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Polizei & Wissenschaft: 2/2020
Polizei & Wissenschaft: 2/2020
Polizei & Wissenschaft: 2/2020
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Polizei & Wissenschaft: 2/2020

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About this ebook

Kompetentes Handeln basiert allgemein auf der Kombination
praktischer Erfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Grundlage hierfür ist die Kommunikation und Diskussion
zwischen Wissenschaftlern und Praktikern. Dies gilt ganz
besonders für eine moderne Polizei.
Die Zeitschrift Polizei & Wissenschaft bietet die Möglichkeit
zur wissenschaftlichen Kommunikation polizeirelevanter
Themenbereiche. Sie versteht sich als Schnittstelle zwischen
Wissenschaft und Polizei. Durch ihre interdisziplinäre
Ausrichtung werden unterschiedlichste wissenschaftliche
und praktische Perspektiven miteinander vernetzt. Dazu
zählen insbesondere die Bereiche Psychologie, Rechtswissenschaft,
Soziologie, Politikwissenschaft, Medizin,
Arbeitswissenschaft und Sportwissenschaft. Aber natürlich
wird auch polizeirelevantes Wissen der Disziplinen genutzt,
die nicht klassisch mit dem Begriff Polizei verknüpft sind,
wie z.B. Wirtschaftswissenschaften, Sprachwissenschaften,
Informatik, Elektrotechnik und ähnliche.
Polizei & Wissenschaft regt als breit angelegtes Informationsmedium
zur Diskussion an und verknüpft Themenbereiche.
Sie erscheint vierteljährlich und geht mit ihrer interdisziplinären
Interaktivität über einen einseitigen und fachlich
eingeschränkten Informationsfluss hinaus. Dazu nutzt sie
die Möglichkeiten des Internets und fördert durch die
Organisation von Veranstaltungen auch eine direkte
Kommunikation.
LanguageDeutsch
Release dateJun 22, 2020
ISBN9783866766488
Polizei & Wissenschaft: 2/2020

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    Polizei & Wissenschaft - Verlag für Polizeiwissenschaft

    Gesichert rechtsextrem? Das Wesen der identitären Bewegung Deutschland

    Ideologie, Straftatenaufkommen, Gefährdungspotenzial, Aufgaben für Polizei, Politik und Gesellschaft

    Matthias Frey & Kamal Barini-Gambarov

    1. Einleitung:

    Rechte Gewalt vs. Hassrhetorik

    Die verspätete Aufdeckung der politisch motivierten Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) als wohl noch für längere Zeit fortwirkender Tiefpunkt in der Geschichte der bundesrepublikanischen Kriminalitätsbekämpfung und die nachfolgenden Maßnahmen auf verschiedenen administrativen Ebenen markieren nicht das Ende rechtsextremer Gewalttaten in der Bundesrepublik. „Trotz eines Rückgangs der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten seit dem Jahr 2017 ist die Gewaltorientierung in der rechtsextremistischen Szene nach wie vor unverändert hoch", schreibt das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) im November 2018¹. Dass rechtsextreme Gesinnung nach wie vor auch in tödliche Gewaltverbrechen münden kann, zeigt etwa die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 2. Juni 2019.² Und jüngst wurde dies erneut durch die Ermordung von zwei Menschen durch einen rechtsextremistisch motivierten Terroristen am 09.10.2019 illustriert, der sich anlässlich eines geplanten Massenmords in einer Synagoge in Halle an der Saale via Livekamera und Online-Manifest auf den sog. „großen Austausch³ beruft, einen zentralen Begriff der „Neuen Rechten⁴, der in Deutschland auch als „Umvolkung bekannt ist.⁵ Nicht nur die Bereitschaft zu unmittelbarer Gewalt und deren Anwendung birgt in diesem Kontext Gefahren, sondern ebenso verbales Zündeln und rechtsextreme Agitation. Im Kontext rechtsextremistischer Gewalt spricht das Bundesinnenministerium insbesondere sozialen Netzwerken bei der Radikalisierung von bisher nicht in Erscheinung getretenen Personen „angesichts der im virtuellen Raum einfachen Kontaktaufnahme eine bedeutende Rolle zu.⁶ Für Gesellschaft, Politik und Polizei lässt sich dabei hinsichtlich der gesellschafts- und kriminalpolitischen Bedeutung – und impliziten Gefährlichkeit – nicht immer trennscharf zwischen der Verbreitung von Xenophobie und Hassrhetorik, aktionsorientiertem Rechtsextremismus, dem impliziten oder expliziten Aufrufen zu Straftaten oder der konkret drohenden oder zu verzeichnenden Ausübung von Gewalt gegen Sachen oder Personen bis hin zu Tötungsdelikten differenzieren. Die Gefahren des Rechtsextremismus manifestieren sich vielmehr in all diesen Erscheinungen.

