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KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS: Ein Berlin-Krimi
KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS: Ein Berlin-Krimi
KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS: Ein Berlin-Krimi
eBook297 Seiten3 Stunden

KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS: Ein Berlin-Krimi

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Über dieses E-Book

 West-Berlin, 1956. 
 Ein Mann ohne Gedächtnis kommt in einem Krankenhaus zu sich; angeblich ist sein Name Viktor Kafka, aber nicht einmal daran vermag er sich zu erinnern. Sein Gesicht ist verunstaltet von einer hässlichen Narbe – offensichtlich wurde er von einem unbekannten Dritten niedergeschlagen. 
 Wem kann Viktor Kafka vertrauen? Wird er sein Erinnerungsvermögen je zurückgewinnen?  
 Während Kafka sich mit seiner neue Situation zu arrangieren versucht, geschieht ein brutaler Mord. Und Kafka kann sich keineswegs sicher sein, ob er selbst der Mörder ist... 
 
 Kafka und der Schatten über dem Fluss  ist ein spannender und düsterer Kriminal-Roman von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien  Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace ,  Ein Fall für Remigius Jungblut  und  Friesland . 
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum2. Dez. 2021
ISBN9783755401759
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    Buchvorschau

    KAFKA UND DER SCHATTEN ÜBER DEM FLUSS - Christian Dörge

    Das Buch

    West-Berlin, 1956.

    Ein Mann ohne Gedächtnis kommt in einem Krankenhaus zu sich; angeblich ist sein Name Viktor Kafka, aber nicht einmal daran vermag er sich zu erinnern. Sein Gesicht ist verunstaltet von einer hässlichen Narbe – offensichtlich wurde er von einem unbekannten Dritten niedergeschlagen.

    Wem kann Viktor Kafka vertrauen? Wird er sein Erinnerungsvermögen je zurückgewinnen?

    Während Kafka sich mit seiner neue Situation zu arrangieren versucht, geschieht ein brutaler Mord. Und Kafka kann sich keineswegs sicher sein, ob er selbst der Mörder ist...

    Kafka und der Schatten über dem Fluss ist ein spannender und düsterer Kriminal-Roman von Christian Dörge, Autor u. a. der Krimi-Serien Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace, Ein Fall für Remigius Jungblut und Friesland.

    Der Autor

    Christian Dörge, Jahrgang 1969.

    Schriftsteller, Dramatiker, Musiker, Theater-Schauspieler und -Regisseur.

    Erste Veröffentlichungen 1988 und 1989:  Phenomena (Roman), Opera (Texte).

    Von 1989 bis 1993 Leiter der Theatergruppe Orphée-Dramatiques und Inszenierung

    eigener Werke,  u.a. Eine Selbstspiegelung des Poeten (1990), Das Testament des Orpheus (1990), Das Gefängnis (1992) und Hamlet-Monologe (2014).

    1988 bis 2018: Diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Literatur-Periodika.

    Veröffentlichung der Textsammlungen Automatik (1991) sowie Gift und Lichter von Paris (beide 1993).

    Seit 1992 erfolgreich als Komponist und Sänger seiner Projekte Syria und Borgia Disco sowie als Spoken Words-Artist im Rahmen zahlreicher Literatur-Vertonungen; Veröffentlichung von über 60 Alben, u.a. Ozymandias Of Egypt (1994), Marrakesh Night Market (1995), Antiphon (1996), A Gift From Culture (1996), Metroland (1999), Slow Night (2003), Sixties Alien Love Story (2010), American Gothic (2011), Flower Mercy Needle Chain (2011), Analog (2010), Apotheosis (2011), Tristana 9212 (2012), On Glass (2014), The Sound Of Snow (2015), American Life (2015), Cyberpunk (2016), Ghost Of A Bad Idea – The Very Best Of Christian Dörge (2017).

    Rückkehr zur Literatur im Jahr 2013: Veröffentlichung der Theaterstücke Hamlet-Monologe und Macbeth-Monologe (beide 2015) und von Kopernikus 8818 – Eine Werkausgabe (2019), einer ersten umfangreichen Werkschau seiner experimentelleren Arbeiten.

