichen Auffassung aus betrachtet, als befremdliches Unrecht erscheint. Aber so wenig die frühere Bestimmung sich als immanent wahr und als unabhängig vom Wechsel der Zeit erwies, so wenig dürfen wir den gegenwärtig geltenden Gesetzeswortlaut als unabänderlich ansehen; und selbst wenn er es wäre – seine aus Inhalt und Form sich zusammensetzende Gesamtgestalt verdankt er der Einsicht der Gesetzgeber und deren Willen, das für richtig Befundene als verbindlich zu erklären.

    Sofern wir nur bei derartigen Fallbeispielen der Rechtssetzung bleiben, können wir die Jurisprudenz in der Tat als eine bloße «Notizensammlung von Rechtsgewohnheiten» auffassen. Anders sieht es jedoch aus, wenn wir Reinach folgen und die rechtlichen Gebilde als solche untersuchen, welche den Gegenstand der jeweiligen positiven Rechtsprechung bilden. Hierzu gehören Abmachungen; Verträge aller Art; Verbindlichkeiten, die jemandem aufgedrängt worden sind oder die eine Person freiwillig übernommen hat; Ansprüche, die jemandem erwachsen sind oder die ein Subjekt einem anderen gegenüber erhoben hat; oder – anders formuliert – es zählen dazu sowohl Pflichten und Rechte, denen manche Autoren absoluten Charakter beimessen, als auch solche, die allgemein als von relativer Natur seiend anerkannt werden.

    2. Ein Versprechen – und was es impliziert

    Als Einstieg in die Analyse relativer Pflichten und Rechte wendet sich Reinach dem Phänomen des Versprechens²² zu. Sehen wir uns hierzu folgendes Beispiel an:

    Vor einigen Tagen teilte mir C in einem Gespräch mit, er sei daran, einen Aufsatz über Stefan Zweigs Novelle «Angst» zu schreiben; worauf mir einfiel, dass ich ein Buch besitze, welches einen Essay über diese Novelle enthält. Das erwähnte ich C gegenüber, der sofort sein Interesse bekundete, die betreffende Abhandlung kennenzulernen. Darauf sagte ich ihm: (a) «Ich werde morgen Nachmittag das Buch mitbringen und es Ihnen ausleihen.» Als ich jedoch am folgenden Tag in die Schule ging und den auf mich wartenden C erblickte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich vergessen hatte, das Buch mitzunehmen. Verlegen, konnte ich nur sagen: (b) «Es tut mir leid, ich habe das Buch zu Hause liegen lassen.» C, der eigens gekommen war, um das Buch in Empfang zu nehmen, monierte leicht ungehalten: (c) «Das darf aber nicht wahr sein!»

    Ohne von C dazu gedrängt worden zu sein, hatte ich den Satz (a) ausgesprochen und mich dadurch verpflichtet, das in Aussicht Gestellte zu erfüllen. C nahm meine Worte als ernst gemeintes Versprechen auf, und hat daraus den Anspruch hergeleitet, am darauf folgenden Tag das Buch entleihen zu können.

    Wie das Beispiel illustriert, entstehen bei einem Versprechen Anspruch und Verbindlichkeit. Daher war es mir selbst peinlich, dass ich das Versprochene vergessen hatte, ein Versehen, welches ich mit dem diffusen: «Es tut mir leid …» zugab. Und deswegen ist es auch verständlich, dass C verärgert reagierte, hatte er doch zu Recht erwarten dürfen, das Buch in Empfang nehmen zu können.

    3. Soziale Akte –

    ihre Bedeutung für die Erwahrung eines Versprechens

    Nachdem unser Einstiegsbeispiel gezeigt hat, was ein Versprechen impliziert, wollen wir im Folgenden unsere kleine Geschichte variieren, um der Frage nachzugehen, wie Versprechen zustande kommen und wirksam werden.

    Variation Nr. 1: Hätte ich (a) nicht ausgesprochen, sondern mir den betreffenden Satz nur innerlich gesagt, so hätte ich mir zwar etwas vorgenommen, doch C gegenüber in keiner Weise explizit versprochen, und er hätte nichts von meinem stillen Entschluss erfahren. So wäre C weder veranlasst noch befugt gewesen, anzunehmen, er habe einen Anspruch darauf, dass ich ihm ein Buch brächte. Aller Voraussicht nach wäre C am folgenden Tag gar nicht in die Schule gegangen; das tat er – gemäß dem Ausgangsbeispiel – ja nur, weil er das von mir in Aussicht gestellte Buch abholen wollte.

    Variation Nr. 2: Angenommen, ich hätte (a) ausgesprochen, doch C habe meine Worte zwar akustisch vernommen, aber deren Sinn nicht erfasst, und er sei zu verlegen gewesen, um mich zu ersuchen, das Gesagte zu wiederholen; darüber hinaus hätte ich selber nicht gemerkt, dass C meine Worten (d.h. den Satz (a)) nicht verstanden habe: Meinem eigenen Verständnis nach wäre ich dann C gegenüber eine Verpflichtung eingegangen; wohingegen C selbst von einem ihm zustehenden Anspruch, den ich zu erfüllen gehabt hätte, nichts gewusst hätte. Der nichts ahnende C wäre daher – aller Wahrscheinlichkeit nach – weder am folgenden Tag in der Schule erschienen, noch hätte er sich später bei mir nach dem Buch erkundigt. Da er sich meines Versprechens nicht bewusst gewesen wäre, hätte C sich auch nicht veranlasst gesehen, einen Anspruch auf die Verwirklichung der von mir geäußerten, aber nicht eingelösten Intention geltend zu machen. Damit wäre in mir das Bewusstsein allmählich erloschen, der – bzw. schon bald nur

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