    Zusammenfassung

    Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich anlässlich einer aktuellen Kontroverse um ihre Kategorisierung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) mit dem Wesen der Identitären Bewegung Deutschland, einer wesentlichen Akteurin der sog. Neuen Rechten, die mit nachhaltigen Social-Media-Kamagnen und öffentlichenkeitswirksamen Aktionen rechtes Gedankengut, Kulturrassismus und EU-Feindlichkeit verbreitet. Der Artikel beschreibt ihre Ziele, gibt Auskunft über Erkenntnisse zu Vorgehen und Straftaten ihrer Anhänger_innen und stellt die Ergebnisse von Experteninterviews, die im Rahmen einer Bachelorarbeit an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin geführt wurden, zu ihrem Gefährdungspotenzial und daraus resultierenden Aufgaben für Polizei, Politik und Gesellschaft dar.

    Rechtsextremismus, Identitäre Bewegung, Neue Rechte, Kulturrassismus, Europabegriff, „Großer Austausch", Verfassungsschutz, Hassrhetorik, Social Media, AfD.

    Abstract

    On the occasion of a current controversy about its categorization by the Federal Secret Service of Germany, this article deals with the nature of the Identitarian Movement in Germany, an essential actor of the so-called New Right, which disseminates right-wing ideas, cultural racism and EU hostility by means of sustainable social media campaigns and high-profile actions. The article describes their goals, provides information about their supporters‘ proceedings and crimes, and presents the results of expert interviews conducted as part of a bachelor‘s thesis at the Berlin School of Economics and Law on their potential dangers and the resulting challenges for police, policy and society.

    Right-wing extremism, Identitarian Movement, New Right, cultural racism, concept of Europe, „great replacement", security intelligence, hate speech, social media, AfD.

    2. Die Identitäre Bewegung Deutschland und die aktuelle Kontroverse um ihre Kategorisierung

    Eine vielbeachtete Gruppierung, die in den vergangenen Jahren in ihrer Öffentlichkeitsarbeit verstärkt auf soziale Medien und das Netz im Allgemeinen gesetzt hat, um rassistische und rechtsextreme Ideologien zu verbreiten, ohne dabei ihrerseits durch explizite Gewalttaten aufzufallen, ist die Identitäre Bewegung Deutschland (IBD). Um ihre Charakterisierung hat sich in jüngster Vergangenheit eine Kontroverse entwickelt. So wird die IBD im Verfassungsschutzbericht 2018, der am 27. Juni 2019 veröffentlicht wurde, vor dem Hintergrund „tatsächlicher [vorliegender] Anhaltspunkte für eine rechtsextremistische Bestrebung als entsprechender „Verdachtsfall kategorisiert. Am 11. Juli 2019 ist das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) dann einen Schritt weiter gegangen und hat die Bewegung als „gesichert rechtsextrem" beschrieben.⁷ Zur Begründung merkte der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, an: „Als Frühwarnsystem dürfen wir unser Augenmerk nicht nur auf gewaltorientierte Extremisten legen, sondern müssen auch diejenigen im Blick haben, die verbal zündeln.⁸ Wie der Tagespiegel in diesem Zusammenhang berichtet, hatte auch Bundesinnenminister Seehofer im Juni 2019 vor der IBD als „geistige Brandstifter gewarnt: „Auch wenn die IBD ‚noch nicht‘ mit Gewalt auf sich aufmerksam mache, sei sie ‚nicht minder gefährlich‘, so der Minister.⁹ Offenbar hatte das BMI der IBD aber im Dezember 2018 sowie im Januar 2019 schriftlich zugesichert, in künftigen Verlautbarungen klarzustellen, dass es sich lediglich um einen entsprechenden „Verdachtsfall handele, solange die IBD im Verfassungsschutzbericht als solcher eingestuft werde – wie eben im jüngsten Bericht 2018 geschehen.¹⁰ Nach einem Eilantrag der IBD¹¹ stellte das Verwaltungsgericht Köln in der Folge am 25.09.2019 fest, dass das BfV gegen die genannte Zusage des BMI verstoßen habe; die IBD sei insoweit in ihrem sozialen Achtungsanspruch und Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden¹². Die Erkenntnisse für eine Neubewertung hätten zudem in der kurzen Zeit zwischen Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichts und der Pressemitteilung des BfV nicht gewonnen werden können. Redaktionsschluss für den Verfassungsschutzbericht ist jeweils zum Jahresende. Erkenntnisse, die danach gewonnen werden, finden keinen Eingang mehr in den Bericht. Das Verwaltungsgericht untersagte dem BfV im Ergebnis, die IBD weiter als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung" zu bezeichnen und die Pressemitteilung vom 11.07.2019 zu widerrufen. Die Sicherheitsbehörden dürfen demnach in vorliegenden Fall ihre offizielle Einschätzung nicht auf aktuelle Erkenntnisse zu Äußerungen und Aktionen einer Gruppierung und darauf basierende Bewertungen stützen, sondern bleiben an den Stand des einmal jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichtes gebunden, dessen Redaktionsschluss Monate vor dem Erscheinungstermin liegt.