    2021 veröffentlicht Christian Dörge den Giallo-Roman Das rote Trauma und startet drei Roman-Serien: Die unheimlichen Fälle des Edgar Wallace sowie München-Krimis um die Privatdetektive Jack Kandlbinder und Remigius Jungblut.

    KAFKA UND DER SCHATTEN

    ÜBER DEM FLUSS

    Die Hauptpersonen dieses Romans

    Viktor Kafka: ein Mann mit Gedächtnisverlust.

    Thomas Kafka: sein vermeintlicher Cousin.

    Helene Martin: Lernschwester im St.-Hedwig-Krankenhaus.

    Lukas Schröter: Hauptkommissar bei der West-Berliner Kriminalpolizei.

    Oberst James Brandt: ein Mörder, Erpresser und Schmuggler – und der Mann mit den tausend Gesichtern.

    Silvester Krug: ein Diamantenhändler am Ku'damm.

    Fritz Wagner: Steward auf der Luciano.

    Werner Schlüter: Kapitän der Luciano.

    Linus Albrecht: Polizeipräsident von West-Berlin.

    Dieser Roman spielt in West-Berlin und in Liverpool des Jahres 1956.

      Erstes Kapitel

    Der Mann mit der großen Narbe an der Stirn starrte auf die weißen Wände des Krankensaales.

    Die letzten vierzehn Tage hatte er in einer weißen Welt verbracht. Wie die Wände waren auch die Laken seines Bettes weiß, so weiß wie die steifen, raschelnden Uniformen der Schwestern und die Mäntel der Ärzte. Er wusste wohl, dass jenseits der Mauern des St.-Hedwig-Krankenhauses in Berlin Mitte eine laute, riesige, bunte Weltstadt lag, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es in dieser Weltstadt aussah. Er litt an Amnesie, an Gedächtnisschwund.

    Seine Personenbeschreibung war, wie man ihm versichert hatte, in allen Polizeirevieren in Berlin ausgehängt. In dem Aushang wurde er als ein Mann mit rotem Haar und blauen Augen beschrieben, der 1,90 m groß und athletisch gebaut war. Als besonderes Kennzeichen war eine zehn Zentimeter lange Narbe an der linken Stirnseite angegeben. Seine Bekleidung habe, wie der Steckbrief mitteilte, aus einem dunkelblauen Anzug, Wildlederschuhen und einem blaugestreiften Hemd bestanden, aus dem die Wäschereizeichen entfernt worden waren. Aber bis jetzt hatte sich niemand gemeldet, der nähere Angaben über ihn machen konnte.

    Stundenlang hatten die Ärzte an seinem Bett gesessen und sich bemüht, von ihm einen Hinweis zu erhalten, was er getan hatte, bevor er an einem kalten Morgen um drei Uhr früh im Herzen Berlins, auf dem Alexanderplatz, von der Polizei aufgegriffen worden war. Aber er konnte sich an nichts mehr erinnern, nicht einmal an seinen Namen. Also führte man ihn in der Krankenakte als Patient X.

    Zuerst vermutete man eine Gehirnverletzung. Aber die Röntgenaufnahmen zeigten, dass der Schlag, von dem die furchtbare Narbe herrührte, abgesehen von Gedächtnisverlust und schweren Alpträumen, keine Nachwirkungen hinterlassen hatte. So ließ man ihn jetzt im Bett liegen, während die Behörden über sein weiteres Schicksal berieten.

    Von Zeit zu Zeit blieben die Schwestern stehen, um sich mit ihm zu unterhalten. Er war ihnen für ihre Mühe dankbar; aber ein wirkliches Interesse konnte in ihm nur Helene Martin erwecken, eine Lernschwester, die in dem riesigen, unpersönlichen Krankenhaus ihren weiblichen Charme noch nicht eingebüßt hatte. Sie hatte dunkles kurzgeschnittenes Haar und braune Augen, die das Mitleid manchmal zärtlich blicken ließen; auch die Schwesterntracht konnte die sanften Rundungen ihrer Figur nicht völlig verbergen. Nur wenn sie an seinem Bett stehenblieb und sich mit ihm über die Tagesereignisse unterhielt, um zu versuchen, sein Interesse am Lauf der Welt wachzurufen, trat ein Lächeln in seine Augen.

    Manchmal versuchte er, sich aufzuraffen. Dann mühte er sich ab, sich an irgendetwas zurückzuerinnern, wenigstens eine Tatsache aus seiner Vergangenheit zu finden, an die er sich klammern konnte. Er konnte doch nicht plötzlich vom Himmel gefallen sein, er musste schließlich einmal eine Frau oder eine Mutter und einen Beruf gehabt haben. Aber alle Mühe war umsonst.

    Mehrfach suchten ihn Leute im Krankenhaus auf, in der Hoffnung, in ihm einen vermissten Anverwandten wiederzuerkennen. Erst kam ein kleiner Mann in einem schäbigen Mantel, der in freudiger Erwartung den Krankensaal betrat. Aber diese Freude verging, als er die kräftige Gestalt von Patient X sah. Ein paar Tage später folgte ihm eine große, vergrämte Frau, die ihren Mann suchte. Er war glücklich, als sie wieder fortging. Nach ihr kam ein gebücktes, altes Mütterchen, das seit dreißig Jahren ihren Sohn nicht mehr gesehen hatte. Nachdem auch sie sich enttäuscht wieder entfernt hatte, meldete sich eine ganze Woche hindurch niemand, so dass er schon befürchtete, für immer ein Mann ohne Namen zu bleiben.

    Doch eines Nachmittags, als er gerade im Halbschlaf auf seinem Bett lag, betrat eine kleine Prozession, geführt von dem Chefarzt und der Oberschwester, den Krankensaal. Hinter ihnen ging ein untersetzter, jovialer Mann von Anfang Vierzig in einem gut geschnittenen schwarzen Mantel, der ein Paar Autohandschuhe in der Hand trug. Als er der Gestalt auf dem Bett ansichtig wurde, drängte er sich vor und hielt Patient X die Hand hin.

    »Das ist doch Viktor!«, rief der Dicke. »Du hast uns aber Angst eingejagt, als du einfach ohne Abschied verschwandest! Wir hielten dich schon für tot! Was für eine scheußliche Narbe! Wo hast du dir denn die geholt? Dann ist es ja kein Wunder, dass du das Gedächtnis verloren hast!«

    »Sie erkennen ihn?«, erkundigte sich der Arzt.

    »Natürlich! Er ist doch mein Cousin, Viktor Kafka, der bei uns zu Besuch ist. Er ist Gummipflanzer auf Java und jetzt auf Urlaub hier. Außer uns hat er keine Verwandten in Deutschland. Du erkennst mich doch, nicht wahr, Viktor, alter Junge?«

    »Es klingt vielleicht dumm, aber ich muss leider sagen, dass ich mich nicht erinnern kann...«

    »Ist dir denn nicht einmal mein Name bekannt?«

    »Nein.«

    Der dicke Mann musste laut lachen, hielt aber sofort inne, als mehrere der anderen Kranken ihn empört anstarrten.

    »Entschuldigen Sie; ich habe um ein Haar vergessen, dass ich in einem Krankenhaus bin. Aber es ist einfach nicht zu glauben: Dort liegt mein Cousin vor mir und hat nicht die geringste Ahnung, wer ich bin! Dabei haben wir doch so viele Stunden miteinander verbracht! Ich bin Thomas Kafka! Sagt dir dieser Name denn wirklich gar nichts?«

    Der Mann im Bett schüttelte den Kopf. Der Dicke seufzte und wandte sich an den Arzt.