    3. Das Wesen der IBD:

    Daten und Erkenntnisse

    Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion ist es angezeigt, eine Zwischenbilanz zum Phänomen der IBD zu ziehen. Was ist das Wesen dieser Gruppierung? Welche Ziele verfolgt sie? Welche Erkenntnisse zu Vorgehen und Straftaten von Anhänger_innen der IBD liegen vor? Lässt sich über die transportierte Gesinnung hinaus auch aus den konkreten Aktionen der IBD eine wie auch immer geartete Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung ableiten? Welche Aufgaben ergeben sich für Politik und Gesellschaft, und insbesondere für die Polizei?

    Diesen Fragen wurde im Sommer 2019, vor Beginn der o. g. Kontroverse, in einer am Fachbereich 5 – Polizei und Sicherheitsmanagement – der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin betreuten Bachelorarbeit nachgegangen, deren Ergebnisse hier maßgeblich einfließen.¹³ In der Arbeit wurden die oben genannten Fragen sowohl mittels einer umfangreichen Literaturrecherche zur Phänomenologie und zur Einordnung der Bewegung innerhalb der Ideologie der Neuen Rechten behandelt als auch in Ergänzung hierzu durch eine aufgrund forschungsethischer Erwägungen anonym behandelten Befragung von Experten aus den Bereichen Politik, NGOs, Wissenschaft und Polizei. Die Befragungen fanden in Form von leitfadengestützten Interviews statt.

    Die Anhängerschaft der IBD wird bundesweit auf etwa 600 Personen geschätzt¹⁴, in Berlin und Brandenburg sind es etwa 40.¹⁵ Die Aktivisten sind vornehmlich jung (bis 30 Jahre alt) und verstehen sich als „elitäre und intellektuelle Stichwortgeber¹⁶. Die erst 2012 gegründete Bewegung, bei der es sich rechtlich gesehen um einen Verein handelt, hat ihre Wurzeln in Deutschland in der kulturrassistisch geprägten „Sarrazin-Bewegung¹⁷, die sich auf das 2010 erschienene Buch „Deutschland schafft sich ab des SPD-Politikers und Publizisten Thilo Sarrazin¹⁸ beruft. Die IBD hat mit ihren bemüht spektakulären Aktionen immer wieder mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wie Kamal Barini-Gambarov in seiner Arbeit ausführt¹⁹. Vor allem im Zuge derartiger Aktionen, wegen derer sie mitunter als „rechte Spaßguerilla²⁰ bezeichnet wird, versucht sie demnach, ihre Ideologie an die Bevölkerung zu übermitteln. Als elitär ausgerichtete Strömung der Neuen Rechten scheint sie darauf bedacht, eine Gratwanderung zwischen Rechtskonservatismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zu vollziehen.²¹