    »Ganz unglaublich! Er hat wirklich keine Ahnung, wer ich bin! Aber ich erkenne ihn ohne jeden Zweifel. Er kam Ende August von Java nach Deutschland. Nachdem er einige Zeit bei uns gewohnt hatte, fuhr er eines Tages von meinem Haus in Potsdam nach Berlin. Er sagte uns, er werde die Nacht bei einem Freund verbringen. Als er auch am nächsten Tag nicht zurückkehrte, nahmen wir an, er sei vielleicht nach Paris gefahren – ja, unser Viktor ist tatsächlich so ein Mensch –, und so machten wir uns zunächst wegen seiner Abwesenheit keine Gedanken. Hier ist meine Karte – was ist denn mit seinem Kopf, Doktorchen?«

    Der Arzt zuckte bei dieser Anrede zusammen. »Glücklicherweise hat der Schlag keine organischen Verletzungen zur Folge gehabt. Er führte nur zu einer schweren Gehirnerschütterung. Ein nicht so kräftig gebauter Mann wäre von diesem Schlag wohl getötet worden. Ich möchte Ihnen vorschlagen, wegen seiner Narbe einen kosmetischen Chirurgen aufzusuchen.«

    »Das möchte ich ihm überlassen«, erwiderte der Dicke. »Wenn er sich bei mir ausgeruht hat, wird ihm wohl das Gedächtnis zurückkommen. Na, wie ist das, Viktor, mein Junge? Fühlst du dich für eine solche Fahrt gesund genug?«

    »Ich weiß nicht, ob wir ihn schon entlassen sollten«, wandte der Arzt ein. »Nachdem er vierzehn Tage ausschließlich im Bett gelegen hat, muss er sich ja schwach fühlen...«

    »Unsinn! Er braucht jetzt gute Potsdamer Luft! Das ist’s! Aber Sie sind der Chef hier. Mit Ihrer Erlaubnis nehme ich ihn sofort mit.«

    Der Arzt sah auf die Visitenkarte in seiner Hand. Thomas Kafka, Im- und Export, Damaschkeweg 14, Potsdam las er. Der dicke Mann mochte ein angesehener, wohlhabender Bürger sein, dachte er bei sich; bei der Identifizierung schien er auch nicht die geringsten Zweifel zu haben.

    »In Ordnung«, entschied er schließlich. »Nehmen Sie ihn mit. Würden Sie so gut sein, mich zu begleiten, denn es sind noch einige Formalitäten zu erledigen.«

    Viktor Kafka kletterte aus dem Bett und kleidete sich an. Während er anschließend die Rückkehr seines Cousins abwartete, schlenderte er zum Fenster und starrte in den winterlichen Garten hinaus. Dicke Eiszapfen hingen von den Rändern des Brunnens herab, und die Blumenbeete waren weiß bereift. Abgeschwächt tönte von der Hauptstraße der Lärm des Straßenverkehrs herüber. Plötzlich empfand er eine verzweifelte Angst vor der Welt, die ihn jenseits dieser Mauern erwartete.

    Eine Hand berührte seinen Arm, und der junge Mann wandte sich um. Helene Martin stand neben ihm. Er wusste sofort, dass sie sein Fortgehen bedauerte.

    »Ich möchte Sie doch nicht gehen lassen, ohne Ihnen Adieu zu sagen«, murmelte die Lernschwester. »Wenn Sie fort sind, wird es im Krankensaal nicht mehr so nett sein wie bisher. Aber ich hoffe, dass Sie bald Ihr Gedächtnis wiedererlangen werden.«

    »Hoffentlich«, antwortete er müde. »Es hat mir viel geholfen, wenn ich mich mit Ihnen unterhalten durfte. Ich werde Sie sehr vermissen. Ich bitte Sie nur, stets so menschlich und mitfühlend zu bleiben, wie Sie es mir gegenüber gewesen sind. Es hat für mich sehr viel bedeutet, Sie kennenzulernen.«

    »Wirklich?«, fragte die junge Frau eifrig. »Werde ich von Ihnen hören? Ich würde gern wissen, wie es Ihnen weiterhin ergeht.«

    »Vielleicht. Falls ich wieder gesund werden sollte, möchte ich Sie gern wiedersehen. Aber gegenwärtig ist bei mir alles noch so wirr und unklar, dass ich Ihnen nichts versprechen kann.«

    Helenes braune Augen trübten sich, als sie sich abwandte, aber ihre Stimme klang fest: »Leben Sie wohl, Herr Kafka. Sie können sicher sein, dass ich Sie nicht vergessen werde.«

    Gerade als sie ihn verließ, trat Thomas Kafka mit einem Regenmantel über dem Arm zu ihm hin.

    »Zieh dir diesen Mantel an, alter Junge!«, forderte er ihn auf. »Deinen eigenen hast du wohl beim Herumwandern verloren. Fertig? Dann gehen wir! Marion wird schon mit dem Essen auf uns warten.«

    »Marion?«

    »Meine Frau natürlich. Dein Gedächtnis hat, wie ich sehe, wirklich gänzlich Ferien gemacht. Wenn du wieder bei mir zu Hause bist, wird dir schon die Erinnerung zurückkommen. Hast du denn gar keine Ahnung, wie du zu dem Hieb auf den Kopf gekommen bist?«

    »Nicht die geringste. Ich kann mich nur ganz dunkel erinnern, dass es wehgetan hat. Es sieht auch nicht gerade schön aus, wie?«

    Der dicke Mann unterdrückte einen Schauder, als er einen Blick auf die hässliche rote Narbe warf, von der überall kleine rote Linien ausgingen. Wie die meisten Rothaarigen, hatte auch der junge Mann eine ausgesprochen bleiche Haut, so dass die Narbe noch stärker hervorstach, als es sonst der Fall gewesen wäre. »Nein, wirklich nicht. Aber die kosmetische Chirurgie kann geradezu Wunder wirken, wie ich gehört habe. Natürlich ist das ganz deine Sache, wie ich schon dem Arzt gesagt habe. Übrigens schien dem Doktor meine Art, mit ihm zu sprechen, nicht zu passen. Diese Leute sind eben manchmal ein bisschen von oben herab, bis man ihnen zeigt, dass man ihre Ansichten nicht allzu tragisch nimmt.« Thomas Kafka musste laut lachen. Inzwischen hatten sie das Eingangstor erreicht, vor dem ein großer Mercedes stand. Der dicke Mann hielt die Tür auf, aber Viktor blieb stehen und blickte zum Eingang zurück.

    »Was ist denn? Hast du etwas vergessen?«

    »Nein. Ich glaubte nur, jemand, den ich kenne, würde vielleicht noch einmal hierherkommen...«

    Thomas Kafka gab seinem Begleiter einen freundschaftlichen Rippenstoß und kicherte. »Ich kann mir’s schon denken – diese hübsche braunäugige Kleine! Für so etwas könnte ich mich auch noch erwärmen! Hoffentlich habt ihr wenigstens eure Adressen ausgetauscht.«

    Viktor empfand eine unbestimmte Abneigung gegen den Mann, der neben ihm im Auto saß. Während sich der Wagen durch den Straßenverkehr schlängelte, hatte er nur den Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden. Die ersten Schleier der Dämmerung begannen schon, sich auf die Erde zu senken. Ein leichter Regen fiel, und die Scheinwerfer der Autos spiegelten sich in dem nassen Asphalt der Straße. Aus den Büros und Geschäften strömten die Menschen heraus.

    Der dicke Mann fluchte heftig, als er scharf bremsen musste, um nicht eine Frau zu überfahren, die mit ihrer Einkaufstasche auf einen Omnibus zu rannte.

    »Entschuldige«, sagte er zu Viktor, als er den Ausdruck auf dessen Gesicht sah. »Aber diese blöden Weiber können einem wirklich auf die Nerven fallen; wohl ein dutzendmal am Tag überfahre ich beinahe eine Frau, und nie durch meine eigene Schuld. Aber du brauchst jetzt eine kleine Stärkung. Im Krankenhaus hast du so etwas wohl kaum bekommen. Ich kenne hier einen ruhigen, kleinen Club in der Chausseestraße, wo wir einen anständigen Schnaps bekommen können.«

    Viktor war froh, sich in einer Ecke des Clubraums ausruhen zu können. Außer ihnen waren nur noch zwei andere Gäste anwesend.