    Inhaltlich arbeitet die IBD vielfach mit Ressentiments gegenüber Menschen muslimischen Glaubens.²² So fügte die IBD 2017 in einem Blogbeitrag dem Bild einer Moschee das Meme²³ „Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung 2050 bei 20 Prozent²⁴ hinzu. Damit soll augenscheinlich suggeriert werden, dass der Islam bzw. ein bestimmter Bevölkerungsanteil von Anhängern dieser Religionsgemeinschaft Gefahren für die wie auch immer zu definierende deutsche kulturelle Identität konstituieren. Mit dieser Auffassung korrespondiert der für die IBD zentrale Begriff des „Ethnopluralismus. Die dem sogenannten Ethnopluralismus zugrunde liegende Idee ist, dass ethnische Gruppen strikt räumlich und kulturell abgegrenzt werden müssten.²⁵ Erfolgt dies nicht, drohe der Zerfall „der eigenen Kultur durch eine vermeintliche Überfremdung.²⁶ Der Ansatz ist also im Ergebnis als Gegenentwurf zu multikulturellen Gesellschaften zu verstehen. Der irreführende begriffliche Bezug zum Pluralismus ist lediglich so aufzufassen, dass die Kulturen in ihrer jeweiligen Reinform nebeneinander existieren und sich grundsätzlich nicht vermischen sollen. Damit hängt wiederum unmittelbar der Begriff der „Remigration zusammen, in deren Zuge multikulturelle Gesellschaften in räumlich-kulturell abgegrenzte Gesellschaften verwandelt werden sollen. „Remigration sei demnach erforderlich, um den sogenannten „großen Austausch²⁷ zu verhindern, nämlich die perzipierte Verdrängung der „europäischen Ethnie durch fremde „Invasoren.²⁸ Der aus der „Blut und Boden-Ideologie der „Alten Rechten²⁹ entstammende Begriff der „Rasse wird dabei durch eine angebliche „ethnokulturelle Identität ersetzt.

    Die IBD ist eine der jüngsten Strömungen innerhalb der Neuen Rechten, die zur Verbreitung ihrer Ideologie insbesondere Wege sucht, die für die Generation der Digital Natives³⁰ so alltäglich wie selbstverständlich sind: Memes, Social Media, gestreamte Inhalte. Die Bewegung greift zeitgenössische Themen auf und transportiert ihr Gedankengut dazu unter anderem auch mittels Flashmobs. So stellten sich etwa 2013 Schild- und Fahnenträger mit dem Logo der Bewegung direkt vor dem symbolträchtigen Brandenburger Tor in der Bundeshauptstadt auf.³¹ Im selben Jahr kam es zu einer Transparentaktion anlässlich der geplanten Umwandlung eines Altenheims in eine Unterkunft für Geflüchtete im Berliner Bezirk Reinickendorf³². Die IBD setzt Slogans wie „100 Prozent Identität – Null Prozent Rassismus³³ ein; sie filmt ihre Aktionen regelmäßig und stellt sie ins Netz; die soeben referenzierte Transparentaktion etwa mit dem Text „Nicht reden. Handeln. Und was tust du? Identitäre Bewegung.de³⁴. Im August 2016 kletterten Aktivisten der Bewegung auf das Brandenburger Tor und hängten neben ihrem Logo noch ein Transparent mit der Aufschrift „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft auf, bis die Polizei dem ein Ende setzte.³⁵ Am 21. Dezember 2016, zwei Tage nach dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz, blockierten sie den Eingang zur CDU-Parteizentrale in Berlin und forderten „die sofortige Schließung der Grenzen, die Ausweisung illegaler Einwanderer, den Stopp der Islamisierung Europas sowie die Ausschöpfung aller rechtlichen Mittel, um zu verhindern, dass sich solche Taten wiederholen.³⁶ Die Aktionen haben gemein, dass sie mit geringem Aufwand planbar sind und konsequent dokumentiert werden, um sie zielgerichtet

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