    Der Dicke leerte seinen doppelten Wacholder-Schnaps auf einen Zug. Dann stieß er Viktor vertraulich in die Seite.

    »Das ist doch nicht etwa nur Theater, wie?«, fragte er.

    »Was meinst du denn?«, antwortete Viktor, der den Sinn der Frage nicht erfassen konnte.

    »Die Geschichte mit dem Gedächtnisschwund. Hast du vielleicht geglaubt, dass ein Krankenhaus ein gutes Versteck ist, wie?«

    Zum ersten Mal sah sich Viktor seinen Begleiter genauer an: das große Gesicht, der Anflug von Lüsternheit und Rohheit um seine Lippen und die harten Augen, die so merkwürdig unstet waren...

    »Hältst du mich für einen Betrüger?«, fragte der junge Mann in gleichgültigem Ton. »Ich weiß nicht, wer du bist. Du behauptest zwar, du bist mein Cousin und ich hätte bei dir gewohnt, aber ich kann mich an dich überhaupt nicht erinnern. Das soll kein Vorwurf sein. Bevor du zu mir ins Krankenhaus kamst, wusste ich noch nicht einmal meinen eigenen Namen.«

    Der Dicke klopfte Viktor auf die Schulter. Aus seinen Augen sprach Erleichterung. »Entschuldige, wenn meine Worte argwöhnisch klingen, aber es ist wirklich merkwürdig, dich so ohne jede Erinnerung wieder vorzufinden. Wahrscheinlich hat der Hieb auf den Kopf bei dir wirklich ein Heidenchaos verursacht. Übrigens muss ich dich jetzt einen Augenblick allein lassen. Ich habe einen geschäftlichen Anruf zu erledigen.«

    Thomas Kafka sprach ebenso lange wie eindringlich in das Telefon in einer Ecke des Raums. Aus den Blicken, die er ihm beim Sprechen zuwarf, schloss der junge Mann, dass die Unterhaltung sich um ihn drehte. Aber nachdem er sein Glas geleert hatte, fühlte er sich merkwürdig schläfrig, und es war ihm nur recht, dass ihn sein Cousin für einige Zeit in Ruhe ließ.

    »Ich möchte noch einen Besuch in der Stadt machen«, erklärte Thomas Kafka, als sie aufbrachen. »Es wird nur ein paar Minuten dauern. Anschließend heißt es dann aber nach Hause, nichts wie nach Hause.«

    Während der Autofahrt überlegte sich Viktor, dass er mit seinem Cousin nur sehr wenig gemein hatte. Er fragte sich, wie er es überhaupt fertiggebracht hatte, eine so lange Zeit bei ihm zu wohnen, wie es sein Cousin behauptete, ohne sich von ihm abgestoßen zu fühlen. Er versuchte, sich das Haus seines Cousins auszumalen, und in diesem Haus sein Zimmer mit seinen Sachen. Er konnte sich nicht erinnern, je mehr besessen zu haben, als das, was er jetzt auf dem Leibe trug. Und wie mochte die Frau seines Cousins aussehen? War sie der Typ einer Frau, die in Hosen herumlief und das ganze Haus herumkommandierte? Oder eine große blasse Frau, die vor Feinheit geradezu triefte?

    Er überdachte noch andere Möglichkeiten, bis seine Aufmerksamkeit von dem veränderten Straßenbild gefesselt wurde. Mit Arbeitern gefüllte Straßenbahnen ratterten durch breite, schmutzige Straßen, in denen zwischen kleinen Kneipen, Restaurants und kleinen Cafés zerbombte Häuser standen.

    »Das kann doch wohl nicht die Berliner Innenstadt sein?«

    »Der Ort, den ich aufsuchen muss, liegt nicht wirklich im Zentrum«, erklärte ihm sein Cousin. »Meine Geschäftsräume befinden sich in Berlin Mitte, aber jetzt fahre ich zu einem unserer Warenspeicher. Ah, da sind wir ja schon. Ich werde dich nicht lange warten lassen.« Während sie sprachen, war der Wagen in eine schmale Seitenstraße abgebogen. Schließlich kam er in einer Sackgasse zum Stehen, von deren Ende eine einzelne Laterne ein schwaches Licht zu ihnen herüberwarf. Es war so dunkel, dass Viktor nicht in der Lage war, das Schild an der Tür des großen Lagerhauses zu erkennen, in dem sein Cousin verschwand. Das Gebäude sah derart verfallen aus, dass es sehr gut in seine traurige Umgebung passte.

    Es regnete jetzt heftig. Von der Hauptstraße tönte das Klingeln der Straßenbahnen und gelegentlich auch das Hupen eines Autos herüber, aber hier in diesem kleinen Seitengässchen war außer den Geräuschen des Regens nichts zu hören.

    Viktor fühlte sich jetzt noch bedeutend schläfriger als zuvor. Wenn er sicher sein könnte, dass sein Cousin längere Zeit fortbleiben würde, könnte er sich vielleicht zurücklegen und ein kleines Nickerchen machen. Es war angenehm warm im Wagen, und er war sich darüber klar, dass er sofort einschlafen würde, wenn er seiner Erschöpfung nachgab. Aber er versuchte verzweifelt, sich wachzuhalten, wenigstens den Kontakt mit der Gegenwart aufrechtzuerhalten; denn seine Vergangenheit hatte er vergessen.

    Er hörte ein Geräusch, als ob sich jemand am Auto zu schaffen machte. Viktor spähte in die Dunkelheit hinaus, um zu sehen, ob es sein Cousin war, der zu ihm zurückkehrte. Aber das Gesicht, das sich gegen die Scheibe des Autos presste, war das eines kleinen Mannes mit zerfurchten Zügen. Schließlich klopfte er ungeduldig an die Scheibe.

    Als Viktor aufmachte, richtete ihm der kleine Mann hastig seine Botschaft aus und eilte dann sofort wieder in den Schutz des Lagerhauses zurück.

    »Ihr Cousin lässt Ihnen sagen, Sie sollen zu ihm hereinkommen und ihm helfen. Ich werde inzwischen auf den Wagen aufpassen.«

    Viktor zog den Regenmantel enger um seinen Körper und stieg aus. Es war jetzt schon so dunkel, dass er kaum den Eingang des Lagerhauses erkennen konnte. Der kleine Mann war völlig aus seinem Gesichtskreis verschwunden. Im Innern des Lagerhauses war es schon fast vollkommen dunkel. Hier konnte er doch unmöglich ohne Führer den Weg zu seinem Cousin finden.

    »Hallo! Thomas? Wo bist du denn?«, rief er.

    Seine Stimme schallte durch die leeren Räume, aber er erhielt keine Antwort. Der Regen war inzwischen zu einem Wolkenbruch geworden, und überall war das Rieseln, Strömen und Tröpfeln von Wasser zu hören. Am liebsten hätte sich der junge Mann jetzt umgedreht und wäre in die Geborgenheit des Autos zurückgekehrt. Aber er konnte seinen Cousin doch nicht im Stich lassen.

    »Irgendwo muss sich doch der kleine Dicke herumtreiben«, sagte er halblaut zu sich selbst. »Hier muss wohl eine Ecke kommen, und wenn ich sie erreicht habe, werde ich schon Licht sehen.«

    Vorsichtig ging Viktor in die Dunkelheit. Er hatte keine Ahnung, wohin er ging. Je weiter er sich von der Tür entfernte, umso tiefer wurde die Dunkelheit. Sein Wunsch, wieder in das gemütliche warme Auto zurückzukehren, wurde noch stärker als zuvor.

    »Hallo!«,

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